50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
Antiziganismus

Komplexe Diskriminierung

Fachstelle legt erstmals Jahresbericht zu Antiziganismus vor. Ungleichbehandlung von Geflüchteten und staatlicher Rassismus im Fokus
Von Florian Osuch
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Demonstration in Berlin anlässlich des 34. Welt-Roma-Tags am 8. April

In der Bundespressekonferenz hat die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) am Montag erstmals einen Jahresbericht zu antiziganistischen Vorfällen in Deutschland vorgelegt. Antiziganismus ist eine Form von Rassismus, die sich gegen Menschen richtet, die mit der sozialen Konstruktion des »Zigeuners« in Verbindung gebracht werden. Das betrifft insbesondere Sinti und Roma, aber auch die Minderheit der Jenischen sowie Schausteller und auch ganz allgemein Menschen aus Südosteuropa. Die Fachstelle wurde Ende 2021 gegründet und erfasst und analysiert die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antiziganismus.

Für das Jahr 2022 dokumentiert MIA insgesamt 621 Fälle, darunter körperliche Angriffe, Hetze, Sachbeschädigungen oder Diskriminierung auf individueller und institutioneller Ebene. Ein besonders schwerer Fall ereignete sich Anfang September 2022 im Saarland. Dort kampierten Personen auf einem Privatgelände. Aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug wurden sie zunächst als »dreckige Zigeuner« beschimpft und anschließend laut Süddeutscher Zeitung mit Stahlkugeln beschossen; mehrere Personen wurden verletzt. Bei der Gesamtauswertung der Daten stachen laut MIA zwei Aspekte besonders hervor: die antiziganistisch motivierte Benachteiligung geflüchteter Roma aus der Ukraine sowie die Diskriminierung durch staatliche Stellen wie Jobcenter, Polizei und andere Behörden.

Laut Bericht wurden ukrainische Roma, die oftmals schon in der Ukraine Antiziganismus ausgesetzt waren, in Deutschland nicht auf dieselbe Weise willkommen geheißen wie die als »weiß« wahrgenommenen Ukrainer. Geflüchteten Roma sowie Menschen, die aufgrund von Vorurteilen für Roma gehalten wurden, bekamen mitunter weniger Unterstützung bei der Erstversorgung oder in Unterkünften. So verweigerte beispielsweise Sicherheitspersonal in Bahnhöfen den Zugang zu Aufenthaltsräumen. In Unterkünften händigten Mitarbeiter und freiwillige Helfer immer wieder Romafamilien weniger Sachspenden aus als anderen Familien.

Eine bedeutende Zahl der gemeldeten Fälle betrifft institutionalisierte Benachteiligung durch staatliche Stellen. So wurden beispielsweise an einer Grundschule zwei Vorklassen eingerichtet, in denen Kinder aus der Ukraine auf das deutsche Schulsystem vorbereitet werden sollten. Während Lehrkräfte eine Gruppe in einem Raum an der Schule betreute, sei für rund 20 Romakinder eine nicht schulgerechte Wohnung circa drei Kilometer von der Schule entfernt zur Verfügung gestellt worden. Im MIA-Bericht heißt es, das entsprechende Schulamt habe auf Nachfrage zu dieser Segregation den Vorwurf des Antiziganismus zurückgewiesen. Begründet wurde die getrennte Unterbringung damit, dass die meisten Kinder der Romafamilien Analphabeten seien.

Der Bericht zeigt auch, wie alltäglich antiziganistische Aussagen sind. Dokumentiert ist beispielsweise der Fall aus einem Bordrestaurant eines Fernzuges, bei dem ein Fahrgast sein Portemonnaie auf einem der Tische vergaß. Eine Schaffnerin habe daraufhin gesagt, hier dürfe man nichts liegen lassen, es seien so viele »Zigeuner« unterwegs. Solche Äußerungen – oder auch Schmähgesänge in Fußballstadien – ordnet MIA der Kategorie »antiziganistisches Othering« zu. Die Beispiele verdeutlichen die Komplexität dieser Form von Rassismus, denn es kann sein, dass es in beiden Fällen gar keine unmittelbar Betroffenen gibt. Die Verwendung und der Kontext sind allerdings zweifelsfrei rassistisch. Als »antiziganistisches Othering« versteht MIA die Konstruktion einer Fremdgruppe im Kontrast zur Wir-Gruppe. Es liefere eine Projektionsfläche für stigmatisierende Zuschreibungen und diene der eigenen Aufwertung durch Abgrenzung.

Ein weiterer besonders erschreckender Befund des Jahresberichts ist die Altersstruktur der Betroffenen. Etwa jeder sechste Vorfall richtete sich unter anderen gegen Kinder und Jugendliche. »Durch die Erfahrung von Antiziganismus in der Kindheit und Jugend werden bereits früh gleichberechtigte Teilhabe verwehrt, soziale Ungerechtigkeit verstärkt und damit das Risiko von lebenslanger Benachteiligung und immer wiederkehrenden Diskriminierungserfahrungen erhöht«, heißt es von MIA.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, erklärte im Vorwort des Berichts, die Dokumentation lenke »den Blick der Gesellschaft auf das immer noch fehlende Verständnis für die Erscheinungsformen und Wirkungsmechanismen von Antiziganismus«. In der Öffentlichkeit sei wenig bekannt, dass bei den rassistisch motivierten Terroranschlägen in München 2016 und in Hanau 2020 auch Sinti und Roma ermordet wurden.

Hintergrund: Bundesweites ­Monitoring

Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) begreift sich als Fachstelle zur Dokumentation und Erforschung, wie und in welchem Umfang Antiziganismus in Deutschland stattfindet. Die Arbeit von MIA umfasst drei Tätigkeitsschwerpunkte. Erstens die Erfassung, Analyse und Auswertung von Fällen des Antiziganismus. Registriert werden unter anderem körperliche Angriffe, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, Diskriminierung sowie Schmierereien, Hasskommentare und andere Formen der Hetze. Zweitens baut MIA ein Netzwerk für die Verweisberatung auf. Von Antiziganismus betroffene Personen, die bei MIA Vorfälle melden, werden bei Bedarf an qualifizierte Beratungsstellen weitervermittelt, beispielsweise an Sozialberatungsstellen, Antidiskriminierungsstellen oder Beratungsstellen für Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Ein drittes Tätigkeitsfeld umfasst Workshops und Qualifizierungsangebote für zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure, Behörden und Ämter.

MIA besteht aus einer Bundesgeschäftsstelle in Berlin und mehreren regionalen Meldestellen, die in den jeweiligen Bundesländern die Erfassung und Dokumentation entsprechender Vorfälle übernehmen und regionale Netzwerke aufbauen. Bisher gibt es solche Meldestellen in Bayern, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen.

Viele Jahre hatten Organisationen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma die systematische Erfassung, Erforschung und Bekämpfung von Antiziganismus gefordert. Die Einrichtung von MIA geht auf den »Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus« vom November 2020 der damaligen Bundesregierung zurück. (flo)

www.antiziganismus-melden.de

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