50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 2 / Inland
Verfahren nach 1.-Mai-Demo 2021

»Der Staatsanwalt trat aggressiv auf«

Hessen: Junger Lehrer zwei Jahre nach Demoteilnahme von Berufsverbot bedroht. Anklagebehörde verweigert Zugeständnisse. Ein Gespräch mit Luca S.
Interview: Milan Nowak
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Prügelei am »Tag der Arbeit«: Polizisten in Montur (Frankfurt am Main, 1.5.2021)

Sie sind Lehrer an einer Gesamtschule in Frankfurt am Main. Nun wird Ihnen die Aufnahme ins Referendariat verweigert. Was ist der Grund?

Mir wird vorgeworfen, auf einer Demo Polizisten angegriffen zu haben. Ich sei deshalb ungeeignet, den Lehrerberuf in Hessen auszuüben. Bleibt das so, darf ich – solange das im Führungszeugnis steht – nicht ins Referendariat. Es handelt sich um eine Art Berufsverbot. Trotzdem unterrichte ich zurzeit und bereits seit Jahren mit viel Herzblut.

Was ist aus Ihrer Sicht bei dieser Demonstration passiert?

Es war die Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration in Frankfurt am Main 2021. 5.000 Menschen zogen friedlich vom Opernplatz zum Gallusviertel. Erst am Endkundgebungsort zündete ein Block, dem ich nicht angehörte, Pyrotechnik. Es folgte eine Eskalation der Polizei – mit Wasserwerfer, Hundestaffel, Schlagstockeinsatz auf Kopfhöhe und Tränengas. Die Demo wurde in einer engen Straße auseinandergetrieben. Obgleich die Polizei anderes sagt, kamen wir nicht mehr heraus. Ich verlor den Überblick und meine Bezugsgruppe. Auf dem Boden sah ich zwei Menschen liegen, sie bluteten am Kopf. In ihrer Nähe lagen Rauchtöpfe, die ihre Notversorgung behinderten. Ich schnickte in gebeugter Haltung einen weg. Wo er landete, ist unklar. Daraus konstruiert nun die Staatsanwaltschaft, ich hätte ihn gezielt auf Polizisten geworfen. Ich habe den Rauchtopf weder mitgebracht noch angezündet, noch geworfen, sondern nur beiseite geräumt.

Und was folgte darauf?

Zuerst nichts. Auf einer Kundgebung, Wochen später, behandelte mich die Polizei plötzlich erkennungsdienstlich – ohne Angabe von Gründen und Recht auf einen Anwalt. Nach kurzer Festnahme sagte sie mir nur, ich passe zur Personenbeschreibung eines Täters vom 1. Mai. Erst zwei Monate später forderte sie mich auf, bei der Stelle politische Kriminalität links des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main als Beschuldigter auszusagen. Ich verweigerte das vor Ort. Monate später kam ein Brief, dass die Staatsanwaltschaft ermittle. Erst am 27. Mai 2023, also über zwei Jahre später, fand der Prozess am Amtsgericht Frankfurt am Main statt. Das ist meiner Meinung nach ein politischer Schauprozess!

Wie lief die Verhandlung ab?

Anstelle des einladenden Richters saß eine Vertretung vor, die meine Akte erst zwei Stunden zuvor gelesen hatte. Der Staatsanwalt trat aggressiv auf, nannte mich jemanden, der nicht bereit sei, seine »Scheiße« zuzugeben. Die Richterin rügte ihn dafür. Die Zeugen, zwei Polizeibeamte, beantworteten zugespielte Fragen des Staatsanwalts – er verabschiedete sie mit den Worten »bis später«. Doch sie widersprachen sich in ihren Aussagen: Ein Polizist, vorgeblich die erste zu sehende Person auf einem Polizeivideo, identifizierte sich falsch und kann daher vor Gericht nicht als glaubwürdig gelten. Der Einwand meiner Anwältin darauf wurde abgetan. Auch erinnerte er sich nicht, wo ihn der Rauchtopf getroffen haben soll. In meiner Akte stand, an der Schulter – vor Gericht sagte er, am Knie. Auf Nachfragen der Richterin räumte er ein, der Rauchtopf sei wohl ein bis zwei Meter vor ihm gelandet.

Wir boten dem Staatsanwalt an, das Verfahren gegen eine Mediation mit den Polizisten und ein Anti­aggressionstraining einzustellen. Das lehnte er ab mit den Worten: »Ich kann, will und darf hier kein Zugeständnis machen!« Er forderte zehn Monate Geldstrafe. Ich bekam drei Monate Geldstrafe à 30 Euro Tagessatz – mit Verfahrenskosten etwa vier- bis fünftausend Euro. Die Staatsanwaltschaft legte noch am selben Tag Revision ein. Die Annahme der Richterin, eine dreimonatige Geldstrafe habe keinen Einfluss auf mein Referendariat, war leider falsch.

Was erwarten Sie von der nächsten Verhandlung?

Ich bin unschuldig und erwarte Freispruch oder Einstellung des Verfahrens. Sonst habe ich de facto ein Berufsverbot als Lehrer. Ich befürchte, der Staatsanwalt wird bei seiner – wie ich finde – Lüge bleiben. Darum mache ich auf meinen Prozess, am 27. September am Frankfurter Landgericht, öffentlich aufmerksam. Ich wünsche mir, dass Hunderte Menschen davor demonstrieren. Hoffentlich wird das drohende Unrecht verhindert.

Luca S. (Name der Redaktion bekannt) ist Gesamtschullehrer in Frankfurt am Main

Petition: kurzelinks.de/Berufsverbot-Luca

Kundgebung am 27.9., 9 Uhr, Landgericht Frankfurt am Main

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