Fronten begradigt
Von Jörg Kronauer
Noch am Rand des G20-Gipfels in Neu-Delhi hat die Begradigung der Fronten begonnen. Zwar ist es gelungen, ein Scheitern des Gipfels zu verhindern und sich auf eine gemeinsame Abschlusserklärung zu einigen. Das schafft die Voraussetzungen dafür, dass der Westen, um die G7 zentriert, und der globale Süden, der sich immer stärker um BRICS schart, im G20-Rahmen wenigstens im geordneten Gespräch miteinander bleiben. Ein Zerfall des Zusammenschlusses, über den bei einem Ausbleiben der Erklärung wohl diskutiert worden wäre, verschärfte die globalen Spannungen noch mehr. Die Polarisierung schreitet dennoch voran. Das zeigt sich daran, dass Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ihrem chinesischen Amtskollegen Li Qiang in Neu-Delhi mitteilte, ihr Land werde sich von der Neuen Seidenstraße lösen. Zwar will Meloni, um Wirtschaftsinteressen zu sichern, an Roms ökonomischer Kooperation mit Beijing festhalten. Dass das gelingt, mag man bezweifeln: Der Ausstieg aus der Seidenstraße ist ein erster Schritt auf einem abschüssigen Weg.
Während nun kein einziger der G7-Staaten mehr mit dem Megaprojekt der Seidenstraße kooperiert, setzen die westlichen Mächte ihre Bemühungen fort, Chinas asiatische Rivalen zwecks Einkreisung der Volksrepublik enger an sich zu binden. Am Erfolg der in New Delhi verkündeten Pläne, mit einer neuen Infrastrukturinitiative Indien stärker mit Europa zu verknüpfen, kann man mit guten Gründen zweifeln. Dass US-Präsident Joseph Biden nach dem Gipfel nach Hanoi weiterflog, wo er mit dem Vorsitzenden der KP Vietnams, Nguyen Phu Trong, die »Freiheit der Schiffahrt« im Südchinesischen Meer forderte, das bestätigt einmal mehr, dass Washington den Ring um China zu schließen sucht – von Südkorea und Japan über Taiwan, die Philippinen und Vietnam bis nach Indien. Dass Biden behauptete, sein Gespräch mit Chinas Ministerpräsident Li Qiang am Rande des G20-Gipfels sei »überhaupt nicht konfrontativ« gewesen, das muss man ihm so wohl kaum glauben.
Tatsächlich donnerten am Sonntag, dem zweiten Gipfeltag, und am Montag morgen 39 chinesische Kampfjets über die Straße von Taiwan, 22 von ihnen jenseits der Mittellinie, die den Militärs einst als informelle Operationsgrenze zwischen dem Festland und der Insel galt – bis die westlichen Mächte begannen, eine Abspaltung Taiwans ganz offen zu fördern. Außerdem kreuzten 13 chinesische Kriegsschiffe in der Nähe Taiwans. Der Grund: Zwei Tage zuvor hatten erneut zwei westliche Kriegsschiffe, eins aus den USA, ein zweites aus Kanada, die Straße von Taiwan gequert und damit nicht nur, aus chinesischer Sicht, gegen Vorschriften des internationalen Seerechts verstoßen, sondern auch Chinas Sicherheitsinteressen demonstrativ missachtet. Bei aller Erleichterung darüber, dass im G20-Rahmen immerhin noch geredet wird: Die Eskalation des großen Machtkampfs zwischen den USA und China stoppen die Gespräche nicht.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (12. September 2023 um 19:14 Uhr)Konkurrenz belebt das Geschäft! Während des Treffens kündigten Indien, die Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien ein neues globales Infrastrukturprojekt an, um einen Schienen- und Seekorridor zu bauen, der Indien, den Nahen Osten und Europa verbindet. Der Indien-Mittelosteuropa-Wirtschaftskorridor (IMEC) umfasst zwei Korridore: den Ostkorridor, der Indien mit dem Arabischen Golf verbindet, und den Nordkorridor, der den Arabischen Golf mit Europa verbindet. Das IMEC ist in drei Regionen vertreten: Indischer Subkontinent (ohne Pakistan), Mittlerer Osten und Europa mit Volkswirtschaften im Wert von 4,25 Billionen Dollar, 5,08 Billionen Dollar und 14 Billionen Dollar. Die kombinierte Wirtschaft dieser drei Regionen beträgt 23,3 Billionen Dollar, was ungefähr einem Viertel des globalen Bruttoinlandsprodukts entspricht und enormen Klebstoff erzeugt, um sie miteinander zu verbinden. Neben der Bahnstrecke umfasst die IMEC auch die Verlegung von Kabeln für Strom und digitale Konnektivität sowie von Rohren für den Export von sauberem Wasserstoff. Während Beamte der teilnehmenden Länder sich in den nächsten 60 Tagen treffen, um mehr Details über Zeitpläne und Finanzierung zu erarbeiten, wird das IMEC als Herausforderung, unter dem kapitalistischen Motto »die Konkurrenz belebt das Geschäft«, für Chinas Seidenstraße-Initiative dienen.
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Leserbrief von Doris Prato (12. September 2023 um 16:58 Uhr)Die faschistischen Ministerpräsidentin Meloni manövriert geschickt und berücksichtigt, dass einflussreiche Unternehmerkreise, die ihre Stütze sind, ihren Absatzmarkt in China nicht verlieren wollen, und sie nicht als die Schuldige für den Austritt aus der Belt and Road Initiative dastehen will. Die staatliche Nachrichtenagentur ANSA bezog sich in ihre Meldung über ihr Treffen mit dem Premierminister der Volksrepublik China, Li Qiang, in dem sie den Austritt ankündigte, auf eine Notiz aus dem Palazzo Chigi (Regierungssitz), die besagte, »mit ihrer tausendjährigen Geschichte teilen Italien und China eine globale strategische Partnerschaft, deren zwanzigjähriges Jubiläum im nächsten Jahr gefeiert wird und die den Leuchtturm für die Förderung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den beiden Nationen in allen Bereichen von gemeinsamem Interesse darstellen«. Darüber hinaus habe »das Treffen die gemeinsame Absicht bestätigt, den Dialog zwischen Rom und Peking über die wichtigsten bilateralen und internationalen Fragen zu festigen und zu vertiefen«. Es gehe einerseits darum, »wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen zu vermeiden«, es ebenso »nicht weniger wichtig ist, den politischen Dialog mit einer führenden Weltmacht in grundlegenden Bereichen wie dem Nahen Osten und Afrika aufrechtzuerhalten und möglicherweise zusammenarbeiten«, so ANSA. Die linke Zeitung Manifesto meinte dazu, Meloni habe zur Freude der Amerikaner zwar die Erneuerung des Memorandums von 2019 in Frage gestellt, aber die Anführerin der faschistischen Brüder Italiens (FDI) habe schon während ihrer Reise in die USA im Juli gegenüber Fox News auch gesagt: Der Ausstieg aus der Seidenstraße »muss mit der chinesischen Regierung und im italienischen Parlament besprochen werden«. Stimmt ihre Parlamentsmehrheit dem Austritt zu, kann sie ihre Hände in Unschuld waschen und geltend machen, dass sie sich dem beugen muss, aber bereits die Weichen für die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit China und damit der Sicherung des Absatzmarktes für italienische Unternehmen gestellt hat.
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