Tageskonferenz: Der Bandera-Komplex
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Aus: Ausgabe vom 12.09.2023, Seite 2 / Inland
Kapitalismus

»Viele schleppen sich ohne Kraft zur Arbeit«

Bayern: Zahl der Krankschreibungen erreicht laut DAK neue Höchstwerte. Ein Gespräch mit Wolfgang Hien
Interview: Hendrik Pachinger
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Die Krankmeldungen aufgrund psychischer Erkrankungen haben in den letzten Jahren stark zugenommen.

Die von der Krankenkasse DAK ermittelten Zahlen sind erschreckend: Jeder zweite Beschäftige in Bayern war in diesem Jahr bereits krank geschrieben. Woher dieser extreme Anstieg?

Schon im vergangenen Jahr stiegt der Krankenstand sprunghaft an: von vier auf 5,5 Prozent. Und dieser Trend hält an. Die DAK hat die Hintergründe erforschen lassen. Es ist der stark zunehmende Stress, der insbesondere durch den Personalmangel erzeugt wird, genauer: dadurch, dass die Chefs von den Beschäftigten trotz Personalmangels und unbesetzter Stellen dennoch die gleiche oder sogar eine höhere Leistung erwarten. Die drei dominierenden Krankheitsursachen sind Atemwegserkrankungen, insbesondere bedingt durch Covid-19 und Grippe, Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychische Erkrankungen. Davon abgesehen, dass viele Beschäftigte erkältet zur Arbeit gehen und ihre Kollegen anstecken, schmälert Stress die Widerstandskräfte, erhöht die Anfälligkeit zum Beispiel auch für Bandscheibenschäden und insbesondere das Risiko, an psychischen Erschöpfungssyndromen und Depressionen zu erkranken. Viele schleppen sich zur Arbeit, obwohl sie keine Kraft mehr haben, brechen dann völlig zusammen, sind verzweifelt. Die Arbeitsbedingungen sind in vielen Bereichen nahezu unerträglich geworden, insbesondere in der Pflege.

Während Unternehmen teilweise traumhafte Profite einfahren, ist es um die geistige Gesundheit der Lohnabhängigen so schlecht bestellt wie lange nicht mehr. Was treibt die Menschen um?

Die Ursachen und mitspielenden Faktoren sind hochkomplex. Hier kann ich nur stichpunktartige Hinweise geben. Die Welt, wie wir und unsere Eltern sie noch kannten, die Wirtschaftswunderzeit, all das ist vorbei. Das erzeugt Unsicherheit und Angst. Es stellen sich für jeden einzelnen viele Fragen: Kann ich noch mithalten mit all den Veränderungen am Arbeitsplatz und im gesamten Leben? Wie sieht die Zukunft aus? Was soll aus mir, meinen Kindern, meinen Enkeln werden? Muss ich mich darauf einstellen, dass ich trotz Arbeit, wenn ich die überhaupt noch schaffen kann, Abstriche an meinem Lebensstandard machen muss? Muss ich mit 75 noch arbeiten, z. B. Regale im Supermarkt auffüllen? Obwohl mein Rücken total kaputt ist? Muss ich mich mit Medikamenten vollpumpen? Diese Welt, wie sie seit Jahrzehnten durch die kapitalistische Industrie zerstört wird, die zunehmenden Kriege, Flüchtlinge, Dürren, Hungerkatastrophen, all das treibt Menschen auch hierzulande in eine Stimmung der Überforderung und Hoffnungslosigkeit. Dazu passt, dass sich immer mehr Vorgesetzte wie kleine absolute Fürsten geben, dass überall die Rücksichtslosigkeit zunimmt.

Trotz des besorgniserregenden Gesundheitszustands der Belegschaften weigern sich viele Unternehmen, aber auch Kommunen und Länder, mit Lohnerhöhungen und verringerter Arbeitsbelastung gegenzusteuern. Was wäre für eine Trendwende notwendig?

Ich höre immer wieder die Rede von der Trendwende oder der Transformation. Das geht vollkommen am Problem vorbei. Was fehlt, ist eine starke linke Kraft, eine starke linke Bewegung in unserem Land und auch weltweit. Eine für die gebeutelten und verängstigten Menschen glaubhafte Alternative. Es fehlt an einer Vorstellung von einem anderen Zusammenleben, einer solidarischen und menschlichen Art zu leben und zu arbeiten. An einer Vorstellung, dass nicht der materielle Wohlstand, sondern Zeitwohlstand, das liebende Miteinander, gemeinsames Essen und Trinken, die Sorge füreinander, dass das die entscheidenden Punkte sind, die uns glücklich machen können. Gewendet auf den Arbeitsplatz: dass wir unsere Gedanken und Gefühle miteinander besprechen, uns öffnen, uns austauschen und untereinander absprechen, wie wir den Zumutungen des Kapitals schon im kleinen gemeinsam entgegentreten können. Wir müssen unsere seelischen Verletzungen zum gemeinsamen Thema machen. Nur dann wird es möglich sein, Stück für Stück einen größeren Widerstand aufzubauen.

Wolfgang Hien, Arbeitswissenschaftler und ehemaliger Referatsleiter für Gesundheitsschutz beim DGB-Bundesvorstand, beschäftigt sich mit der Thematik Arbeit und Krankheit und ist Autor der Studie: »Die Arbeit des Körpers von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart« (Neuauflage, Mandelbaum-Verlag, Wien 2022)

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