Versäumnis mit Tragweite
Von Ekkehard Lentz
Der Krieg in der Ukraine, der bislang – Stand August – geschätzt rund 500.000 Tote und Verwundete gefordert hat, hat in der Bundesrepublik bisher zu keiner kontroversen Debatte geführt, in der Vertreter unterschiedlicher Positionen sichtbar um die Zustimmung des Publikums ringen. Die Debatte ist im Gegenteil gekennzeichnet durch die nahezu vollständige Vorherrschaft jener Akteure, deren Motto ist: Waffen und noch mehr Waffen in die Ukraine, dann wird Russland besiegt werden. Die Fokussierung auf die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld und den gleichsam magisch herbeigeredeten Sieg der Ukrainer kennzeichnet die öffentliche Befassung mit diesem Thema. Positionen, die herrschende Narrative (oder die Narrative der Herrschenden) in Frage stellen, sind zwar vorhanden, aber in der öffentlichen Wahrnehmung, insbesondere in den etablierten Medien, nahezu nicht präsent. Wer Alternativen einfordert, wird wahlweise als Lobbyist des »Feindes«, als »Lumpenpazifist« oder als »gefallener Engel« diffamiert.
In einer solchen politischen Lage kommt der Band »Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht« gerade zur rechten Zeit. Die beiden Herausgeber Sandra Kostner und Stefan Luft haben zehn weitere Autoren gewonnen, die aus der Perspektive ihrer jeweiligen Fachrichtungen Aspekte des Krieges und seiner Geschichte analysieren. Zwei Autoren sind ehemalige Politiker (Klaus von Dohnanyi und Willy Wimmer). Der thematische Rahmen des Bandes reicht von der Geschichte der russisch-europäischen Beziehungen der vergangenen Jahrhunderte über Analysen zur Vorgeschichte des Krieges, zu den Erfahrungen mit Sanktionen und Wirtschaftskriegen, zur Rolle der Medien in der Kriegsberichterstattung, zur Rolle der Grünen bis hin zu Lehren für eine künftige Entspannungspolitik.
In der Einleitung (gemeinsam mit Stefan Luft) und in ihrem Beitrag »Verspielte historische Chancen« zeichnet die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Kostner minutiös die jahrzehntelange Vorgeschichte des aktuellen Krieges nach. Kein Krieg ist ohne seine Vorgeschichte zu verstehen – dass diese Selbstverständlichkeit wieder betont werden muss, zeigt, wie unpolitisches Denken und Propaganda gegenwärtig die veröffentlichte Meinung dominieren. Kostner kommt zu dem Schluss: »Die Verantwortung für den Angriffskrieg trägt allein Putin. Aber daran, dass es überhaupt an den Punkt gekommen ist, wo er die Entscheidung traf, einen politischen Konflikt militärisch zu lösen, ist die unnachgiebige und zu sehr an eigenen Interessen orientierte Politik der US-geführten NATO mitverantwortlich.«
Der Historiker Jürgen Wendler stellt ein ahistorisches, »einfältiges« und von Feindbildern geprägtes Russland-Bild in der Politik fest. Die Friedensschlüsse des 19. Jahrhunderts seien auch deshalb möglich und nachhaltig gewesen, weil politisch-ideologische Differenzen ausgeklammert worden seien. Wendler resümiert, die EU und Deutschland hätten »die Durchsetzung von für alle Seiten akzeptablen Entscheidungen fördern können. Dass dies nicht geschehen ist, ist ein Versäumnis von historischer Tragweite.«
David Teurtrie, Politikwissenschaftler aus Paris, interpretiert in seinem Beitrag den Ukraine-Krieg als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen. Letzterem sei es nicht gelungen, Russland weltweit zu isolieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir sieht darin einen der Gründe, warum die Sanktionen der EU und der USA die russische Wirtschaftskraft sehr viel weniger treffen als beabsichtigt. Er verfolgt die Geschichte von Wirtschaftskriegen zurück bis in die 1920er Jahre und belegt mit zahlreichen Daten, dass die Effektivität von Sanktionen vielfach gering ist.
Von Interesse ist auch das Zeitzeugengespräch mit Wimmer über deutsche Politik im Fahrwasser von US-Interessen. Wimmer war von 1988 bis 1992 parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der parlamentarischen Versammlung der KSZE beziehungsweise der OSZE. Er berichtet aus eigener Anschauung, dass schon Anfang der 90er Jahre ein Kurswechsel in der Politik Washingtons zu beobachten war, der »eine völlige Abkehr bedeutete, und zwar innerhalb sehr kurzer Zeit, von allen Vereinbarungen des NATO-Gipfels vom Sommer 1990, von den Versicherungen, die Gorbatschow im Rahmen der Vereinbarung zur Wiedervereinigung Deutschlands hinsichtlich der NATO-Erweiterung mündlich gegeben wurden, und natürlich auch (…) der Charta von Paris«.
Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer befasst sich in ihrem Beitrag mit Arbeitsweisen und Techniken im Journalismus und stellt dabei eine weitverbreitete Voreingenommenheit und selektive Wahrnehmung fest. Die Ergebnisse von sogenanntem Framing schildert sie am Beispiel zahlreicher Themenfelder. Weitere Beiträge – etwa »Die Grünen und der Krieg« (Luft) oder »Augen zu und rein: Deutschland im Krieg« (Wolfgang Streeck) – legen Zusammenhänge frei, die für das Verständnis unserer Zeit sehr förderlich sind. In dem abschließenden Teil des Buches betont Klaus von Dohnanyi: »Frieden kann es nur mit und nicht gegen Russland geben«.
Luft rundet mit seinem Beitrag »Deutschland und der Krieg. Lehren für eine künftige Entspannungspolitik« den Band ab. Er verwirft die auch in der SPD stark vertretene These, die Entspannungspolitik sei gescheitert. Vielmehr sei die Politik der Konfrontation seit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts gescheitert, indem sie letztendlich auch zur Entscheidung für diesen Krieg beigetragen habe. Luft plädiert für konkrete Friedensinitiativen aus Europa, was zur Voraussetzung habe, die gegenwärtige Politik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Mehrere Handlungsoptionen stellt er zur Debatte (Rüstungskontrolle und Abrüstung, vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen). Er schließt mit den Worten: Egon Bahrs »Konzept ›Wandel durch Annäherung‹ war Mitte der 1960er Jahre eine Provokation. Heute ist es das auch. Das ist kein Grund, es nicht zu wagen.«
In dem Band sind durchweg fundierte und auch verständlich geschriebene Beiträge enthalten. Sie geben zahllose wertvolle Hinweise, die zum Weiterdenken anregen. Dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.
Sandra Kostner, Stefan Luft (Hrsg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht. Westend, Frankfurt am Main 2023, 352 Seiten, 24 Euro
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Leserbrief von Andrej Reder (13. September 2023 um 12:25 Uhr)Der Beitrag zum Sammelband über den Ukraine-Krieg regt in der Tat zum Weiterdenken an. Der Herausgeberin Köstner ist zuzustimmen, dass »kein Krieg ohne seine Vorgeschichte zu verstehen« ist. Worin besteht aber das eigentliche Verständnis, wenn sie feststellt: »Die Verantwortung für den Angriffskrieg trägt allein Putin.« Um sogleich fortzufahren: »Aber daran, dass er überhaupt an den Punkt gekommen ist, wo er die Entscheidung traf, einen politischen Konflikt militärisch zu lösen … ist die Politik der US-geführten NATO mitverantwortlich.« Zum einen, bei der Entscheidung Putins handelte es sich nicht sosehr um einen politischen Konflikt, als in erster Linie um einen vitalen sicherheitsrelevanten (NATO-Osterweiterung, Truppenstationierungen, Militärmanöver u.a.m.), der hätte politisch gelöst werden können und müssen. Aber dazu gehören alle Beteiligten. Russland war dazu, wie die Entwicklung gezeigt hat, seit 2014 bereit. Außerdem, wenn es einen Mitverantwortlichen gibt, dann kann der Erstgenannte nicht allein verantwortlich sein. Ohne NATO gäbe es keine NATO-Osterweiterung, gäbe es auch keinen Ukraine-Krieg seit 2014.
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