Westen hat sich verkalkuliert
Von Reinhard Lauterbach
Es ist eine Scherenbewegung: Während internationale Finanzinstitutionen wie der IWF ihre Erwartungen für die deutsche Volkswirtschaft von Quartal zu Quartal herunterkorrigieren, zuletzt auf minus 0,3 Prozent im gesamten Jahr 2023, bescheinigen sie Russland ein zunehmendes Wachstum: Um 0,7 Prozent soll die russische Volkswirtschaft im Verlauf des Jahres wachsen. Die offiziellen Prognosen aus Moskau sind mit plus 2,5 Prozent noch optimistischer.
Die Entwicklung wird normalerweise dadurch relativiert, dass das russische Bruttoinlandsprodukt »nur« dem Italiens mit einer dreimal niedrigeren Bevölkerungszahl entspreche und deshalb alle Wachstumsraten von einer niedrigeren Basis aus berechnet seien. Aber möglicherweise rechnet sich der Westen damit die eigene Lage schön. Darauf hat jetzt die britische Wirtschaftsagentur »BNE Intellinews« in einer Zusammenfassung verschiedener Studien aus der akademischen Volkswirtschaft und von Investoren hingewiesen.
Demnach sind die westlichen Statistiken dadurch verzerrt, dass sie alle Wirtschaftsdaten in nominellen Preisen – umgerechnet in US-Dollar – verzeichnen. Russlands Volkswirtschaft wird damit schon durch die Abwertung der Landeswährung auf derzeit um die 100 Rubel pro US-Dollar oder Euro kleingemacht, auch wenn die Talfahrt des Rubels durch die Entscheidung der russischen Notenbank, bis auf weiteres Devisenbestände in Höhe von 21,5 Millionen Euro pro Tag zu verkaufen, erst mal gestoppt wurde – Dollar und Euro fielen am Donnerstag um jeweils mehr als ein halbes Prozent auf 96,49 beziehungsweise 106,02 Rubel.
Korrekter wäre es, schreibt BNE, Kaufkraftparitäten anzusetzen. Diese Berechnungsmethode versucht, das unterschiedliche Preisniveau der verglichenen Länder zu berücksichtigen. Klassisches Beispiel dafür ist der seit vielen Jahren von der britischen Zeitschrift The Economist erstellte »Big-Mac-Index«. Er vergleicht, was dieses in puncto Herstellung und Rohstoffe standardisierte Produkt der Industrienahrung in den USA und – zum Beispiel – in Russland kostet, welche Kaufkraft also im Umkehrschluss eine Einheit der jeweiligen nationalen Währung besitzt. Der Vergleich ergibt, dass so ein Big Mac in den USA gut fünf Dollar kostet, in Russland aber nur den Gegenwert von 2,50 Dollar. Unter sonst gleichbleibenden Umständen müsste also der »Wert« des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 100 Prozent aufgewertet werden. So hat der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir im vergangenen Winter in der Zeitschrift American Affairs dargestellt, wie unterschiedlich die Anteile einzelner Volkswirtschaften an der weltweiten Reichtumsproduktion ausfallen können, obwohl dieselben Ausgangsdaten des IWF zugrunde liegen. Nach Wechselkursen sieht die Reihenfolge für die Volkswirtschaften der USA, Chinas, Deutschlands und Russlands so aus wie in Tabelle 1. Nach Kaufkraftparitäten aber ergibt sich das Bild von Tabelle 2.

Während im ersten Fall die deutsche Volkswirtschaft als mindestens doppelt so groß erscheint wie die russische, ziehen beide Länder beim Ansatz von Kaufkraftparitäten praktisch gleich, und dies bereits seit Jahren. Aktuell habe der Wert des russischen Sozialprodukts den des deutschen bereits knapp überstiegen, schreibt BNE: 5,32 zu 5,3 Billionen US-Dollar. Russland wäre damit die fünftreichste Volkswirtschaft der Welt, Deutschland auf Platz sechs abgerutscht.
Man kann an der »Big-Mac-Index«-Methode kritisieren, dass sie ihre Einseitigkeiten hat. Sie ignoriert etwa das Lohnniveau, das zwischen den USA und Russland sicherlich nicht im Verhältnis von 2:1 steht. Verglichen wird nur eine von vielen Kennziffern der Volkswirtschaften. Unbestritten ist auch, dass sich Kriegsausgaben auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung paradoxerweise positiv auswirken: Ein bei Rheinmetall hier oder Uralwagonsawod dort gebauter Panzer stellt sich als Einkunft für den Produzenten dar, obwohl er Abzug vom gesellschaftlichen Reichtum darstellt, weil sein eigener Gebrauchswert darin besteht, Gebrauchswerte zu vernichten.
Jacques Sapir wies in seinem Beitrag aber auf einen strukturellen Vorteil hin, den Russland tatsächlich gegenüber den meisten westlichen Volkswirtschaften aufweist: eine vergleichsweise starke Realwirtschaft, die durch die westlichen Sanktionen zusätzlich angetrieben worden ist, weil die Handelssperren zur Importsubstitution führten. Die allgemeine Diagnose lautet: Der Westen hat sich mit seinen Sanktionen gegen Russland schwer verkalkuliert.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (11. August 2023 um 00:33 Uhr)Chapeau! Herr Lauterbach und junge Welt! Endlich ein paar Tabellen. Weiter so in Richtung materialistischer Analyse, kritisiert den »Big-Mac-Index« schöpferisch! Radikale Erweiterung: Ist eine menschliche Arbeitsstunde im Sudan weniger wert als eine in Deutschland? Oder »kostet« sie nur weniger in Euro?
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Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (11. August 2023 um 12:51 Uhr)Der Preis, der für die Arbeitsstunde anfällt, wird durch die Kosten bestimmt, die für die Reproduktion der Arbeitskraft anfallen. Die liegen im Sudan gewiss in einer anderen Größenordnung als in Deutschland. Der Mehrwert, der in dieser Stunde produziert wird, hängt von der Produktivität ab, in der gearbeitet werden kann. Auch da dürfte es zählbare Unterschiede zwischen beiden Ländern geben. Eine Stunde ist eine Stunde, wenn es um unser Leben geht. Bei ihrer ökonomischen Verwertung ist die Sache da schon komplizierter.
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