Anything goes
Von Gabriel Kuhn
Im Juli fand unter dem Namen »Anarchy 2023« das vermutlich größte anarchistische Treffen der Gegenwart statt. Im schweizerischen Saint-Imier kamen vom 19. bis zum 23. Juli über fünf Tage rund 5.000 Menschen zusammen. Anlass war der 150. Jahrestag der Gründung der »Antiautoritären Internationale«.
Uhrmacher als Urtypen
Die Antiautoritäre Internationale wurde bei einem Kongress in Saint-Imier gegründet, der am 15. und 16. September 1872 stattfand. Rund 200 Delegierte versammelten sich im Hôtel de la Maison de Ville. Das Gebäude steht immer noch. Aus dem Hotel ist inzwischen ein Veranstaltungszentrum geworden.
Die einjährige Verspätung der 150-Jahr-Feier war eine Folge der Coronapandemie. Auch wenn die meisten Coronarestriktionen bereits im Sommer 2022 aufgehoben waren, führte die lange Vorbereitungszeit für das Treffen zu einem Aufschub. So fand im Sommer 2022 nur ein kleines Vorbereitungstreffen statt, quasi ein Probelauf.
Saint-Imier ist eine 5.000-Seelen-Gemeinde im Berner Jura. Die Umgebung ist idyllisch, der Ortskern urban. Kopfsteinpflaster statt Weide. Im 19. Jahrhundert tummelten sich hier Uhrmacher. Sie bildeten das Rückgrat der Juraföderation, die für die Geschichte des Anarchismus von großer Bedeutung ist. Der Anfang 2023 veröffentlichte Schweizer Spielfilm »Unrueh« spielt im Milieu der ehemaligen Uhrmacher der Region. Natürlich stand er auch auf dem Treffen von Saint-Imier auf dem Programm.
Dass die Uhrmacher des Juras quasi als Kleinunternehmer agierten, machte es Marxisten leicht, den Anarchismus als kleinbürgerliche Ideologie abzutun. Karl Marx’ kritische Auseinandersetzung mit Pierre-Joseph Proudhon, einem der Ahnherren des Anarchismus, der eine Wirtschaftsweise auf der Basis handwerklicher Kooperativen propagierte, tat das ihre.
Im Jahr 1872 war Saint-Imier ein naheliegendes Rückzugsgebiet für die Anarchisten, die knapp zwei Wochen zuvor beim Kongress in Den Haag aus der Ersten Internationalen ausgeschlossen worden waren. Michail Bakunin und James Guillaume hatten den Richtungsstreit mit Karl Marx und dessen Getreuen verloren und leckten nun ihre Wunden. In Saint-Imier sollte mit der Antiautoritären Internationale eine anarchistische Alternative zu der als diktatorisch eingestuften Ersten Internationale entstehen. Der Erfolg war bescheiden. Die Organisation spielte für die internationale Arbeiterbewegung nur eine geringe Rolle und löste sich 1877 auf. Trotzdem gilt sie als Geburtsstunde des organisierten Anarchismus.
Solidarität mit Kurdistan
Vom organisierten Anarchismus war im Saint-Imier des Jahres 2023 hingegen nicht allzu viel zu sehen. Als ideologische Synthese von Liberalismus und Sozialismus besteht innerhalb des Anarchismus seit jeher eine Spannung zwischen individualistischen und sozialistischen Tendenzen. 1914 widmete sich der italienische Anarchokommunist Luigi Fabbri dem Problem in seiner Schrift »Bürgerliche Einflüsse auf den Anarchismus«. Mehr als 80 Jahre später bestätigte der Ökosozialist Murray Bookchin mit seiner 1995 veröffentlichten Polemik »Social Anarchism or Lifestyle Anarchism«, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts wenig geändert hatte. In seinem vielgelesenen Buch nahm er kein Blatt vor den Mund: »Die Lifestyleanarchisten sind besessen von ihrem Ich und ihrer Einzigartigkeit. Ihre vielfältigen Konzeptionen von Widerstand höhlen den sozialistischen Charakter der anarchistischen Tradition aus. Spontaneität, Abenteuertum, Selbstdarstellung, eine Abneigung gegen Theorie, die an den Irrationalismus der Postmoderne erinnert, das Abfeiern theoretischer Inkohärenz im Namen des Pluralismus, ein im Grunde apolitisches Bekenntnis zu Imagination, Begehren und Ekstase sowie eine Fetischisierung des Persönlichen und des Alltagslebens zeigen, welchen Einfluss reaktionäre gesellschaftliche Entwicklungen auf den Anarchismus in Europa und Nordamerika in den letzten zwei Jahrzehnten gehabt haben.«
Heute ist der 2006 verstorbene Bookchin einer der weltweit bekanntesten Anarchisten. Dies hat er Abdullah Öcalan zu verdanken. Öcalan führt die Abkehr von einer nationalstaatlichen Lösung für die kurdische Frage wesentlich auf seine Lektüre Bookchins zurück. Der »Demokratische Konföderalismus« Öcalans ist in vielerlei Hinsicht an den »Libertären Kommunalismus« Bookchins angelehnt.
Wenig überraschend zeigte auch in Saint-Imier die kurdische Bewegung Präsenz, vor allem in Form ihrer europäischen Unterstützer. Mit der antistaatlichen Wende Öcalans verschrieben sich viele Anarchisten dem kurdischen Freiheitskampf. Janet Biehl, Bookchins langjährige Lebensgefährtin, besuchte Kurdistan in den vergangenen Jahre mehrere Male und verfasste mit »Their Blood Got Mixed« eine Graphic Novel zum Kampf gegen den Islamischen Staat in Rojava. Auch der prominenteste Anarchist des 21. Jahrhunderts, der 2020 verstorbene David Graeber, zählte zu den Unterstützern der kurdischen Bewegung.
Eskapismus oder Befreiung?
Dass für die Revolution in Rojava Organisierung wesentlich ist, bedeutet nicht, dass sie von all ihren anarchistischen Unterstützern prioritär behandelt wird. Beim Treffen in Saint-Imier standen organisatorische und strategische Fragen eher im Hintergrund. Viele Menschen, die sich dort versammelten, wären von Bookchin wohl eher dem Lager des »Lifestyleanarchismus« zugeordnet worden. Es gibt eine Reihe von Anarchisten, die sich auf Lebensentwürfe konzentrieren, die sie als antikapitalistisch und antistaatlich begreifen, ohne zwangsläufig kapitalistische und staatliche Strukturen herauszufordern. Zentral ist hier die Frage nach der politischen Bedeutung einer sich als widerständig definierenden Subkultur. Handelt es sich um Lebensreform und Eskapismus oder um die Keimzelle einer befreiten Gesellschaft? Die Frage ist noch lange nicht geklärt, und auch Saint-Imier 2023 brachte wenig Aufschluss.
Die Gemeinde Saint-Imier und ihre Repräsentanten hießen die Gäste von »Anarchy 2023« willkommen. Es gab im Vorfeld keine Berührungsängste und während des Treffens kaum Spannungen. Zum Teil mag das der Geschichte der Gemeinde zu verdanken sein. Anarchismus ist in Saint-Imier weder terroristische Bedrohung noch exotische Utopie, sondern schlicht Lokalhistorie. Das anarchistische Erbe ist in vielerlei Hinsicht präsent. Mit dem Espace Noir, dem Schwarzen Raum, existiert ein für die Größe des Ortes beeindruckendes anarchistisches Zentrum. Dem Tourismusverband dient die Geschichte des Anarchismus in der Region als Zugpferd.
Immer wieder wollten Schweizer Medien während des »Anarchy 2023«-Treffens dem Gemeindepräsidenten von Saint-Imier, Corentin Jeanneret, Schauergeschichten über die einfallende anarchistische Horde entlocken. Doch der 26jährige Shooting Star der liberalen FDP winkte ab. Abgesehen von ein bisschen Graffiti, so ließ er verkünden, sei nichts vorgefallen. Und die ließen sich entfernen. Auch die Einstellung des Zugverkehrs in die westlich von Saint-Imier gelegenen Orte des Vallon de Saint-Imier hängte der Gemeindepräsident nicht an die große Glocke. Da Teilnehmer von »Anarchy 2023« immer wieder die Bahnschienen in der Nähe eines für Veranstaltungen verwendeten Konferenzzentrums überquerten, war ein sicherer Zugverkehr nicht zu gewährleisten. Der rasch eingesetzte Schienenersatzverkehr war jedoch genauso verlässlich, da lässt sich der Schweizer nicht lumpen.
Plattformismus
Bereits 2012, anlässlich des 140. Jahrestags der Gründung der Antiautoritären Internationalen, gab es in Saint-Imier ein internationales anarchistisches Treffen. Auch wenn nicht ganz so viele Leute kamen wie 2023, war es ebenfalls beeindruckend. Der Einfluss des organisierten Anarchismus war damals stärker. Zwei internationale Netzwerke nahmen das Treffen als Anlass, eigene Kongresse durchzuführen. Erstens die Internationale Anarchistischer Föderationen, zweitens das plattformistische Netzwerk Anarkismo.
Anarchistische Föderationen, zu denen auch die »Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen« zählt, zeichnen sich in der Regel durch eine großzügige Deutung des Anarchismus aus. Alle Strömungen sind vertreten, das Bekenntnis zu einer antiautoritären und antistaatlichen Politik fungiert als Klammer. Man schließt sich zur Vernetzung zusammen, zum Meinungsaustausch und für gemeinsame Projekte und Kampagnen. Eine einheitliche politische Linie gibt es nicht.
Anders verhält es sich beim Plattformismus, der auf die »Organisatorische Plattform der libertären Kommunisten« zurückgeht, die 1926 vom ukrainischen Anarchisten Nestor Machno und Genossen im Pariser Exil verfasst wurde. Die Plattform beginnt mit den Worten: »Der Widerspruch zwischen der positiven Ausstrahlung und unbestreitbaren Gültigkeit anarchistischer Ideen und dem kläglichen Zustand der anarchistischen Bewegung hat eine Reihe von Ursachen, von denen die wesentlichste der Mangel an organisatorischen Prinzipien und organisierten Verhältnissen in der anarchistischen Gemeinschaft ist.« Auf Disziplin, so die Plattformisten, kann auch die anarchistische Revolution nicht verzichten.
In den letzten 20 Jahren erlebte der Plattformismus ein Revival. Anarchistische Gruppen in vielen Ländern machten einen Mangel an einheitlicher Organisierung und strategischer Ausrichtung als Schwachpunkt der Bewegung aus. Außerdem verblasste der Charme der um die Jahrtausendwende in der Antiglobalisierungsbewegung gefeierten »Bewegung der Bewegungen«. Pluralismus alleine, so schien klar zu werden, mache doch kein revolutionäres Programm.
Die anarchistischen Gruppen, die sich dem Plattformismus zuwandten, formten das Anarkismo-Netzwerk, das zur Zeit des Treffens in Saint-Imier 2012 seinen Höhepunkt fand. Verschiedene Gründe, nicht zuletzt interne Querelen, haben es in der jüngsten Zeit geschwächt. Dieses Mal war in Saint-Imier kaum noch etwas von ihm zu sehen. Auch die Präsenz anarchistischer Föderationen fiel kaum auf.
Improvisierte Beliebigkeit
Dies wirkte sich nicht nur auf das Publikum aus, sondern auch auf das Programm. Anstatt, wie vor elf Jahren, gestaffelte Diskussionsblöcke anzubieten, galt dieses Mal: Alles geht. Nicht weniger als 400 Veranstaltungen fanden im Laufe der fünf Tage statt: Workshops, Vorlesungen, Podiumsdiskussionen, Filme – an Abwechslung mangelte es nicht. Die Themen reichten von Kräuterheilkunde und Überleben in der Wildnis bis zu herrschaftsfreier Philosophie und Anleitungen zur Selbstbestimmung.
Viele Workshops begannen ähnlich: »Wir haben nicht wirklich etwas vorbereitet, dachten aber, es wäre spannend, über dieses Thema zu sprechen.« Manche Anwesenden fanden das tatsächlich spannend. Anderen war der Ansatz zu beliebig. »Politisch betrachtet, denke ich, es wäre mehr drin gewesen«, fasste es ein Anarchosyndikalist aus dem süddeutschen Raum zusammen. »Man hätte die Workshops etwas besser aussieben und der Menge nach begrenzen und statt dessen lieber mehr Konferenzen zu aktuellen Themen machen sollen.« Genau das wollten die Organisatoren dieses Mal jedoch vermeiden, weil ihnen 2012 ein »zu strukturiertes Programm« vorgeworfen worden war. Man hat es nicht immer leicht als Anarchist.
Viele Teilnehmer von »Anarchy 2023« kamen aus Deutschland, dazu aus Frankreich und, natürlich, der Schweiz. Danach war das Spektrum breit gefächert. Der Autor dieser Zeilen traf auf Teilnehmer aus Irland, Norwegen, Ungarn, Slowenien, Russland, Japan, den USA und vielen anderen Ländern. Ohne Probleme war der Standort Schweiz nicht. Teilnehmer aus Osteuropa klagten über die hohen Kosten, die keine größeren Delegationen zugelassen hätten.
Die größten Hürden bauten sich freilich für Teilnehmer aus dem globalen Süden auf. Für sie spielen nicht nur die Kosten eine Rolle. Obwohl eine französische Kulturinitiative Gelder für die Reise und den Aufenthalt des Betreibers von Etniko Bandido, eines anarchistischen Infoshops aus den Philippinen, zur Verfügung stellte, konnte er nicht kommen. Der Grund: Ihm wurde das Visum verweigert. Immerhin konnte er bei einem Workshop per Videostream teilnehmen und mit Hilfe von Filmmaterial über die anarchistische Szene auf den Philippinen berichten. Doch die Frage, wie man in einer politischen Bewegung, die beansprucht, sich gegen jede Form von Unterdrückung und Diskriminierung zu wenden, mit sozioökonomischen Ungleichheiten in den eigenen Reihen umgeht, bleibt offen.
Wer sich über den Anarchismus lustig machen will, findet rasch Anlässe. Zu Beginn des Workshops über die »Politik des Autostoppens« fragte der junge Mann, der dazu eingeladen hatte, wer den Programmpunkt online mit den Worten »Wenn das Anarchismus ist, bin ich lieber Kommunist« kommentiert habe. Er schien tatsächlich perplex. Danach wurde über Autostoppen als »praktische Form gegenseitiger Hilfe« diskutiert, zu dessen größten Vorteilen es gehöre, dass man sich nicht an einen Fahrplan halten müsse.
Das Politikverständnis mancher Teilnehmer von »Anarchy 2023« mag verwundern, einige wenden sich gegen jede Form von Politik. Gleichwohl kann man dem anarchistischen Milieu anrechnen, dass es Menschen anzieht, deren Weltsicht bei vielen Stirnrunzeln hervorruft. Gleichzeitig lassen sich mit einem sozialen Rückzugsraum nicht unbedingt politische Ansprüche erfüllen. Ein weiteres Dilemma, das innerhalb des Anarchismus schwer aufzulösen ist. Vielfalt als Stärke und Schwäche zugleich.
Moderne Betroffenheitspolitik
Vielfalt bedeutet auch Konflikt. Der kann produktive Formen annehmen, genauso wie destruktive. In Saint-Imier musste viel Energie für Debatten aufgewandt werden, die kaum in Relation zu den dringenden gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit stehen. Natürlich lässt sich immer noch über Masken und Impfungen diskutieren, über eine geschlechtersensible Aufteilung des Campinggeländes und möglicherweise auch darüber, wer welche Frisuren tragen darf (»kulturelle Aneignung«), doch werden diese Debatten in der kollektiven Auseinandersetzung bestimmend, fallen Fragen nach der Transformation der Macht- und Eigentumsverhältnisse schnell unter den Tisch. Das ist allerdings kein Problem der anarchistischen Bewegung allein, es betrifft weite Teile des linken Bewegungsmilieus. Deutsche Teilnehmer schienen sich bei Diskussionen dieser Art in Saint-Imier besonders hervorzutun. Das mag Zufall gewesen sein oder auch nicht.
Dass eine moderne Betroffenheitspolitik mittlerweile in Bereiche vordringt, in denen man sie nicht unbedingt erwartet, wurde in Saint-Imier ebenfalls deutlich. Es gab Veranstaltungen, bei denen der Krieg in der Ukraine ausschließlich aus der Perspektive der Betroffenen diskutiert werden durfte. Plakate mit der Aufschrift »Gegen jeden Krieg« wurden abgehängt und Begriffe wie »Antimilitarismus« beanstandet, weil sie bei Menschen negative emotionale Reaktionen auslösen könnten.
Der Krieg ist in der anarchistischen Bewegung seit langem Reizthema. Während des Ersten Weltkriegs spaltete sich die Bewegung in jene, die die militärische Verteidigung gegen die deutsche Aggression guthießen, und jene, die einen kompromisslosen Antimilitarismus und Antinationalismus vertraten. Dass sich der berühmte Peter Kropotkin auf die Seite der Befürworter der militärischen Verteidigung schlug, stieß damals viele Weggefährten vor den Kopf. Interessant wäre eine Auseinandersetzung mit Nestor Machno, der von 1917 bis 1922 in der Ukraine eine vorwiegend aus bäuerlichen Partisanen bestehende Armee anführte, die reaktionäre Kräfte, ausländische Mächte und schließlich die Rote Armee bekämpfte. Sie findet bis jetzt nur ansatzweise statt.
Bei allen schwer zu lösenden und gelegentlich eskalierenden Konflikten bewies die anarchistische Multitude in Saint-Imier immerhin ihre Fähigkeit zur kollektiven Alltagsbewältigung. Das Essen, das Gemeinschaftsküchen aus fünf Ländern für die Teilnehmer auftischten, war phänomenal. Von der sprichwörtlichen Reis-Bohnen-Pampe alter Vokü-Tage konnte keine Rede sein. In improvisierten Freiluftöfen wurde Brot gebacken, das Gemüse stammte aus eigenem Anbau, und der von Freiwilligen besorgte Abwasch funktionierte reibungslos.
Auch auf dem Campinggelände bewiesen die Anarchisten, dass sie zur Selbstverwaltung fähig sind. Im Vergleich zu kommerziellen Festivals, bei denen die bezahlenden Kunden meinen, sich das Recht zum Die-Sau-Rauslassen erworben zu haben und die Zeltplätze entsprechend hinterlassen, war das Gelände in Saint-Imier nicht nur stets aufgeräumt, sondern auch noch ruhig. Für nächtelange Partys gab es andere Orte. Und wer nicht im Zelt schlafen wollte oder konnte, fand Platz in einer zum Massenlager umfunktionierten Turnhalle.
Die größte Herausforderung für die Zeltenden war das Gefälle des Geländes, authentisches Camping im Gebirge. Die begehrtesten Tipps des Wochenendes waren solche, deren Befolgung half, ein Abrutschen von der Isomatte im Tiefschlaf zu vermeiden. Dafür lag das Campinggelände dieses Mal im Ort, was wenigstens milde Nächte garantierte. 2012 musste man zum Zelten auf den Mont Soleil über Saint-Imier hinauf. Die Gemeinde stellte dafür kostenlose Tickets für die Standseilbahn zur Verfügung, doch auf 1.300 Metern Seehöhe fror man sich den Arsch ab. Seit einigen Jahren gibt es auf dem Mont Soleil übrigens ein anarchistisches Veranstaltungszentrum, das »Décentrale«. Die Betreiber waren wesentlich in die Organisation von »Anarchy 2023« involviert, gemeinsam mit den Leuten des Espace Noir.
Die Gemeinschaftsküchen und das Campinggelände lagen neben dem Stadion des Eishockeyclubs HC Saint-Imier, dessen Maskottchen eine Fledermaus ist. In der Eishalle fand während des Treffens die Buchmesse statt. Hier, unter Verlagen und Archiven, war das Durchschnittsalter der Anwesenden um einiges höher als an anderen Veranstaltungsorten, die vom lokalen Kino über das Gemeindehaus bis zu einer verfallenen Villa am Stadtrand reichten. Aus Deutschland waren unter anderem der Verlag Graswurzelrevolution, das Institut für Syndikalismusforschung und die Freie Arbeiter*innen-Union am Start. Der anarchistische Podcast »Übertage« aus dem Ruhrgebiet und das Anarchistische Radio Berlin fingen Stimmen ein. Die Gustav-Landauer-Gesellschaft zeichnete für eine Ausstellung zu Leben und Werk des bekannten deutschen Anarchisten verantwortlich. Landauer wird mehr philosophische Tiefe zugeschrieben als vielen anderen Denkern des Anarchismus, doch er war auch ein Mann der Tat. Als führende Figur in der Bayerischen Räterepublik wurde er am 2. Mai 1919 im Gefängnis Stadelheim von reaktionären Soldaten ermordet.
Gemeinsame Wege
Während der kurzlebigen Bayerischen Räterepublik arbeiteten die Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam mit Sozialdemokraten und unabhängigen Sozialisten zusammen, am Ende auch mit den Kommunisten. Diese hatten die Ausrufung der Räterepublik als verfrüht erachtet, verteidigten sie jedoch mit der Waffe in der Hand, als die sozialdemokratische Berliner Zentralregierung Freikorps nach München beorderte.
Die Frage, ob Anarchisten und Marxisten gemeinsam den Weg zum Kommunismus bahnen können, ist heute so bedeutend wie eh und je. Der Anlass des Treffens in Saint-Imier erinnert an die frühe Trennung der Strömungen. Eine Trennung, die die historische Arbeiterbewegung ohne jeden Zweifel schwächte. Doch es ist nicht aller Tage Abend.
Der Berliner Historiker Philippe Kellermann hat in den vergangenen Jahren viel zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus gearbeitet. Nicht weniger als drei Bände erschienen unter dem Titel »Begegnungen feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung« im Unrast-Verlag. 2017 veröffentlichte der Dietz-Verlag den von Kellermann herausgegebenen Band »Anarchismus und russische Revolution«. Im Gespräch mit jW anlässlich des Treffens von Saint-Imier meint Kellermann, dass eine Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Marxismus/Anarchismus die Linke immer noch bereichern kann. »Es handelt sich um die beiden historisch maßgeblichen sozialistischen Strömungen. In den – oftmals leider eher polemisch – geführten Debatten wurden vielerlei Problemstellungen erörtert, von denen man auch heute noch etwas lernen kann.« Bei der Frage nach den politischen Möglichkeiten dieser Auseinandersetzung gibt es ein leichtes Zögern: »Das ist schwer zu beurteilen. So oder so sollten sich vielleicht alle mal zusammenreißen und sich ernsthaft überlegen, ob es ihnen wirklich noch um die Emanzipation der Menschen geht oder um vermeintlich identitätsstiftende Kindereien.«
Was auch immer man vom Anarchismus halten mag, das Treffen in Saint-Imier 2023 hat bestätigt, dass er weiterhin Anziehungskraft ausübt und ein politisches Potential besitzt. Alles hängt davon ab, wie es kanalisiert wird.
Gabriel Kuhn schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. Mai über die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (4. August 2023 um 11:14 Uhr)Das ist ein interessanter Bericht. Vielen Dank dafür! Aber gab es denn bei diesem Treffen auch Veranstaltungen, auf denen reale, praktische Ansätze für kollektive und herrschaftsfreie Gesellschaften vorgestellt und diskutiert wurden? Denn darum muss es doch am Ende gehen! Die Emanzipation des Menschen stößt in der kapitalistischen Gesellschaft nun mal an eine natürliche Grenze!
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