»Gewalt ist zum Teil unserer Arbeit geworden«
Interview: Annuschka Eckhardt
Innerhalb einer Woche wurden in Mexiko zwei Journalisten ermordet. Was können Sie über diese Fälle berichten?
Die Gewalt, der Journalisten in Mexiko ausgesetzt sind, ist zum Teil unserer Arbeit geworden, ein gemeinsamer Nenner. Nach den Morden an unseren Kollegen Nelson Matus aus dem Bundesstaat Guerrero und Luis Martin Sanchez in Nayarit gab es einige Mobilisierungen in verschiedenen Bundesstaaten, aber bisher haben die drei Regierungsebenen, also die Zentralregierung, die Landesregierungen und die kommunalen Regierungen, nicht reagiert und keine Hinweise auf die Verantwortlichen geliefert.
Mexiko gilt als das gefährlichste Land für Journalisten. Wer bedroht Pressevertreter?
Die Gewalt gegen Journalisten, die von Drohungen bis hin zu Morden reicht, wird von den drei Regierungsebenen, dem organisierten Verbrechen, das in vielen Fällen mit Staatsbediensteten in Verbindung steht, und Geschäftsinteressen geschmiedet. Drohungen und Gewalt gehen hauptsächlich vom Staat aus, der Medienschaffende in Wahrheit schützen sollte. Aber wir werden auch von kriminellen Gruppen ins Visier genommen. Die Bewaffneten sind jedoch nur das letzte Glied in der Kette struktureller Gewalt, die uns einer sehr hohen Gefährdung aussetzt.
Die Medienbesitzer sind dafür verantwortlich, dass ihre Beschäftigten ausgebeutet werden, und dafür, dass ihre Sicherheit bei der Ausübung ihrer Arbeit nicht gewährleistet ist. Sie übernehmen nicht einmal Verantwortung, wenn ihre Mitarbeiter bedroht oder ermordet werden. Darüber hinaus tragen die prekären Arbeitsbedingungen, unter denen Journalisten ihre Arbeit verrichten müssen, zu den riskanten Verhältnissen bei, unter denen der Berufsstand in Mexiko lebt.
Inwieweit behindert Angst die journalistische Arbeit?
Angst behindert die Arbeit stark. Es gibt Kollegen, die sich für Selbstzensur oder sogar Zensur ihrer eigenen Medien entscheiden, was dazu führt, dass sie Themen oder Recherchen aufgeben, weil sie auch den staatlichen Schutzmechanismen nicht trauen.
Sie haben eine Gewerkschaft mitgegründet, sie nennt sich Versammlung der Medienschaffenden gegen Prekarisierung »Tenemos Que Hablar«, »Wir müssen reden« auf deutsch.
Wir halten es für notwendig, die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind – Gewalt und Verletzung der Arbeitsrechte – gemeinsam anzugehen. Sowohl die Unterlassung als auch die Handlungen des Staates und der Eigentümer der Unternehmen haben Auswirkungen auf die Angriffe und Morde an Journalisten. Deshalb glauben wir, dass unsere einzige Alternative als Beschäftigte darin besteht, uns selbst zu organisieren, um den Zugang zur Justiz durch eine unabhängige und demokratische Gewerkschaft zu gewährleisten.
Von welchen Verletzungen der Arbeitsrechte sprechen Sie? Und was sind Ihre Forderungen?
Wir wollen die minimalen Arbeitsrechte zurückgewinnen, die uns genommen wurden, wie beispielsweise der Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Altersvorsorge und zu gesetzlichen Leistungen. Die wirtschaftliche Dynamik der Unternehmen macht uns zu Wegwerfprodukten und setzt unser Leben auf Kosten der neuesten Nachrichten aufs Spiel. Unser Hauptziel ist es, unser Recht auf einen menschenwürdigen Arbeitsplatz zu verteidigen und nicht länger Beschäftigte zu sein, die jeden Tag unter Arbeitsplatzunsicherheit leiden. Wir fordern würdige Löhne, gerechte Arbeitszeiten, Respekt für gesetzliche Leistungen, Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung, Wohnraum, digitale und physische Sicherheitsbedingungen, neben vielen anderen.
Die amtierende Morena-Regierung bezeichnet ihre Politik als »links«. Was tut sie Ihrer Ansicht nach für die Pressefreiheit?
Nichts! In bezug auf die Meinungsfreiheit gibt es keine positive Veränderung oder Verbesserung. Im Gegenteil, seit Beginn der sechsjährigen Amtszeit zeigt der Präsident Andrés Manuel López Obrador selbst ständig mit dem Finger auf Journalisten, um ihre Arbeit zu verhöhnen, sie als Lügner zu bezeichnen und alles, was die Fehler seiner Regierung aufzeigt, als konservativ zu brandmarken. In seiner Morgenkonferenz, die täglich ausgestrahlt wird, gibt es sogar eine wöchentliche Rubrik, »Who is Who der Lügen« genannt, die Fake News aufdeckt und unliebsame Journalisten der Verleumdung bezichtigt.
Laura Quintero ist Journalistin und Mitgründerin der Versammlung der Medienschaffenden gegen Prekarisierung »Tenemos Que Hablar«
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