Straflose Verantwortliche
Von Susanne Knütter
Der erste Prozess gegen Ufuk T. war eine Farce. Grundlegende Fragen wurden nicht thematisiert, wichtige Zeugen nicht vernommen. Hoffnung bestand, im gut vier Jahre später stattfindenden Berufungsprozess das Unrecht gegen den Erwerbslosen endlich aufklären zu können, der sich im Juni 2018 aus der Not heraus an das Jobcenter in Mannheim wandte und statt einen Vorschuss zu bekommen, von sechs Polizisten verprügelt und verhaftet wurde. Um ein Haar wäre der Berufungsprozess gescheitert, bevor er begonnen hat, weil eine Oberärztin falsche Angaben machte. Kurz vor dem ersten Termin für das Revisionsverfahren am 17. Januar dieses Jahres konnte Ufuk T. dem Druck nicht mehr standhalten und kam wegen Selbstmordgedanken in die Psychiatrie. Wie Matz Müllerschön, Sozialarbeiter und Vorsitzender vom Verein Üsoligenial (Überparteiliche Solidarität gegen Sozialabbau Heidelberg/Rhein-Neckar) am Freitag gegenüber jW erläuterte, sagte die Oberärztin auf Nachfrage des Gerichts damals, Ufuk T. sei vernehmungsfähig. »Ohne ihn zu kennen.« Das hätte für das Gericht ein Grund sein können, die Revision komplett zu verweigern. Statt dessen wurde der Termin verschoben. Am Donnerstag fand der Berufungsprozess im Landgericht Mannheim statt.
Der leitende Richter entschuldigte sich zu Beginn des Prozesses, dass bis zum Berufungsprozess nun mehr vier Jahre vergangen waren. Grundsätzlich aufgerollt wurde der Fall trotzdem nicht. Von seiten des Gerichts hieß es gegenüber jW, dass der Angeklagte seine Berufung »nachträglich auf den Strafausspruch beschränkt hat«. Das hatte zur Folge, dass die zuständige Kleine Strafkammer des Landgerichts Mannheim nur noch über die Höhe der Strafe und nicht mehr über die Tat zu entscheiden hatte. Dem vorhergegangen war ein Gespräch zwischen Rechtsanwalt und Richter, erklärte Müllerschön. Aus dem ging hervor, dass der Staatsanwalt im Berufungsverfahren der gleiche wie im ersten Prozess sein würde. Bereits damals hatte dieser angedroht, Frau und Tochter von Ufuk T., die die Polizeigewalt bezeugt hatten, wegen Falschaussage anzuzeigen. Beide sollten auch im Berufungsverfahren aussagen. Das habe Ufuk T. bewogen, seine Berufung auf die Höhe der Strafe zu beschränken, sagte Müllerschön. Ein wichtiger Grund sei gewesen, dass seine Tochter gerade erst eine Arbeitsstelle bekommen hat.
Die Verantwortlichen für die Tragödie wurden daher nicht zur Rechenschaft gezogen. Bereits im ersten Prozess sei herausgekommen, so Müllerschön, dass es gar kein Hausverbot gegeben hatte, auf das sich die Polizei dann stützte, um einen Platzverweis brutal durchzusetzen. Im Berufungsprozess, so die Hoffnung, sollte endlich auch die Jobcenter-Leitung vernommen werden, was der Richter im ersten Prozess 2019 ablehnte. Aus Sicht von Müllerschön hätte das Jobcenter reagieren und Abhilfe leisten müssen. Ein Geldautomat stand bis dahin für Notlagen wie diese, in der sich Ufuk T. mit seiner Familie befand, zur Verfügung. Und die Polizei hätte nicht eingreifen dürfen. Ufuk befand sich im Recht, als er während der offenen Sprechstunde um einen Vorschuss bat und nicht ging, als man ihm sagte, er solle vier Tage später wieder kommen, wenn seine Sachbearbeiterin wieder im Hause wäre. Seiner Familie (Frau und zwei Kinder, wovon eins zu dem Zeitpunkt im achten Monat schwanger war) stand ein Wochenende mit leerem Kühlschrank bevor.
Am 25. Juni 2019 hatte das Amtsgericht Mannheim Ufuk T. wegen »tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung in weiterer Tateinheit mit versuchter Körperverletzung« zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt, obwohl der Prozess zu Tage gefördert hatte, dass Ufuk T. zu keiner Zeit gewalttätig war. Gegen das Urteil hatte im übrigen auch der Staatsanwalt Berufung eingelegt. Weil er eine noch höhere Strafe wollte, so Müllerschön. Letzten Donnerstag setzte der Richter die Sanktion etwas herab. Sie lautet nun 100 Tagessätze zu je zehn Euro. Wegen der Verfahrensdauer gelten zudem 30 Tagessätze als vollstreckt. Im Ergebnis beläuft sich die Geldstrafe damit auf 700 Euro.
Ufuk T., der mittlerweile in einer Notunterkunft wohnt, weil er es zu fünft in der Dreizimmerwohnung nicht mehr ausgehalten habe, ließ vor Gericht eine persönliche Erklärung verlesen und machte am Ende selbst noch mal deutlich, dass er Freispruch möchte. Das Urteil ist weit davon entfernt.
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