Nacht der Revolte
Von Raphaël Schmeller
Frankreichs Banlieues brennen. Die Tötung des 17jährigen Nahel durch einen Polizisten im Pariser Vorort Nanterre am Dienstag hat das Pulverfass zum Explodieren gebracht. Von Mittwoch zu Donnerstag ist es die zweite Nacht in Folge zu heftigen Revolten gekommen. Vor allem Jugendliche in den Pariser Vororten, aber auch in Großstädten wie Toulouse, Marseille, Lyon oder Lille machten ihrer Wut auf den Staat Luft und griffen Poilzeistationen, Rathäuser und Banken an.
Am Donnerstag morgen trat Gérald Darmanin vor die Presse und zog eine erste Bilanz der nächtlichen Ereignisse: Mindestens 150 Personen seien festgenommen und »mehrere Dutzend Polizisten verletzt« worden. Der Innenminister sprach von »einer Nacht unerträglicher Gewalt gegen Symbole der Republik« und bedankte sich bei den Einsatzkräften, »die sich mutig den Gewalttätern in ganz Frankreich stellen«. Er kündigte an, für Donnerstag abend landesweit 40.000 Polizisten zu mobilisieren, »um zu versuchen, eine dritte Nacht der Auseinandersetzungen zu verhindern«. Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Revolten als »ungerechtfertigt« und berief ein Krisentreffen des Kabinetts ein. Alle Termine und Reisen der Minister wurden abgesagt.
Am Nachmittag wurde unterdessen eine richterliche Voruntersuchung wegen Totschlags gegen den Beamten eröffnet, der den tödlichen Schuss abgefeuert hatte. Die »rechtlichen Voraussetzungen« für den Gebrauch einer Waffe hätten in diesem Fall nicht vorgelegen, erklärte Pascal Prache, Staatsanwalt des Pariser Vororts Nanterre. Mit Hilfe von Bildern der Videoüberwachung, Amateurvideos und Zeugenaussagen hätten sich die Umstände der Kontrolle rekonstruieren lassen, hieß es weiter. Die Staatsanwaltschaft beantragte Untersuchungshaft für den Polizisten.
Der Jugendliche Nahel war am Dienstag auf dem Fahrersitz eines Autos bei einer Verkehrskontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre erschossen worden. In einem Video war zu sehen, wie ein Polizist mit seiner Waffe auf den Fahrer zielt. Als der Beamte ruft »Ich schieß’ dir in den Kopf«, fährt das Auto los. Der Polizist feuert noch aus unmittelbarer Nähe auf den Jugendlichen, trifft ihn mit einem tödlichen Schuss in die Brust.
Die Anzahl der durch Polizisten Getöteten in Frankreich ist in den vergangenen Jahren drastisch angestiegen – vor allem in den ärmeren Vororten rund um die Großstädte, in denen viele Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund leben.
Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf die zunehmende staatliche Repression. So wurden unter dem Sozialdemokraten François Hollande 2017 die Regeln für den Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei gelockert. Beamte erhielten die Befugnis zu schießen, sobald sie eine »Verweigerung des Gehorsams« feststellen würden. Seitdem ist die Anzahl der durch Polizisten Getöteten um das Fünffache gestiegen.
Menschenrechtsgruppen kritisieren das Gesetz von 2017, weil es den rechtlichen Rahmen für den Schusswaffengebrauch in gefährlicher Weise erweitert habe. Fabien Jobard, Wissenschaftler am Zentrum für soziologischen Forschungen zu Recht und Strafinstitutionen (CESDIP), monierte am Donnerstag Unklarheiten bei den Bestimmungen. Davor hätten Polizisten Schusswaffen nur einsetzen dürfen, um ihr eigenes Leben oder das von anderen Personen zu schützen. Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon forderte, das Gesetz von 2017 müsse abgeschafft und die Polizei »komplett neu aufgebaut« werden.
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