In letzter Instanz das Allerwichtigste

Ist es denn jemals in der Geschichte vorgekommen, dass eine neue Produktionsweise mit einem Schlage Fuß gefasst hätte, ohne eine lange Reihe von Misserfolgen, Fehlern, Rückschlägen? Noch ein halbes Jahrhundert nach dem Fall der Leibeigenschaft waren im russischen Dorf nicht wenig Überbleibsel der Leibeigenschaft zurückgeblieben. Ein halbes Jahrhundert nach der Aufhebung der Negersklaverei in Amerika glich die Lage der Neger dort auf Schritt und Tritt noch halber Sklaverei. Die bürgerliche Intelligenz, darunter auch die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, bleibt sich selber treu, wenn sie dem Kapital dient und sich weiter einer durch und durch verlogenen Argumentation bedient: Vor der Revolution des Proletariats warfen sie uns Utopismus vor, und nach der Revolution verlangen sie von uns eine phantastisch schnelle Beseitigung der Spuren der Vergangenheit!
Aber wir sind keine Utopisten und kennen den wahren Wert der bürgerlichen »Argumente«, wir wissen auch, dass die Spuren des Alten in den Sitten eine gewisse Zeit nach dem Umsturz unvermeidlich die Keime des Neuen überwiegen werden. Wenn das Neue eben erst entstanden ist, bleibt das Alte stets eine gewisse Zeit lang stärker; das ist immer so, sowohl in der Natur als auch im Leben der Gesellschaft. Hohn darüber, dass die Keime des Neuen schwach sind, billiger Intellektuellenskeptizismus und dergleichen mehr, all das sind im Grunde Methoden des Klassenkampfes der Bourgeoisie gegen das Proletariat, ist Verteidigung des Kapitalismus gegen den Sozialismus. Wir müssen die Keime des Neuen sorgfältig untersuchen, ihnen die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen, mit allen Mitteln ihr Wachstum fördern und diese schwachen Keime »hegen und pflegen«. Es ist unvermeidlich, dass einige von ihnen zugrunde gehen werden. Man kann keine Garantie dafür übernehmen, dass gerade die »kommunistischen Subbotniks« eine besonders wichtige Rolle spielen werden. Nicht darauf kommt es an. Worauf es ankommt, das ist die Unterstützung aller und jeder Keime des Neuen, von denen das Leben die lebensfähigsten auslesen wird. Wenn ein japanischer Gelehrter, um der Menschheit zu helfen, die Syphilis zu besiegen, die Geduld hatte, 605 Präparate auszuprobieren, bis es ihm gelang, ein 606. Präparat herzustellen, das bestimmten Anforderungen genügte, so müssen diejenigen, die eine noch schwierigere Aufgabe lösen wollen, die den Kapitalismus besiegen wollen, Ausdauer genug haben, um Hunderte und Tausende neuer Methoden, Verfahren, Kampfmittel auszuprobieren, um die geeignetsten von ihnen herauszuarbeiten. (…)
Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus hat eine Arbeitsproduktivität geschaffen, wie sie unter dem Feudalismus unbekannt war. Der Kapitalismus kann endgültig besiegt werden und wird dadurch endgültig besiegt werden, dass der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität schafft. Das ist ein sehr schwieriges und sehr langwieriges Werk, aber man hat damit begonnen, und das eben ist das Allerwichtigste. Wenn im hungernden Moskau im Sommer 1919 hungernde Arbeiter, die vier schwere Jahre imperialistischen Krieges, dann anderthalb Jahre noch schwereren Bürgerkriegs durchgemacht haben, imstande waren, dieses große Werk zu beginnen, wie wird da die weitere Entwicklung aussehen, wenn wir erst im Bürgerkrieg gesiegt und den Frieden erkämpft haben werden?
Gegenüber der kapitalistischen Arbeitsproduktivität bedeutet der Kommunismus eine höhere Arbeitsproduktivität freiwillig, bewusst, vereint schaffender Menschen, die sich der fortgeschrittenen Technik bedienen. Die kommunistischen Subbotniks sind außerordentlich wertvoll als faktischer Beginn des Kommunismus, und das ist etwas ganz Seltenes, denn wir befinden uns auf einer Stufe, da »lediglich die ersten Schritte zum Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus getan werden« (wie es sehr richtig in unserem Parteiprogramm heißt). (…)
Karl Marx verspottete im »Kapital« die Schwülstigkeit und das hochtrabende Wesen der bürgerlich-demokratischen Magna Charta der Freiheiten und Menschenrechte, diese ganze Phrasendrescherei über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im allgemeinen, die die Spießer und Philister aller Länder einschließlich der heutigen niederträchtigen Helden der niederträchtigen Berner Internationale blendet. Diesen schwülstigen Deklarationen stellt Marx die einfache, bescheiden, sachliche, nüchterne Fragestellung seitens des Proletariats entgegen: die staatliche Beschränkung des Arbeitstags, das ist eines der typischen Beispiele für eine solche Fragestellung. (…)
N. Lenin: Die große Initiative. (Über das Heldentum der Arbeiter im Hinterland. Aus Anlass der »kommunistischen Subbotniks«). Moskau 1919. Hier zitiert nach: Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 29. Dietz Verlag, Berlin 1970, Seiten 414–418
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