Betreuter Anschlag
Von Nick Brauns
Am 29. Mai 1993 ereignete sich im nordrhein-westfälischen Solingen der bis dahin folgenschwerste rassistische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. Beim Brand ihres Wohnhauses starben die vierjährige Saime Genc und ihre neunjährige Schwester Hülya, die 18jährige Hatice Genc und ihre 27jährige Schwester Gürsün Ince sowie ihre zwölfjährige Cousine Gülüstan Öztürk. Weitere 14 Familienmitglieder erlitten schwere Verletzungen. Die Täter waren junge Neonazis. Sie seien durch die öffentlichen Debatten – insbesondere im Bundestag – in ihrer Auffassung bestärkt worden, dass in Deutschland zu viele »Ausländer«, vor allem zu viele Türken, lebten, hieß es in der Begründung des Urteils gegen sie durch das Düsseldorfer Oberlandesgericht 1995.
Erst drei Tage vor dem Anschlag, am 26. Mai 1993, hatte der Bundestag mit den Stimmen der Koalition aus CDU/CSU und FDP sowie einer Mehrheit der SPD die weitgehende Einschränkung des Grundrechts auf Asyl beschlossen. Vorangegangen war eine jahrelange »Das Boot ist voll«-Kampagne gegen »Überfremdung« und »Asylbetrug«. Unionspolitiker und einzelne prominente Sozialdemokraten, Medien von Bild bis Spiegel und der Nazimob auf der Straße schaukelten sich dabei gegenseitig hoch. Bei einer landesweiten Welle von mehr als 4.700 rechten und rassistischen Übergriffen und Anschlägen zwischen 1991 und 1993 starben 26 Menschen, fast 1.800 wurden verletzt. Im sächsischen Hoyerswerda und in Rostock kam es 1991 bzw. 1992 jeweils zu mehrtägigen Pogromen von Neonazis, die unter dem Applaus von Anwohnern die Wohnungen von Flüchtlingen und ausländischen Vertragsarbeitern angriffen. Bei Brandanschlägen auf zwei von türkeistämmigen Familien bewohnte Häuser starben in der Nacht zum 23. November 1992 im schleswig-holsteinischen Mölln Yeliz Arslan, Bahide Arslan und Ayse Yilmaz, neun weitere Bewohner wurden schwer verletzt.
Organisierte Faschisten
Der sogenannte Asylkompromiss wurde von Faschisten als Ansporn genommen, nun auch die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migranten ins Fadenkreuz zu nehmen. Der schräg gegenüber dem Anschlagsort in Solingen bei seiner Mutter wohnende 16jährige Christian R. hatte am Tag vor dem Anschlag gegenüber Freunden angekündigt, das »Türkenhaus« werde bald »abgefackelt«. In der Tatnacht traf er laut Ermittlungen zufällig auf Markus G. (23), Christian B. (20) und Felix K. (16). Die jungen Faschisten waren betrunken und frustriert, nachdem sie zuvor von vermeintlichen »Türken« und dem Wirt wegen Belästigung anderer Gäste aus einer Gaststätte geworfen worden waren. Sie hätten beschlossen, »die Türken zu erschrecken«, auf dass sie Deutschland verlassen, schilderte G. das Tatmotiv. Während zwei Schmiere standen, schütteten die anderen beiden Benzin im Eingangsbereich des Hauses aus und entzündeten es. Das Feuer überraschte die Bewohner gegen halb zwei Uhr nachts im Schlaf.
Am 13. April 1994 begann vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht der Prozess wegen fünffachen Mordes, 14fachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung aus niederen Beweggründen. Ermittlungspannen – durch eine verfrühte Reinigung des Tatortes waren etwa mögliche Spuren verwischt worden – erschwerten die Rekonstruktion der Tat. Zudem zog G. am 80. Verhandlungstag sein detailliertes Geständnis zurück, während R. durchgehend behauptete, der alleinige Täter gewesen zu sein und die beiden anderen Angeklagten jegliche Beteiligung abstritten. Nach 127 Verhandlungstagen wurde G. zu 15 Jahren Haft und seine drei Mitangeklagten wurden zu jeweils zehnjähriger Jugendstrafe verurteilt. Da die Urteile in drei Fällen nur auf Grundlage von Indizien erfolgten, äußerten nicht nur deren Familien, sondern auch einige antifaschistische Prozessbeobachter Zweifel, ob die richtigen Täter verurteilt worden waren.
Von Seiten der ermittelnden Bundesanwaltschaft war das Bild einer spontan und unter starkem Alkoholeinfluss erfolgten Tat in Nachahmung des Anschlägs von Mölln gezeichnet worden, die keine Verbindungen zur organisierten Neonaziszene aufgewiesen hätten. Diese Darstellung unterschlug die zentrale Rolle der als Treffpunkt der Neonaziszene bekannten Kampfsportschule Hak Pao, in der drei der vier verurteilten Täter trainiert hatten und in der auch der Lebensgefährte von Christian R.s Mutter Mitglied war. Der Leiter der Schule, der mehrfach vorbestrafte Kampfsportler Bernd Schmitt, war gegen hohes Entgelt als V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes tätig. Der Geheimdienst hatte den Plan entwickelt, einen von Schmitt geleiteten »Deutschen Hochleistungs-Kampfkunstverband (DHKKV) als Köder zur Beobachtung von Neonazis zu gründen. Der DHKKV, dessen Mitglieder als Ordner bei Veranstaltungen faschistischer Gruppen auftraten, agierte faktisch als paramilitärische Unterorganisation der 1992 vom Bundesinnenministerium wegen »Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus« verbotenen Nationalistischen Front (NF). Mit Schmitt verfügte der Verfassungsschutz über einen Vertrauensmann im direkten Umfeld des NF-Führers Meinolf Schönborn.
Betriebsunfall?
Als der Kampfsportler am 3. Juni 1994 vor dem Oberlandesgericht als Zeuge aussagte, flog seine von der Solinger Antifa schon länger vermutete Agententätigkeit auf. Für die Nebenklageanwälte der Familie Genc stellte sich im Prozess die Frage, inwieweit der Trainer, der für einige seiner jungen Schüler die Rolle eines Ersatzvaters einnahm und seine »Kameraden« nach dem Anschlag vor Hausdurchsuchungen gewarnt hatte, diese zu ihren Mordtaten mit seiner Agitation erst ermutigt hatte. Der Verfassungsschutz hatte nach dem Anschlag mit Johannes Pietsch auch einen V-Mann innerhalb der Solinger Antifa plaziert, die eigene Recherchen über die örtliche Naziszene durchführte. Zusammen mit einer Antifaaktivistin konnte Pietsch bei einer Observation der Kampfsportschule beobachten, wie Schmitt und seine Partnerin Kisten mit 50.000 Seiten Unterlagen – darin, wie sich später herausstellte, neben Mitgliedsdaten auch Lageskizzen der Wohnungen von Migranten und Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails – abtransportierte. Sein darüber informierter Agentenführer unternahm nichts, um das Verschwindenlassen möglichen Beweismaterials zu verhindern.
Im Jahr 2020 wurde Pietsch, der bis 1999 in der autonomen Szene gespitzelt hatte, enttarnt. Aktivisten, die ihn von früher kannten, äußerten daraufhin die Vermutung, dass der Spitzel eingesetzt worden sei, um die Aufklärung des Solinger Anschlags zu blockieren, in dem er eine drohende Entlarvung von Schmitts V-Mann-Tätigkeit durch die Antifa verhinderte.
Es spricht mithin einiges dafür, dass der Fünffachmord von Solingen, der für eine ganze Generation von insbesondere türkeistämmigen Migranten in Deutschland traumatisierend war, ebenso ein »Betriebsunfall« des Verfassungsschutzes war wie die später unter den Augen des Geheimdienstes begangenen Morde der Naziterrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«.
»Die Mörder sitzen in Bonn«
Nach dem Anschlag von Solingen kam es zu teils gewaltsamen Protesten von Türkeistämmigen. So blockierten Jugendliche in Solingen Straßen und schlugen Schaufenster ein. Dazu riefen sie mit Blick auf die vorangegangene rassistische Debatte im Bundestag: »Die Mörder sitzen in Bonn.« Die Weigerung von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), nach Solingen zu kommen, um – so ein Regierungssprecher – nicht in »Beileidstourismus« zu verfallen, heizte die Wut zusätzlich an.
Die Grauen Wölfe versuchten, die Proteste für sich zu instrumentalisieren. In der Folge kam es auf Kundgebungen zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Faschisten auf der einen und linken Türken, Kurden und Autonomen auf der anderen Seite. Im Anschluss an die Trauerfeier mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Kölner Zentralmoschee zogen am 3. Juni rund 200 mit Knüppeln und Ketten bewaffnete Anhänger der Grauen Wölfe randalierend durch die Stadt. Für die Boulevardpresse war der »Türkenaufstand« eine willkommene Gelegenheit, die rassistischen Morde in den Hintergrund zu rücken.
Der von seiten mancher türkischer Nationalisten erhobene Ruf nach »Rache« war Mevlüde Genc, die bei dem Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren hatte, fremd. »Ich habe mein Wertvollstes verloren, einen Teil von mir«, hatte die mit 79 Jahren im vergangenen Oktober verstorbene Frau 2013 im Interview mit dem WDR bekannt. »Und ich habe trotzdem nicht mit Hass reagiert, sondern mit Liebe und Respekt. Wir sind Menschen und müssen einander respektieren und wertschätzen. Wir müssen einander helfen und gegenseitig verstehen.« (nb)
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