Imperiale Phantasien
Von Reinhard Lauterbach
Man fragt sich im nachhinein, warum Wladimir Putin eigentlich einst Dmitri Medwedew zu seinem Ersatzmann für vier von der Verfassung vorgeschriebene Jahre berufen hat. Fiel er damals als Präsident durch Naivität gegenüber dem nächsten westlichen Regimewechselkrieg auf (die russische Enthaltung im Weltsicherheitsrat angesichts der Aggression gegen Libyen 2011), spielte er danach vorübergehend die Rolle des Liebhabers roter Markenturnschuhe, um schließlich in seiner gegenwärtigen Funktion als Vizechef des Sicherheitsrates imperial daherzuschwadronieren.
Was Medwedew auf seinem Telegram-Kanal über die drei Varianten des Zerfalls der ukrainischen Staatlichkeit zusammengeschrieben hat, läuft auf die Forderung nach einer Aufteilung der Ukraine zwischen Russland und der EU hinaus. Letztere soll sich mit der Übernahme der westukrainischen Gebiete das Kernland des ukrainischen Nationalismus ans Bein binden, von dem Medwedew immerhin einräumt, dass es für Russland verloren sei; wobei dieser Nationalismus geographisch heute längst nicht mehr auf die Westukraine beschränkt ist. Den Rest würde Russland übernehmen wollen.
Freilich, Medwedews Überlegungen stehen unter der Voraussetzung, dass Russland den Ukraine-Krieg militärisch gewinnt und dann in der Lage wäre, die Karten neu zu mischen. Aber wir haben nicht den Februar 1945, es ist kein neues Jalta absehbar, als eine in Osteuropa siegreiche Rote Armee Fakten geschaffen hatte, an denen auch die USA und Großbritannien nicht vorbeikamen. Heute ist nicht entfernt sicher, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt – ohne atomare Eskalation, in deren Fall Moskau den Krieg politisch jedenfalls verlieren würde, weil eine atomare Eskalation Russland der chinesischen Unterstützung berauben würde. Völlig realitätsfern wirken Medwedews Überlegungen darüber, dass die Bevölkerung der Zentralukraine »ihr von der UNO garantiertes Selbstbestimmungsrecht wahrnimmt und den Beitritt zur Russischen Föderation beantragt«. Der Sicherheitsratsvize bekommt anscheinend nicht mehr mit, dass das Vertrauen auf eine prorussische Grundhaltung der ukrainischen Bevölkerung im Vorfeld der Entscheidung zum Krieg eine schwere Selbsttäuschung war. Dieses Wunschszenario wird so nicht eintreten.
Es bleibt die vage Hoffnung, dass Medwedew hier mit Putins Rückendeckung die nächste Rolle spielt: als chauvinistischer Klabautermann, vor dessen Hintergrund dann Putin und Lawrow als Realpolitiker dastehen wollen, mit denen man wieder werde reden müssen. Ein hypothetischer und unwahrscheinlicher Trost.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (30. Mai 2023 um 10:23 Uhr)Imperiale Phantasien bezüglich der Ukraine hegt man nicht nur in Russland. Bei deren westlichem Nachbarn, in Polen, gelten die Westukraine und Weißrussland nicht nur in der polnischen PiS und im konservativ-nationalistischen Milieu Polens als traditionelle Einflusssphäre Polens. Es gab eine jahrhundertelange Herrschaft des polnisch-litauischen Königreichs über weite Teile der Ukraine und Weißrusslands und eine Zugehörigkeit zur polnischen Republik seit 1921, als Ergebnis des polnisch-sowjetischen Krieges. Die (Zurück-)Annexion dieser Länder durch die Sowjetunion im Jahr 1939 gilt für viele Polen nach wie vor als Raub und somit illegitim.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard W. aus Hamburg (28. Mai 2023 um 15:17 Uhr)Nein, es ist nicht unwahrscheinlich. Medjedew ist für die Nationalisten und Hardliner zuständig, die ein entschiedeneres, härteres Vorgehen in der Ukraine befürworten und vom Einsatz einer Poseidon-Bombe gegen England träumen. Der spielt den »Bad Cop«. Und holt damit alle die ab, die den Westen mittlerweile nur noch verachten. Unabhängig davon ist es absehbar, dass die Russen den Krieg gewinnen (wie übrigens seit dem 24.2.2022). Nach der Zerstörung der Patriot-Station ist die Begeisterung dafür, modernes Rüstungszeug auf die »Messe« in der Ukraine zu schicken, deutlich abgekühlt. Die Uranmunition haben die Russen in die Luft gesprengt und die Polen kriegten die radioaktive Wolke ab. Das läuft alles für den Westen nicht wirklich nach Plan.
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