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Aus: Ausgabe vom 27.05.2023, Seite 6 / Ausland
Folgen des Krieges

Verwundet alleingelassen

Ukraine: Kriegsversehrte bekommen nicht die Hilfe, die sie brauchen. Kürzungspolitik der vergangenen Jahre hat Lage verschärft
Von Dmitri Kowalewitsch, Kiew
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Die Kosten des Krieges trägt die Bevölkerung – auch als Verwundete im Lazarett (17.5.2023)

Jede Feindseligkeit führt zu einer großen Zahl von Verwundeten, die behandelt werden müssen. Wenn es sich bei ihnen um zwangsverpflichtete Soldaten handelt, die für ihren Staat gekämpft haben, ist es die Pflicht der Regierung, für Behandlung, Prothesen und Rehabilitation zu sorgen. Im Falle des Konflikts in der Ukraine trifft eine wachsende Zahl verwundeter Soldaten jedoch auf die Folgen der neoliberalen Reform des Gesundheitssystems, die auf Wunsch des IWF nach dem Euromaidan durchgeführt wurde. Deren Kern bestand darin, die Zahl der medizinischen Einrichtungen und die Ausgaben für das Gesundheitswesen zu reduzieren. Infolgedessen hatten bis 2022 Tausende von medizinischen Fachkräften die Ukraine in Richtung EU verlassen.

Laut der von der ukrainischen Veteranenstiftung für die ersten vier Monate dieses Jahres durchgeführten Untersuchung »Bedürfnisse der Veteranen« sind mehr als 53 Prozent der Befragten der Meinung, dass der Staat derzeit seinen Verpflichtungen ihnen gegenüber nicht nachkomme. Außerdem geben 54 Prozent an, dass sie bereits jetzt und in naher Zukunft Hilfe bei der Verbesserung ihrer Gesundheit benötigen.

Witali K., ein ehemaliger Angehöriger der Territorialverteidigung, verlässt wütend das Krankenhaus, wo er es wieder einmal nicht geschafft hat, einen Arzttermin zu erhalten. Jedesmal, wenn er auf seinen linken Fuß tritt, verzieht er vor Schmerzen das Gesicht. Seinen Angaben zufolge wurde er vor mehr als einem Jahr in der Nähe von Irpin in der Region Kiew von einem Schrapnell getroffen. Zwei Splitter stecken in seinem linken Bein. Es ist möglich, sie zu entfernen, aber die Operation erfordert mehr Geld, als er hat. Eine kostenlose Operation (aus dem Haushalt bezahlt) ist möglich, aber man muss sich in die Warteschlange einreihen, die sich seit mehr als einem Jahr nicht bewegt hat. »Kommen Sie morgen oder besser noch nächste Woche«, hört er jedesmal im Krankenhaus. »Die Ärzte schmunzeln und deuten an: ›Nun, Sie bekommen doch 30.000 Griwna (750 Euro) …‹ – aber so viel Geld hat schon damals keiner von uns gesehen, und kürzlich wurde das Gehalt für aktive Soldaten sogar noch weiter gekürzt«, klagt Witali.

Die Haltung des ukrainischen Staates gegenüber Kriegsversehrten kann auf zwei Ansätze reduziert werden: Sie sollen sich selbst auf eigene Kosten behandeln lassen und auskurieren, oder sie sollen in den Westen gebracht und auf dessen Kosten therapiert werden, da die Ukraine »für Europa« gegen »asiatische Horden« kämpft. Zur zweiten Kategorie gehören in der Regel verwundete militante Nationalisten. Alle anderen werden mit ihren Problemen allein gelassen und erhalten von niemandem außer ihren Familien Beistand.

Der ukrainische Telegram-Kanal »Legitimni« macht darauf aufmerksam, dass einige Betroffene durchaus in der Ukraine auf Staatskosten behandelt werden. Aber nur wenige schafften es, »das volle Paket an Hilfe vom Staat zu erhalten. Dafür müssen sie durch eine ›bürokratische Hölle‹ gehen oder eine bestimmte öffentliche Person sein«, wie es auf »Legitimni« heißt. Geld für Prothesen, die ab 10.000 US-Dollar kosten, stehe in der Regel nicht zur Verfügung.

In einem kürzlich veröffentlichten Video sagte ein betroffener Soldat, dass ein verwundeter Soldat zwar in ein Krankenhaus evakuiert wird, dort aber nur Schmerzmittel erhält und auf eigene Kosten behandelt werden muss. Das ukrainische Nachrichtenportal Suspilne berichtete kürzlich, wie die Mutter eines verwundeten Soldaten in der Region Dnipropetrowsk aufgefordert wurde, für die Behandlung ihres Sohnes zu zahlen, der an der Front schwerste Verbrennungen erlitten hatte. »Sie haben angedeutet, dass sie Motivation brauchen, um die Behandlung meines Sohnes zu verbessern«, berichtete die Mutter. Ihrer Aussage zufolge bezahlte sie die Ärzte für Operationen und Verbände und kaufte alle Medikamente – alle zwei Tage habe sie Geld gegeben.

Es gibt zu viele verletzte und behinderte Menschen auf den Straßen der Ukraine. Diese Tatsache hat eine demoralisierende Wirkung auf die übrige Bevölkerung. Es ist unwahrscheinlich, dass sie in Zukunft in der Lage sein werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und die NATO-Partner der Ukraine, die ihre Führung zu einer Gegenoffensive drängen, werden auch nicht für die lebenslange Versorgung Hunderttausender neuer Kriegsversehrter sorgen.

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  • Leserbrief von Peter Groß aus Bodenseekreis (30. Mai 2023 um 13:56 Uhr)
    Die US- und EU-Politiker sind so klug, dass sie Ukrainer für sich kämpfen lassen. Ein »Engagement für das gemeinsame Ganze« als Pflichtzeit fordert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, »um den Gemeinsinn zu stärken und gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzuwirken«. Mit anderen Worten, er sucht nach Kanonenfutter, auch für den Sänitätsdienst an der Front, argwöhne ich. »Mehr als 1.100 Ärztinnen und Ärzte aus Deutschland haben sich nach Angaben der Bundesärztekammer für einen Einsatz in der Ukraine bereit erklärt.« (Tagesschau, 18.04.2022). Wie viele sind wohl bereit, sich in einem einsamen Tal des Schwarzwalds niederzulassen? Die Schwarzwaldklinik war eine Seifenoper. Ruhm und hohe öffentliche, fachmedizinische Anerkennung bringen spektakuläre Operationen und Frontberichte, die den meisten Spezialisten im Anschluss ordentlich Geld aufs Konto spülen. Mit welch holden Worten ist der Pflichtdienst fürs Vaterland verbunden? Kein Soldat kann sagen, man hätte ihm Reichtum oder einen Pflegedienst im Haus am See mit Rosengarten versprochen. Man muss nur die Scheidungsraten bei Soldaten ansehen, wenn es knapp für den ehelichen Pflichtdienst reicht. Weil, wenn erst die Prothese abgeschnallt werden muss, tötet das jede romantische Stimmung. Bewohner eines Apartmentgebäudes, in einem Vorort von Washington, haben 500 Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade geschmiert. Der GI Tom bekommt kein Brot mit Erdbeermarmelade und Extra-Honig, wenn er in der langen Reihe von Hungerleidern steht. Krieg ist zu teuer für diese Welt und bedeutet, es können keine Kindergärten gebaut werden, dass 63jährige statt Rente zu beziehen, länger arbeiten. Weil mit einer ausreichenden Schmerzmittelversorgung die Köchin bis 72 arbeiten kann, um mit 73 Jahren ins Armengrab zu sinken. Warum verweigert man Soldaten mittels Spendensammlung für Kriegsversehrte eine ausreichende Opferhilfe? Deren Zahl ist zu groß! Ein Hörtipp für kriegsbegeisterte Parlamentarier von Die Linke: Das Seifenlied (Liederjan).

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