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Aus: Ausgabe vom 24.05.2023, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Der Mutmacher

»Glaubt nie, was ich singe«: Eine Doku über die Biographie des Liedermachers Hans-Eckardt Wenzel
Von Gerd Schumann
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»Lass in dem Bleiben, Kommen, Gehen / Zertanzen uns die Schuh / Ich will noch so viel Himmel sehn / Und du, du lachst dazu« – Hans-Eckardt Wenzel

Der Film spielt »im Osten«, wie das Land, das einst DDR hieß, inzwischen meist genannt wird. Hier wurde Hans-Eckardt Wenzel 1955 in Kropstädt bei Wittenberg an der Elbe geboren, hier wurde er groß und Poet und Musiker, hier lebt er auch heute, ein scharfsichtiger Denker, der es versteht, seine Gedanken präzise und zugleich bildreich in Worte zu fassen. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein, seine Schwester, die Schauspielerin Claudia Wenzel, nennt einen davon: »Er hat sich in den ganzen Jahren nie verraten. Das ist etwas, das ich ihm hoch anrechne.«

Es ist diese fundamentale Erfahrung, die uns der kürzlich in den Kinos angelaufene Dokumentarfilm »Wenzel – Glaubt nie, was ich singe«, koproduziert von MDR und RBB, überzeugend näherbringt – hautnah in Dokumentaraufnahmen und drei Dutzend Liedern, in Gesprächen, Interviews und Kommentierungen. In 106 Minuten erzählt Regisseur Lew Hohmann Wenzels Biographie, in der sich spannenderweise die Geschichte zweier Staaten und Systeme spiegelt. Eine Reise durch die Zeit mit Eindrücken von Beteiligten.

Hüben wie drüben

So offenbart Christoph Hein, dass Wenzel sein »bester Freund« sei, der als erster ein neues Manuskript erhalte – zum kritischen Gegenlesen. Konstantin Wecker freut die »grundanar­chistische Einstellung« seines Kollegen, meint, dass beide sich »darin ja sehr ähnlich« seien. Und Antje Vollmer, jüngst verstorbene Grünen-Politikerin, mit der Wenzel zwei lesenswerte Bücher über Rainer Werner Fassbinder und Konrad Wolf veröffentlichte, schwärmt von dessen Bühnenpräsenz. Andreas Dresen schließt sich an und bekennt, dass ihn manche Songs zu Tränen rühren können. »Lass in dem Bleiben, Kommen, Gehen / Zertanzen uns die Schuh / Ich will noch so viel Himmel sehn / Und du, du lachst dazu«, singt Wenzel im »Herbstlied« von seinem ersten Album »Stirb mit mir ein Stück«, erschienen 1986, ein melancholisches Meisterwerk.

Wenzels langjähriger Weggefährte Steffen Mensching erläutert die Hintergründe ihres damaligen Clownsduo-Projekts (1985–2000), Rolf »Cello« Fischer erinnert sich an die ungeheure Produktivität des freien Theaterkollektivs Karls Enkel mit 13 Programmen in neun Jahren (1976–1985), und der sachsen-anhaltische Ministerpräsident Reiner Haseloff, einst von Wenzels Vater Manfred unterrichtet, spricht von seiner Hochachtung für den Kunsterzieher und Freigeist (»Mein Lieblingslehrer«). So wird der Film nach und nach zu einer Hommage an den Künstler und dessen Aufrichtigkeit trotz aller Widrigkeiten, hüben wie drüben.

Unter Gleichgesinnten

Drüben, im Westen, heimste Wenzel viele Auszeichnungen und Preise ein, wobei deren Anzahl im doch ziemlich krassen Gegensatz zu seinem Bekanntheitsgrad ebendort steht. Er bleibt auch über drei Jahrzehnte nach der DDR der »ostdeutsche Liedermacher«. Und überhaupt erweist sich der Westen – nach der, »um es bös zu sagen: Annexion der DDR«, wie Dresen den Anschluss des nun längst nicht mehr existenten Staats nennt – als weiterhin ausdauernd hartnäckig in seinen Vorurteilen und resistent dagegen, Errungenschaften aus »dem Osten« zur Kenntnis zu nehmen. Und dazu gehört eben besonders auch die Kunst.

Die Arroganz von Macht und die Manipulation wird fleißig gepflegt, und das nicht nur durch Meinungsträger wie den Milliardär und Springer-Boss Mathias Döpfner. Derweil bilanziert Wenzel: »Wir werden immer schöner, immer freier / Und so wie Dick und Doof zusammenpassen / Passen wir zu unseren Brüdern und Schwestern / Und darum Freunde, Hoch die Tassen / Denn wir stammen ja aus dem Unrechtsregime.« Und das Publikum freut sich mit ihm, lacht, und sie feiern gemeinsam spöttisch ihren Sieg über den Hochmut, eine verstehende Beziehung unter Gleichgesinnten, und wer Wenzel und seine Spitzenkapelle einmal live erlebt hat, kommt wieder und bringt noch jemanden mit.

Antagonistische Welten

Vielleicht zum Ostseehafen Kamp, in dessen Nähe Wenzel mit seiner Ehefrau, der Ärztin Tilla Wenzel, und ihren beiden Kindern ein ländliches Refugium gefunden hat. Einmal im Jahr läuft dort im Sommer auf der Wiese »Das kleine Woodstock des Nordens«. Zunächst durch Corona gestoppt, drohte wegen des Verkaufsansinnens einer Erbengemeinschaft aus dem Westen das endgültige Aus. Eine Spendensammlung verhinderte das schließlich, und überhaupt handelt der Film viel von Widerständigkeit in den zwei antagonistischen Welten, die Wenzel erlebte.

Manches Mal stand er vor einer Mauer aus Verzweiflung, einmal gar existenzbedrohend, als er Mitte der achtziger Jahre wegen verschiedener privater, gesellschaftlicher, künstlerischer Turbulenzen physisch und psychisch an seine Grenzen stieß und einen Magendurchbruch erlitt. Er überlebte und stimmte danach ohne zu zögern dem Angebot zu, zu pausieren und als Krankenwagenfahrer beim FDJ-Projekt »Hospital Carlos Marx« in Managua einzusteigen. Den Pass für die BRD lehnte er ab, in die »dritte Welt« ging er sofort – und fing sich. Nach zwei Tagen dort war er genesen.

Bleibt zu hoffen, dass der mut­machende Wenzel-Film auch im Westen gesehen und verstanden wird, führt er doch eine lebenswerte Geisteshaltung vor Augen, die sich am einfachsten vielleicht in zwei Songtiteln zusammenfassen lässt: »Halte dich von den Siegern fern. Halte dich tapfer am Rand« und »Die Erde ist da für dich und mich« – frei nach Woody Guthries »This Land is your Land, this land is my land«.

Dessen Tochter Nora wiederum sagt über Wenzel: »Mein Vater war genauso«, als Mensch, Künstler, Performer, kreativ und impulsiv. Sie zeigt sich heute noch beeindruckt von Wenzels Auftritt mit Band in der historischen Grand Ole Opry von Nashville, wo er »Ticky Tock«, die Vertonung von ­Guthrie-Texten, auf Englisch aufführte. Deren Übertragung ins Deutsche gehört inzwischen fest zu Wenzels opulentem Gesamtwerk. Unerwähnt soll nicht bleiben, dass er mit dem vom türkischen Staat verfolgten Ferhat Tunc im kurdischen Dersim auftrat. Vor 150.000 Menschen und unter den Augen schwerbewaffneter Polizeikräfte sangen die Künstler gemeinsam das Partisanenlied »Bella Ciao«, und spürbar wurde die Energie, die Musik und Solidarität geben können. Ein Gleichklang.

»Hüte dich, deine Begabung zu verspielen. Schau dir Biermann an«, riet ihm einst sein »akademischer Ziehvater«, der Philosoph Wolfgang Heise während Wenzels Studium der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität. »Und ich wusste, was er meinte.«

»Wenzel – Glaubt nie, was ich singe«, Regie: Lew Hohmann, BRD 2022, 106 Min., bereits angelaufen

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