Ohne Atempause
Von Knut Mellenthin
Der Pressesprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, hat am Sonntag aus aktuellem Anlass eine Stellungnahme veröffentlichen lassen, die in Israel für leichte Aufregung sorgte. Der Inhalt ist nicht außergewöhnlich, sondern entspricht den Positionen aller bisherigen US-Regierungen mit Ausnahme der Administration unter Donald Trump. Der Ton der Stellungnahme scheint allerdings ungeduldiger und polemischer als üblich. Hinzu kommt der Vorwurf, dass Israel Zusagen gegenüber den USA gebrochen habe.
Millers Statement besteht aus zwei Absätzen. Der erste beginnt mit dem Satz: »Wir sind tief beunruhigt über die Anordnung der Regierung Israels, die es seinen Bürgern erlaubt, im Außenposten Homesch in der nördlichen Westbank, der nach israelischem Recht illegal auf privatem palästinensischem Land errichtet wurde, eine ständige Präsenz zu etablieren.« Das stehe nicht im Einklang mit einer Zusage, die Premierminister Ariel Scharon 2004 der Regierung unter George W. Bush gegeben habe, und mit Verpflichtungen, die die gegenwärtige israelische Regierung gegenüber Washington eingegangen sei. Abschließend heißt es: »Das Vorantreiben der israelischen Siedlungen in der Westbank ist ein Hindernis für das Erreichen einer Zweistaatenlösung.«
Im zweiten Absatz geht es um den Auftritt des ultrarechten Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir auf dem Gelände der Al-Aksa-Moschee am Sonntag. Dazu heißt es: »Wir sind ebenfalls besorgt über den heutigen provokanten Besuch auf dem Tempelberg/Haram Al-Scharif in Jerusalem und über die begleitende aufhetzende Rhetorik. Der heilige Raum darf nicht für politische Zwecke genutzt werden. (…) Darüber hinaus bekräftigen wir die traditionelle Haltung der USA zur Unterstützung des historischen Status quo an Jerusalems heiligen Plätzen.«
Der Streit um Homesch und drei weitere ehemalige Siedlungen in der nördlichen Westbank geht auf die Jahre 2004/2005 zurück. Scharons damaliger Abzugsplan sah die Aufgabe und Zerstörung von 21 Siedlungen im Gazastreifen und vier Siedlungen in der Westbank vor. Das führte zeitweise zur Spaltung der von Scharon geführten Likud-Partei. Der Plan wurde im August und September 2005 gegen den Widerstand der Siedler durchgesetzt. Begleitet wurde der Abzug von einem Gesetz, dem Disengagement Law, das allen Israelis das Betreten der aufgegebenen Areale verbot. Das wurde von Siedlern und anderen Ultrarechten immer wieder durch provokatorische Aktionen durchbrochen, die von Streitkräften und Behörden vielfach toleriert wurden.
Am 21. März des laufenden Jahres wurde dieses Verbot durch eine Änderung des Gesetzes aufgehoben. Mehrere Oppositionsvertreter stimmten ausdrücklich zu. Auch war dieser Schritt der Regierungskoalition aus Rechten und Ultrarechten kein Gegenstand bei den seit nunmehr 20 Wochen durchgehaltenen Protesten in Israel. Allerdings gilt auch hier, dass über die Geltung israelischen Rechts in den besetzten Gebieten jeweils im Verteidigungsministerium entschieden werden muss. Erst am Donnerstag voriger Woche hob das für die Westbank zuständige »Kommando Mitte« das Verbot auf, das Gelände der ehemaligen Siedlung Homesch zu betreten. Für die anderen drei 2005 aufgegebenen Siedlungen in der Westbank – Kadim, Ganim und Sa-Nur – gilt das Verbot jedoch weiter, solange das »Kommando Mitte« es nicht aufhebt.
Das zu erreichen ist das nächste Ziel der Siedlerbewegung und anderer Ultrarechter. Es ist zu erwarten, dass sie dabei nicht stehenbleiben werden. Der Likud-Abgeordnete Juli-Joel Edelstein begrüßte im März die Änderung – er nannte es »Abschaffung« – des Disengagement Laws mit den Worten: »Der Staat Israel hat heute abend den Erholungsprozess von der Deportationskatastrophe begonnen. (…) Das ist der erste und bedeutende Schritt zu echter Heilung und zum Siedeln auf Israels Heimatgebiet.« Als »Deportationen« bezeichnen die Rechten die zwangsweise Räumung der Siedlungen.
Die Abgeordnete Limor Son Har-Melech von Ben-Gvirs ultrarechter Partei Otzma Jehudit kritisierte am Montag im Gespräch mit der Internetzeitung Times of Israel das Fortbestehen des Verbots, die Standorte der 2005 zerstörten Siedlungen Kadim, Ganim und Sa-Nur zu betreten. Das Disengagement Law sei »ein unethisches nationales Verbrechen« gewesen. Es sei das Ziel, diese Orte auch gegen den Willen der Streitkräfte erneut zu besiedeln. Letztlich gelte das auch für die 17 ehemaligen Siedlungen des sogenannten Gush-Katif-Blocks im Gazastreifen.
Über den Streit um Homesch weit hinausreichend, hatte die Regierung schon im Februar beschlossen, die Planung für 7.000 neue Siedlerwohnungen voranzutreiben. Dazu gehört auch die Wiederaufnahme des Projekts »E1«, dessen strategischer Zweck darin besteht, die Nord-Süd-Verbindung zwischen den größeren palästinensischen Wohngebieten abzuschneiden.
Am Montag wurde bekannt, dass die zuständige Bezirksbehörde in Jerusalem in der Vorwoche grünes Licht für den Bau von 400 neuen, ausschließlich für Israelis bestimmten Wohnungen in der palästinensischen Stadt Abu Dis, die oft als Vorort von Jerusalem bezeichnet wird, gegeben hat. Bevor mit dem Bauen begonnen werden kann, sind allerdings noch mehrere Planungsstufen zu bewältigen. Abu Dis wurde international als »künftige Hauptstadt Palästinas« bekannt. Mit ihr sollen die Palästinenser als Ersatz für ihre Forderung nach »Jerusalem als Hauptstadt« abgefunden werden. Ob sich die Autonomieregierung damit zufriedengeben wird, erscheint ungewiss. Es gibt aber in Abu Dis schon eine fünfstöckige Bauruine, in die einmal das palästinensische Parlament einziehen sollte.
Hintergrund: Tod einkalkuliert
Die Palästinensische Nationalbehörde (PA) hat am Montag an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag appelliert, eine Untersuchung israelischer Verbrechen vorzunehmen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Unmittelbarer Anlass für den Vorstoß war die Tötung von drei Palästinensern bei einem Angriff der Israelischen Streitkräfte (IDF) in der Nacht zum Montag.
Ort des Geschehens war das Flüchtlingslager Balata in der Umgebung von Nablus, einer Stadt mit 157.000 Einwohnern in der seit 1967 besetzten Westbank. Die Al-Aksa-Märtyrerbrigaden, der bewaffnete Arm von Al-Fatah, veröffentlichte nach dem Angriff eine Erklärung, dass es sich bei den Getöteten um Angehörige ihrer Organisation gehandelt habe. Das Gesundheitsministerium der PA teilte mit, dass sechs weitere Palästinenser bei dem Überfall verletzt worden seien. Eine Person befinde sich in lebensbedrohlichem Zustand. Ein Sprecher der IDF berichtete, dass ein Soldat leicht verletzt worden sei.
Der nächtliche Angriff sei erfolgt, um »Terrorverdächtige« festzunehmen. Dabei hätten »Terroristen« bewaffneten Widerstand geleistet. Drei Verdächtigte seien in Haft gebracht worden. Verteidigungsminister Joaw Galant behauptete, durch die »Razzia« seien mehrere »Terrorangriffe« gegen Israelis verhindert worden.
Tote Palästinenser bei solchen »Razzien« sind voraussehbar und, zumindest nach Einschätzung der PA, auch durchaus einkalkuliert. Seit dem Amtsantritt der Koalitionsregierung aus Rechten und Ultrarechten im Dezember wurde die Häufigkeit solcher Überfälle deutlich gesteigert. Mit Einschluss der drei Opfer der »Operation« Montag nacht kamen in diesem Jahr bereits mindestens 111 palästinensische Bewohner der besetzten Westbank bei eigenen Aktionen oder Zusammenstößen mit Einsatzkräften ums Leben. Auf der Gegenseite wurden 19 Menschen durch »Terrorangriffe« getötet. (km)
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