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Aus: Ausgabe vom 27.05.2023, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Senhor Fernando

Von Konstantin Arnold
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Ich bin jetzt 32, also im besten Alter, um zu verstehen, dass man langsam stirbt, die Zeit begrenzt ist. Ich könnte mich deswegen irgendwo runterstürzen, der Gedanke ist ja nicht auszuhalten. Als ob nicht alles nicht ewig ist. Weder der Körper, in dem ich lebe, noch die Frau, die ich liebe, nicht mal die Lokale, in die ich immer gerne ging. Erst letzte Woche musste Senhor Fernando schließen, der Gemüsehändler, der auch Wein da hat und Schinken. Er sagte, er packe das alles nicht mehr. Er sei zu alt und Lissabon zu kalt und zu teuer in diesem Winter, und er hätte schon zu viele davon hinter sich. Ich stand zwischen den Bauarbeiten in seinem leeren Laden, brauchte Wein, brauchte Schinken, sah Senhor Fernando so gebückt, sah die Abdrücke an der Wand, die nur die Zeit den Dingen gibt, da, wo die Regale 46 Jahre standen, stand da, wo er immer gestanden hatte, wenn man zahlen wollte und sich noch ein paar Eier aufschwatzen ließ und verstand, was Erinnerungen sind. Es war die Erkenntnis, dass alles vergeht, nichts so bleibt, wie es ist, auch Lissabon nicht, nicht mal die Vergänglichkeit, der Herbst und das Weiß des Monuments.

Alles, was ich übers Essen und Altwerden weiß, weiß ich von Senhor Fernando. Ich weiß auch ein paar andere Sachen, die ich in Büchern gelesen oder mir selbst beigebracht habe, aber ich weiß sie besser von ihm. Gerade, sagt er, kochst du dir deine erste Hühnersuppe, kaufst deinen ersten eigenen Weihnachtsbaum – und schon bist du tot. Die Zeit vergeht schnell, außer der Weihnachtsschmuck ist noch von Mutti. Manche von uns jungen Leuten, die heute alt sind, dürfen schon nie wieder Wein trinken, auch keinen Nachtisch. Andere haben Kinder bekommen, geheiratet, ein paar sind auch ganz glücklich damit; einige können schon nicht mehr richtig gehen, haben Allergien oder denken, welche zu haben, weil sie noch gehen können und lange genug leben, um zu glauben, gewisse Routinen zu erkennen. Finden wir uns damit ab und werden fetter, leben aber hoffentlich, bis wir ganz tot sind.

Was er denn jetzt tun wird, ohne den Laden und ohne Senhor Fernando, der Gemüsehändler, zu sein? Ach, die Zeit verginge so schnell, von nun an ziehe er sie in die Länge. Er würde sich auf Plätze setzen und in Wartezimmer, zu früh am Bahnhof stehen, sehr kompliziert mit dem Bus rumfahren, das Aussteigen vergessen, Vorträge in einer Sprache hören, die er nicht versteht und endlich mal Blumen und Pralinen kaufen für seine Frau, vielleicht auch was ganz Verrücktes und Zeit mit den Kindern verbringen. Die Kinder hätten ihn sehr früh schon sehr alt gemacht, und jetzt hielten sie ihn jung. Manchmal dachte ich, »Was, ein ganzes Leben?« Und jetzt fürchte ich, dass es nur eins ist. 50 Ehejahre, wo sind die hin? Die Liebe führe einen doch immer wieder zum Wesentlichen zurück, weg von Alltäglichkeiten, mit denen man sich abgibt. Er sagte, es wäre das gleiche, wie wenn man Wein trinkt oder einen guten Film guckt und sich einen Augenblick lang konzentriert und daran erinnert, wie alles ist, das ganze Leben, wie wirklich. Er hätte seinen Gemüseladen gehabt, 50 Jahre Ehe hinter sich, ohne seine Frau zu ermorden, zwei Kinder großgezogen und nach dem Mittagessen noch nie jemanden überfahren – in seinen Augen also ein erfolgreiches Leben geführt. Was will man mehr als Erinnerungen, die ein Leben lang halten?

Man versucht sich natürlich, so gut es geht, davon abzulenken. Bohnert Böden, besorgt Einkäufe, arbeitet in einem Büro, findet keinen Parkplatz, fühlt sich wichtig dabei. Muss man ja auch, um mit dem Leben weiterzumachen. Nur manchmal verstricken wir uns sehr, geben uns mit billigen Alltäglichkeiten ab, verwehren uns den Schönheiten des Lebens, die uns als Zufälle getarnt begegnen, nur damit der Tag in den Plan passt. Deshalb enden wir auch in Lebenssituationen, die nie einer gewollt hat, aus denen es kein Entkommen gibt, außer man kann damit leben, dass der Partner kleingehackt in der Tiefkühltruhe unten im Keller liegt.

Klar, die Kinder, die geben einem Halt, halten für einiges her. Die Affären des einen, die Langeweile des anderen, eine gemeinsame, jahrzehntelange Narkose. Wobei das am Ende eines Lebens auch seinen Wert hat, wenn Nichtreden auch irgendwie zur Sprache gekommen ist. Man kann das gut bei Sterbenden sehen, die lange aneinander gekettet waren und sich am Ende wieder lieben und einander die Hand halten, durch dick und dünn, und am Ende Respekt. Meine Oma hat mir das erzählt. Die hat sich zwar geschieden, und ich war zwar nicht dabei, als mein Opa starb, aber sie hat es so gut erzählt, dass ich es schreiben kann. Mein Großvater sah sie an, nahm ihre Hand und sagte, es war alles gut, so, wie es war. Das treibt mir nach wie vor Tränen in die Augen. Egal zu welcher Tageszeit.

Ich will damit auf keinen Fall sagen, dass die Ehe so ist, nur, dass sie so werden kann, wenn man an Orten lebt, die man nicht mag und Menschen am Telefon sagt, dass man sie liebt, wenn man es nie getan hat und nur hier ist und nur mit diesem Menschen, weil er der einzige im Dorf war, der noch einen Arm hatte. Kann die Ehe ja nichts für, von wem sie geführt wird. Heute ist da schon einiges passiert. Wir ziehen zusammen mit 30, wissen, was ein Blowjob ist und das Traumreisen gar nicht so toll. Wir erkennen uns als Menschen an und hören auf, uns unbewusst gegenseitig zu unterdrücken. Der Rest ist Sozialkonstruktivismus. Man könnte das jetzt erklären und anhand vieler Beispiele ausführen, oder man googelt es selbst. Es geht im wesentlichen darum, was wir uns selbst ausgedacht haben, wir Menschen, mit einem Wunsch nach Ordnung im Zusammenleben, niemand anders. Deshalb wollen viele auch keine Kinder, weil man nun mal welche zu machen hat. Aber keine Kinder zu wollen, nur, weil es nun mal so ist, ist dann auch blöd.

Keine Ahnung, wie ich über Kinder denke. Ich weiß nur, dass ich denke, dass sie die leichteste Form sind, um kreationär über die eigene Existenz hinauszukommen. Damit meine ich nicht deren Aufzucht, die stelle ich mir fürchterlich schwer vor und sehr schön, aber schwerer als schön, wenn man will, dass keine Diktatoren aus ihnen werden oder Menschen mit Putzzwang oder jemand, der sein Auto nach jeder Fahrt putzt. Ich weiß nicht, ob ich nicht zu egoistisch wäre für ein Kind, ob Künstler überhaupt Kinder haben sollten, auch wenn ich mir mein Leben nicht ohne eins vorstellen kann. Ist aber kein Grund, ich weiß. Man will halt nur alles leben, nicht nur von einem sehr viel, und den Gedanken, meine Tochter eines Tages mit einem Cabriolet von der Schule abzuholen und zu fragen, na, wo willst du hin, zum Strand oder lieber Eislecken, stelle ich mir wunderbar vor. Ihre Freundinnen werden auf mich fliegen und ihre Freunde es nicht wagen, sie anzufassen, und einem Fernsehsender wird sie eines Tages erzählen, wenn ich dann tot bin und meine Manuskripte gefunden wurden, dass ich immer diese braune Jeansjacke trug, von Levi’s, mit den vielen Kugelschreiberstreifen und dem Geruch von kaltem Tabakrauch. Bei dem Geruch von Tabak denke sie an mich. Ich kann mir nicht vorstellen, eines Tages alt zu sein, mit Sportzeitung unter dem Arm, und keine Kinder zu haben, die Geschichten erzählen, die ich nie schreiben würde. Ich kann mir auch nicht vorstellen, einen Sohn zu haben, der heimlich onaniert. Den würde ich wahrscheinlich im Wald aussetzen. Los, geh, Free Willy. Ich kann mir auch nicht vorstellen, im Stau zu stehen oder auf einem Lidl-Parkplatz, wenn das letzte Abenteuer nur noch darin besteht, ab und an etwas näher an der Leitplanke vorbeizufahren oder mit dem Gedanken zu spielen, Schulbrote mit Zyankali zu schmieren. Zu spielen!

Bin ich bereit zu tun, was es dafür braucht? Ich war nie einer von diesen Leuten, die erst leben, wenn sie mit der Schule fertiggeworden sind und dann erst nach dem Studium und dann während der Pension und am Ende nie. Ich glaube, wer seine Gegenwart ins Maximale treibt, lebt automatisch in eine gute Zukunft hinein. Am Ende ist es ein Preis, den man zahlt, und der nennt sich Zeit. Vielleicht ist es mit der Zeit aber gar kein Preis mehr, sondern ganz natürlich, so wie mit allen guten Entscheidungen, die erst einmal eine Weile gelebt werden müssen, bevor sie getroffen werden. Senhor Fernando sagt, er habe mit dem Gedanken zuzumachen viele Jahre gespielt. Man muss nicht alles immer gleich entscheiden. Realitäten gibt es, lange bevor sie entdeckt werden. Der Satz, man wäre nie ganz bereit, ist ein dämlicher Spruch, der sich im Hinterkopf festsetzt, am Ende des Bewusstseins, und dort nagt, wie jede christliche Moral. Es gibt viele dumme Sprüche, die man sich einreden kann.

Es gab da mal dieses Experiment, in dem steinalte Probanden für eine Weile in ein Haus mit Garten gesperrt wurden, in dem alles so war wie zu ihren besten Zeiten (wieder so ein Spruch). Die gleichen Pin-Ups, dieselben Baseballstars. Nach einer Woche konnten alle wieder laufen, ohne Gehstock, sie spielten Cricket im Park. So alt zu sein, unter Bäumen, mit einer Sportzeitung unter dem Arm auf einer Bank Südeuropas, ein paar Lose in der Hand mit einem bisschen Hoffen auf Glück, während die Liebe deines Lebens noch am Leben ist, im Café mit denen der anderen sitzt und sich mit ihnen über die neusten Ereignisse der Fernsehshows unterhält, stell ich mir eigentlich schön vor. Was will man denn mehr vom Leben, als gut angezogen vor einem Café zu sitzen, seine Frau zu lieben, anderen hinterherzugucken, gut zu essen, Wein zu trinken, Phantasien zu haben und einen Freund, der das Leben auch für beendet erklärt, seitdem er Kinder hat? Was für ein Spruch.

Ich bin absolut nicht bereit, meine Freiheit und all die fahrlässigen Mahlzeiten an all den fahrlässigen Orten aufzugeben, an denen wir fröhlich sind und high und sehr persönlich. Jeder, der was dagegen hat, sei provoziert. Es ist mein Leben und nicht das meines ungeborenen Kindes, nicht das meiner Eltern, meiner Schwiegereltern, das von Oma oder den Freundinnen meiner Freundin, die auch alle schon Kinder haben und über Kindersachen reden und deren Größe. Sie können gar keine anderen Gespräche mehr führen, weil die ja dauernd von irgendwelchen Notfällen unterbrochen werden. Dazu werden Geburtstage von Einjährigen gefeiert, die noch gar nicht wissen, dass sie geboren sind, und mir es auch nicht übelnehmen, wenn ich das vergesse. Meistens sagen die alle dann, so und jetzt aber ihr, damit wir nicht weiterhin so frei und fahrlässig vor ihnen herleben und sie ständig daran erinnern, dass wir unseren Weg gehen und nicht ihren. Das provoziert. Es ist langweilig für andere, wenn zwei glücklich sind und man nicht mit oder nicht mehr und will, dass sie es auch nicht mehr sind. Menschen wollen es nicht sehen, weil sie es für sich wollen. Man will nicht wissen, dass sie Straßen entlanggingen, die keine besonderen Namen haben, und in Restaurants aßen, die niemand kennt, und bei Nacht Dinge taten, die keinen so sehr interessieren wie sie. Nicht nur das, aber man hat das eben, was wir alle suchen, und kann sich dem widmen und es, wenn man will, einfach mit in eine Bar nehmen oder in ein Tanzlokal oder an andere schöne Orte. Ich wäre bereit, meine Freiheit für eine gewisse Zeit zu opfern, wenn ich wüsste, dass danach eine noch viel größere bevorsteht.

Seit ich denken kann, war ich stets im besten Alter und will keins der gelebten Jahre noch mal. Es gab immer Menschen, die jünger waren als ich und immer genügend Ältere, die sagten, dass ich noch jung sei. Senhor Fernando meinte immer, mit 20 denkst du, du seist unsterblich, und mit 30 verstehst du, dass du es nicht bist. Mit 40 akzeptierst du das Ganze und tust mit 50 keine Gefallen mehr. Mit 60 kann es dann sehr schön oder sehr schlimm werden, je nachdem, wie sehr du dachtest, dass du unsterblich seist, und es verstanden und akzeptiert hast, und wie viele Gefallen du in deinem Leben getan hast, bei denen sich der Harnleiter mit dem Blinddarm verknotet. Schauspieler, mit denen man aufwuchs, sterben, Politiker, leider irgendwann auch Oma, und die Lieder, die man früher immer sang, kennt sowieso keiner mehr. Ich habe mich bei meiner Oma nie beschwert, wenn sie von früher sprach, weil ich wusste, dass heute auch irgendwann früher sein wird. Es ist alles das gleiche. Gut, Klimawandel kannte sie nicht, aber alle anderen möglichen Endzeitstimmungen wie Weltkrieg, Kuba-Krise und die Jahrtausendwende. Wir sind absolut nichts Besonderes, auch wenn wir uns ständig dafür halten, nur weil wir am Ende der Zeit leben. Wenn wir das verstehen und akzeptieren, kommen wir vielleicht irgendwann über unser Wesen hinaus. Das ist es, was Arthur Rimbaud schrieb in seinem »Trunkenen Schiff«, nur viel komplizierter und noch viel länger. Was da nicht alles reininterpretiert wurde, ist sowieso viel schöner als das eigentliche Gedicht. Als weiterführende Literatur empfehle ich Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus«, S. 108–110, Henry Miller, »Land der Erinnerung«, S. 121, und ein paar Bergsteigerdokumentationen. Auch was Martin Luther sagt, ist nicht schlecht: Und wenn morgen die Welt untergeht, würde ich doch heute einen Apfelbaum pflanzen. Das macht uns irgendwie aus. Und der Louvre, Vivaldis »Vier Jahreszeiten, Op. 8« und dass Menschen malen können wie Caravaggio. Unsterblichkeit ist eben nicht zu glauben, man lebe ewig, sondern dass man damit einverstanden ist, es nicht zu tun.

Es gibt zwei Typen Menschen. Die einen, die auf Friedhöfen fürchterlich traurig sind, und die anderen, die sich durch all die Toten ans Leben erinnert fühlen. Memento mori. Es gibt auch noch ein paar andere, über die ich nicht schreiben will. Ich glaube manchmal streitet man nur, damit die Schwere des Glücks erträglicher wird. Die Mietpreise lassen im Moment sowieso keine Trennung zu. Immer dieses schnelle Abschiednehmen, anstatt mal innezuhalten im Moment einer gewissen Ermüdung, bis der Aufenthalt einen längeren Charakter erhält, indem man ein Leben und nicht nur die Gelegenheiten miteinander verbringt. Man denkt dann beim Glücklichsein schon daran, wie man den Moment mal vermissen wird, so hoch die Berge, so tief das Meer. Ein Jammer, dass man Momente nicht so erleben kann, wie man sie eines Tages vermisst. Ich mache mir aus Angst davor manchmal so viele Gedanken, ob ich das lebe, was ich leben will und mit wem und genau an dem Ort, dass ich rein gar nichts mehr genieße. Ich glaube aber, wenn wir jeden Tag ein bisschen drüber nachdenken, ist das Ende gar nicht so schlimm. Mehr kann man mit dem Leben eh nicht tun, als es genießen, sich daran erinnern und Angst haben, dass es irgendwann vergeht. Ansonsten ist es schon eine glückliche Zeit, nur gibt es über glückliche Zeiten nicht viel zu sagen, außer man ist sich bewusst, wie kostbar sie sind und wie leicht sie vergehen, ohne vorsichtig zu werden. Man muss dafür nicht das Leben eines Toreros führen, es reicht, jemand zu sein, der gerne denkt und weiß, was passiert und nicht passiert und das dann schreibt, als ob es nie hätte anders gewesen sein können. Gerade weil das Leben dann eine sehr glückliche Zeit ist, muss man darüber schreiben.

Das mit den Kinder hätten wir, Familienglück auch, die Ewigkeit, Sterben. Jetzt noch zu Beziehungen generell, um alle Aspekte des Älterwerdens ab zu haben. Ich traue eigentlich niemandem, der in einem gewissen Alter nicht in einer gewissen Beziehung mit irgendwem ist. Ich kenne sehr verbitterte alte Jungfern, die ihrer eigenen Meinung sind und das bestätigen. Ich kenne 60jährige mit 20jährigen Freundinnen und finde das fürchterlich. Ich verstehe aber auch nicht, wie man mit 60 nicht auf 30jährige abfahren kann, schaue ich doch jetzt meine Freundin an und denke, was für ein Gerät, auch wenn Schönheit nicht der Grund ist. Kommt Zeit, kommt Rat. Hoffentlich. Mein Ziel ist es, jemand zu werden, der es nicht mehr nötig hat, sich dann noch zu beweisen und es wenigstens im Alter über die eigene Eitelkeit hinaus geschafft hat.

Für den Großteil meines Lebens habe ich Beziehungen als inneren Betrug verachtet und mich mit So-Single-wie-möglich-Sein dagegen gesträubt. Ich trug die immer gleichen Sachen und hatte andere Frauen. Das hat sich nun umgekehrt, weil Zusammensein doch aufrichtig ist und uns irgendwie ausmacht, weil es so verdammt kompliziert ist. Ich glaube nicht mehr an die Vertreibung aus dem Paradies. Es hieße, wieder in den Sturm hinausfahren aus dem ruhigen Hafen, in dem die Seele meiner künstlerischen Tätigkeit sinnend vor Anker liegt. Es liegt Entwicklung darin, Abwechslung und Steigung. Die Höhe der Berge und die Tiefe des Meeres, dieses ungeheure, geheimnisvolle, blau dunkelnde Nest allen Lebens. Im Meer liegt das Salz der Wahrheit, die Ungeborenen und die Toten, genau wie im All. Man könnte sagen, dass man geliebt hätte, einmal, aber dieses eine Mal für immer, ohne Gier. Vielleicht liegt in dieser Dankbarkeit dann die Ewigkeit verborgen. Vielleicht eine, die wir nicht beschneiden wollen, nur damit sie passt. So bleibt einem das Familienglück vielleicht erspart, und man verbringt seine Sonntage damit, alleine draußen zu stehen und andere durch beschlagene Fenster lachen zu sehen. Bin ich bereit für alles Un­gesagte, Runtergeschluckte, unter den Teppich Gekehrte, das es dafür braucht? Auf keinen Fall, und wenn doch, dann wäre das sowieso die falsche Familie für mich. Mit meiner kann ich Witze über Bälle machen, die man sich beim Vögeln gegenseitig in den Mund steckt.

Senhor Fernando schloss die Ladentür hinter uns zu. Das Geräusch hinterließ eine fürchterliche Stille. Er sagte, es sei komisch, dass ihn die Leute nur als den Gemüsehändler kennen, jetzt sei er niemand, und niemand wüsste, dass er früher Anwalt gewesen war, bevor er seine Frau kennenlernte und mit ihr den Laden ihres Vaters übernahm. Der machte das zur Bedingung. Darauf solle ich mich nur gefasst machen, also nicht auf solche Väter, sondern, dass wir einige Rollen im Leben übernehmen und sich irgendwann keiner mehr daran erinnern kann, außer man stirbt vor allen anderen und geht nicht nur als Gemüsehändler in die Geschichte ein. Senhor Fernando fragte nie nach meinen Kindern oder ob wir verheiratet wären. Er schien ganz froh, dass da jemand wird, der schon ist. Ich erzählte ihm oft von unseren Streits, und er sagte, das Drama für die Liebenden komme bestimmt, darüber müssten wir uns jetzt doch noch keine Gedanken machen. Wir sind das Universum, was trennt uns vom Herbst?

Konstantin Arnold, Jahrgang 1990, ist freier ­Autor und lebt in Lissabon. Er schreibt Reportagen für Tageszeitungen und Magazine, um sich freitags gute Oliven und portugiesischen Rotwein leisten zu können. 2020 publizierte er seinen Debütroman »Libertin. Briefe aus Lissabon« (Proof-Verlag).

Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 6./7.8.2022 »Engraxadores«

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