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Aus: Ausgabe vom 20.05.2023, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Friedensordnung oder Weltuntergang

Zwischen Konkreter Utopie und Dystopie: Gedanken zum marxistischen Kulturbegriff
Von Thomas Metscher
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Im Zoo: »Der Homo sapiens stellt sich im Prozess der Kultur als menschliches Wesen erst her«

Der folgende Text ist dem Buch »Sein und Bewusstsein. Ontologische Reflexionen« von Thomas Metscher entnommen, das soeben im Mangroven-Verlag erschienen ist. Es handelt sich um Auszüge aus dem Kapitel »Der Marxismus als Theorie des Gesamtzusammenhangs. Ein Versuch zum Denken von Hans Heinz Holz«. Wir danken Verlag und Autor für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Der Marxismus ist nicht nur das Denken gegebener Wirklichkeit, sondern auch das Denken des Möglichen als Teil dieser Wirklichkeit. Die Welt, die er in Gedanken fasst, enthält als geschichtliche die Zukunft im Sinn historischer Möglichkeit. Gerade weil der Marxismus auf das Ganze einer historischen Welt geht, ist er mit dem Denken des Gegenwärtigen und Vergangenen auch Denken des Zukünftigen: antizipatorisches Denken im Sinn eines Denkens konkreter Utopie. Seine Kernkategorie ist der Begriff einer neuen Kultur. Die Frage nach konkreter Utopie ist zu stellen als Frage nach den Konturen dieser neuen Kultur. Mit dieser Frage geht es um keinen Rückfall in einen utopischen Sozialismus, vielmehr um das Einbringen eines utopischen Moments in das marxistische Denken selbst.

Neue Kultur meint die Kultur einer sozialistischen, in historischer Perspektive kommunistischen Gesellschaft, d. h. einer solchen, die auf gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln aufbaut, in der die große Mehrheit der Menschen, idealiter alle Menschen die bestimmenden Subjekte politischen Handelns sind, deren Geschichte durch kooperative Planung geregelt ist, die juristisch die Form einer universal geltenden materialen Rechtsgesellschaft besitzt (d. h. einer solchen, in der uneingeschränkt Rechtsgleichheit herrscht, die individuellen und kollektiven Menschenrechte universal verwirklicht sind), in der Freiheit, Gleichheit, Solidarität als selbstverständliche Prinzipien menschlicher Vergesellschaftung Existenz haben – eine Gesellschaft, deren »Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.« (MEW 23, S. 16) Eine solche Gesellschaft ist vorstellbar nur als Gesellschaft kultureller Individualitäten, einer Pluralität von Kulturen, deren Verhältnis zueinander durch gegenseitige Achtung und praktische Toleranz geregelt wird. Erst eine solche Gesellschaft wäre die Gesellschaft einer voll entwickelten, im exakten Wortsinn realen Demokratie.¹

Allen Vorurteilen entgegen: Kommunismus meint eine friedliche, solidarische Welt; die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, ökonomisch, sozial, kulturell, die Überwindung also auch des patriarchischen Geschlechterverhältnisses; Befreiung von materieller Not als Bedingung kultureller Bildung; gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums als Voraussetzung für die Reichtumsentfaltung individuellen Lebens; Individualität als Kernkategorie; Erhaltung und Pflege der Natur. Im Begriff einer solchen Kultur haben auch Ideen einer religiösen Ethik, sofern diese den Postulaten von Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz, Bewahrung der Natur verpflichtet sind, ihren Ort. Atheismus ist für eine solche Gesellschaft kein Glaubensprinzip.

Der Begriff dieser Kultur bedeutet nicht, dass diese frei von Konflikten sei. Kein Missverständnis könnte größer sein. Die Idee einer konfliktfreien Gesellschaft ist schlechter Utopismus – ein romantischer Kindertraum, der mit historischer Realität nichts gemein hat. Die existentiellen Grundtatsachen menschlichen Lebens, zu denen Zeugung, Geburt, Liebe und Freude, doch auch Krankheit, Leiden und Tod gehören, sind anthropologisch unaufhebbar. Sie bilden den Grund von Krisen und Konflikten – im gleichen Maß wie sie der Grund für ein geglücktes Leben sind. Diese Konflikte freilich würden in der neuen Kultur auf eine Weise ausgetragen, die von der aller vorhergehenden Gesellschaften grundverschieden ist. Wie jede Form von Gewalt wird auch der Krieg als Mittel der Lösung von Konflikten in dieser Gesellschaft undenkbar sein, da an die Stelle der Gewalt der rationale Konsens tritt. So wenig individuelle Tragödien aus dem menschlichen Leben eliminierbar sind, den Charakter einer historischen Katastrophe werden Tragödien in dieser Gesellschaft nicht mehr besitzen.

Der Begriff einer solchen Kultur ist mehr als das »kühne Traumbild eines neuen Staates« (Schiller, »Don ­Carlos«, IV/219), das der Idealismus als heroische Intellektuellenutopie in seinen besten Bestrebungen konstruierte. Sicher: ein solcher Begriff ist Idee und Ideal, doch ist diese Idee im materiellen Geschichtsprozess verwurzelt. Sie ist reale Möglichkeit im Wirklichen, und sie ist dies kraft einer geschichtlichen Lage, die aus der Entwicklung der Produktivkräfte im neuzeitlichen Kapitalismus resultiert. Erst diese kapitalistische Gesellschaft hat, wie Marx und Engels mit großer Klarheit erkannten, die Bedingungen für die neue Formation geschaffen, die ich hier als ›neue Kultur‹ bezeichne. Erst kraft dieser Bedingungen wurde Möglichkeit, was zuvor allein ein kühnes Traumbild war. Doch hat nicht erst die bürgerliche Gesellschaft dieses Traumbild hervorgebracht. Es geht aus den Tiefen des Geschichtsprozesses hervor, wurde in den Kämpfen und Träumen der Unterdrückten aller Zeiten und Völker geboren (es ist in zahlreichen Dokumenten, meist Werken der Kunst, überliefert). Nicht zuletzt ist der Begriff der neuen Kultur ein Kind der Aufklärung – verstanden als weltgeschichtlich-interkulturelles, nicht exklusiv europäisches Projekt.

Der Marxismus als antizipatorisches Denken ist aber auch das Denken anderer Möglichkeit der menschlichen Geschichte: das Denken der Dystopie. Rosa Luxemburg hat, im Anschluss an Engels, dieser Möglichkeit zu Beginn des Ersten Weltkriegs Worte gegeben. Marxistisches Denken, sagt sie, bewegt sich in der Alternative: Sozialismus oder Barbarei, und Barbarei heißt: die Kontinuität von Kriegen. Am Beginn eines neuen Weltkriegs stehend, klingen diese Worte wie ein Stück eschatologischer Prophetie, als Warnung vor dem drohenden Weltuntergang. Im Kampf gegen diesen und im Kampf für die Friedensordnung einer sozialistischen Welt hat Rosa Luxemburg ihr eigenes Leben gelassen. (…)

Von dieser Einsicht her wächst auch dem marxistischen Kulturbegriff eine besondere Bedeutung zu. Grundlegend für ihn ist, Kultur als menschliches Naturverhältnis zu denken – in allen ihren Formen als vermittelten Zusammenhang mit ihr.

Bereits die ursprüngliche Wortbedeutung des lateinischen »cultura« hält fest, dass es sich bei dem mit dem Wort Bezeichneten um ein Naturverhältnis handelt, das Veränderung, Veredelung, auch Pflege und Bewahrung von Natur einschließt. »Cultura« heißt: Bearbeitung, Anbau, Ackerbau, Anpflanzung, Ausbildung, auch Ehrung und Verehrung, mit einem Bedeutungsfeld, das bis zu Kult und Religion reicht; festgehalten auch in den angeschlossenen metaphorischen Wendungen wie »animi culti«, »cultura animi«, »tempora cultiora«, »cultus literarum« (mit diesen Bedeutungen ist der Kulturbegriff in den europäischen Humanismus eingegangen). An diesem Bedeutungsfeld ist durchaus im Sinne einer Grundorientierung festzuhalten. Es liefert Kriterien für kulturelle Wertung wie kulturelles Handeln. Es erinnert, dass der kulturelle Prozess – die Bildung des homo humanus und seiner Welt – nicht die Konstruktion eines total Neuen und »ganz Anderen« sein kann, sondern die Veränderung, Entwicklung und Formung eines von Natur aus Gegebenen – dass kulturelle Bildung unumkehrbar auf Natur bezogen ist. In Marx’ Formel der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen (Ökonomisch-philosophische Manuskripte) wird dieser Gedanke aufgenommen.

Grundlage des marxistischen Kulturbegriffs (und hier unterscheidet sich dieser von allen anderen Begriffen zur Kultur vor und nach ihm) ist die folgende Auffassung. Der Mensch, wie er als Produkt eines evolutionären Prozesses in die Welt tritt, ist in seinem Wesen unfertig. Was wir »menschliches Wesen« oder »menschliche Natur« nennen, ist zunächst lediglich als Latenz vorhanden: als ein mit dem Naturwesen Mensch gegebenes entwicklungsfähiges Potential: ein Vermögens- und Möglichkeitsfundus, der Bedingung kultureller Bildung – mit ihr der Bildung der menschlichen Natur – ist.² Das bedeutet, der homo sapiens stellt sich im Prozess der Kultur (mit Norbert Elias ließe sich hier auch vom »Prozess der Zivilisation« sprechen) als menschliches Wesen erst her. Er bildet seine als Latenz angelegte menschliche Natur aus, und er tut dies kraft seines gegenständlichen Handelns, als bewusstes Naturwesen; durch die Summe seiner Tätigkeiten, in deren Kern die menschliche Arbeit steht. Er tut dies durch Transformation von Natur: der natürlichen Welt, in der er als dieses mit Bewusstsein ausgestattete Naturwesen handelt, und er tut dies durch die Produktion einer »zweiten Welt« innerhalb der »ersten Welt«, in der er sich vorfindet. Er tut dies durch die Produktion von Kultur als menschlicher Welt.³ In diesem Prozess – es ist logisch gesprochen der Vorgang einer Subjekt-Objekt-Dialektik – bildet er sein »menschliches Wesen« aus. Dieses ist also Resultat, geschichtliches Resultat, und es ist immer offen, nie abgeschlossen, so wenig wie der Geschichtsprozess jemals abgeschlossen ist. Es ist also konkret-historisch, und auch nur historisch zu fassen. Es ist in diesem Sinn »das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Feuerbach-Thesen). Es ist dies, in der Essenz, eine Grundeinsicht, die der frühe Marx seiner kritischen Lektüre der Hegelschen »Phänomenologie« entnahm.

So schafft der Mensch durch Transformation von Natur Kultur als spezifisch menschliche Welt; ein Prozess, der gleichwohl im Rahmen des Natur-Gegebenen verbleibt. Menschliche Welt ist kulturelle Konstitution (Konstitution einer spezifisch menschlichen Welt) innerhalb einer natürlichen Umwelt. So sehr sich menschliche Welt dabei von jedem ursprünglich Gegebenen differenziert, nie vermag sie sich gegründet und dauerhaft jenseits oder außerhalb der natürlichen Wirklichkeit, die ihr Grund ist, einzurichten. Wo sie dies tut oder zu tun versucht, tut sie es zum Preis der Selbstzerstörung; die ökologische Krise der Gegenwart legt ein bedrohliches Zeugnis dafür ab.

Menschliche Geschichte ist also Teil der allgemeinen Naturgeschichte, menschliche Welt ein Sich-Einformen in das umgreifende Naturganze. So verstanden bezeichnet der Kulturbegriff ein je bestimmtes, historisch-gesellschaftlich und individuell unterschiedenes menschliches Naturverhältnis, das Naturverhältnis damit auch einer je bestimmten geschichtlichen Formation. Die Unterscheidung zur Natur kann nie eine andere sein als eine Differenz in der Identität.

Anmerkungen:

  1. 1 Ich greife hier auf den Demokratiebegriff Wolfgang Abendroths zurück (vgl.: P. Römer, Recht und Demokratie bei Wolfgang Abendroth, Marburg 1968).
  2. 2 Für diesen Sachverhalt führe ich den Begriff des energetischen Potentials ein (Th. Metscher, Logos und Wirklichkeit, S. 408 f.).
  3. 3 Die heute mit medialem Aplomb geführte Diskussion über das sogenannte Anthropozän geht auf die geowissenschaftliche Einsicht zurück, dass die menschengemachte Veränderung des Planeten Erde mittlerweile eine Qualität erreicht hat, die von einem »neuen Erdzeitalter« zu sprechen nötigt. Nach einem Vorschlag britischer Geologen soll als Beginn des Anthropozäns – und dies weist auf die Verursachung dieser Veränderungen hin – der Beginn der Industrialisierung festgelegt werden (so Wikipedia). Solche wissenschaftlich-empirischen Befunde passen genau in das hier vorgetragene kulturphilosophische Konzept: Sie illustrieren die These menschlicher Weltkonstitution als Transformation von Natur samt der mit ihr verbundenen geschichtlichen Konsequenzen.

Thomas Metscher war von 1971 bis 1999 Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen. Er hat zahlreiche Schriften zur Geschichte und Theorie der Literatur, zu Ästhetik und Kulturtheorie veröffentlicht. An dieser Stelle schrieb er zuletzt in der Ausgabe vom 12./13.6.2021 einen Nachruf auf Werner Seppmann: »Die Linie ziehen. Ein Humanist des Denkens«.

Thomas Metscher: Sein und Bewusstsein. Ontologische Reflexionen. Mangroven-Verlag, Kassel 2023, 336 Seiten, 25 Euro

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