Nachhilfe durch Tatsachen
Von Arnold Schölzel
Auf Seite eins der Dienstag-FAZ rührt Redakteur Reinhard Veser Abgelagertes auf: »Jene deutsche Russlandpolitik, die der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich noch immer als ›Entspannungspolitik‹ bezeichnet, ist nicht einfach gescheitert: Sie hat den Kreml seit 2014 zur Fortsetzung seiner Aggression gegen die Ukraine ermutigt.« Passendes zum zweiten Satz steuert am Freitag der Potsdamer Historiker Sönke Neitzel im Tagesspiegel bei: »Die Offiziere und Unteroffiziere, die seit 2008 von den Amerikanern oder Briten ausgebildet wurden, sind größtenteils tot oder verwundet.« Veser redet von solcher Ausbildung nicht, Merkel erst neuerdings, der FAZ-Mann wähnt sich daher am Ziel: »Kaum noch jemand in der deutschen Politik glaubt an die Möglichkeit eines Ausgleichs mit dem Putin-Regime.« Frieden wird in der FAZ nicht überschätzt.
Aber in Habecks Ministeriums bekommen »Brandmauern« auf einmal Risse, da knirscht es auch in der FAZ. Auf Seite acht derselben Ausgabe veröffentlicht jedenfalls der Politikwissenschaftler Johannes Varwick einen Anti-Veser: »Der Westen muss Ukraine-Politik korrigieren.« Er schreibt: »Der Westen hatte im Vorfeld des Krieges die deutlich erklärten roten Linien Russlands überschritten und war nicht zu einem nüchternen Interessenausgleich bereit. Kern eines solchen Interessenausgleichs hätte der Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sein müssen, die trotz aller gegenteiligen westlichen Behauptungen von Russland als zunehmend wahrscheinlich wahrgenommen wurde.« Moskau wolle nicht die Ukraine vernichten, sondern das »antirussische Projekt«, mit dem sie verbunden sei. In dieser Unterscheidung liege »der Schlüssel für eine Befriedung«.
Noch ist die erste FAZ-Seite dem Unterscheiden verschlossen, aber Tatsachen helfen eventuell nach. Die drängen sich in dieser Woche dem Spiegel, einem anderen Begeisterungsorgan für Russland-Ruin und Siegfrieden, derart auf, dass die Zeitschrift im Internet am Donnerstag einen länglichen Abgesang unter dem Titel »So verliert Europa in der neuen Weltordnung an Einfluss« anstimmt. Unterzeile: »Der Aufstieg einst armer Länder, ein neuer kalter Krieg – mit Russlands Angriff auf die Ukraine endet die Weltordnung des späten 20. Jahrhunderts. Haben die G7-Staaten eine Antwort darauf?« Antwort dieses »großen Spiegel-Reports«: Nein. Denn die Welt sehe anders aus, »als viele sie in Erinnerung haben«. Zum Beispiel so: In der UN-Generalversammlung stimmten im Juni 2022 zwar 141 für die westliche Resolution gegen Russland, 47 Staaten aber dagegen oder sie enthielten sich. »Dieses Lager der Unentschiedenen« repräsentiere die Hälfte der Weltbevölkerung. Aber das ist des Jammers nicht genug: Von 191 Staaten stehen in der »Sanktionspolitik« nur 52 (15 Prozent der Weltbevölkerung) »klar auf der Seite des Westens, zwölf auf der Russlands.«: »Aber 127 Länder sind keinem der beiden Lager fest zuzuordnen.« Fast alle diese Länder gehörten dem »globalen Süden« an. Der Ausdruck beschreibe, dass »der globale Norden es mit einem weiteren Machtfaktor zu tun hat, so unterschiedlich dessen Interessen auch sein mögen.«
Anders ausgedrückt: Das hätte der Westen wissen können, als er die Ukraine zum »antirussischen Projekt« aufrüstete und in den Krieg führte. Die Überraschung über die neuen »beiden Lager« besagt: Beim Anzetteln von Weltkriegen unterlag der Imperialismus wieder einmal einer Fehlkalkulation. Es ist mehr als symbolisch, dass parallel zum G7-Treffen in Hiroshima in Dschidda die Arabische Liga mit Syrien und im nordchinesischen Xian der China-Zentralasien-Gipfel tagen. Genauer: Die G7 können und die seit Jahrhunderten unten Gehaltenen wollen nicht mehr.
Die Überraschung über die neuen »beiden Lager« besagt: Beim Anzetteln von Weltkriegen unterlag der Imperialismus wieder einmal einer Fehlkalkulation
Onlineaktionsabo
Das Onlineaktionsabo der Tageszeitung junge Welt bietet alle Vorteile der gedruckten Ausgabe zum unschlagbaren Preis von 18 Euro für drei Monate. Das Abo endet automatisch, muss also nicht abbestellt werden. Jetzt Abo abschließen und gleich loslesen!
-
Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Mai 2023 um 15:40 Uhr)Eine sehr zutreffende Schlussfolgerung: »Die G7 können und die seit Jahrhunderten unten Gehaltenen wollen nicht mehr.« Dazu eine geschichtliche Betrachtung: In den vergangenen 400 Jahren wechselten sich alle hundert Jahre immer wieder Herrschenden unter den »Westmächten«: Zuerst waren es das entdeckungsmächtige Portugal und Spanien, dann Großbritannien und schließlich die USA. Alle Weltmächte erreichten durch ihre Privilegien Sonderherrschaft, durch von anderen finanzierten und dadurch langfristig unhaltbaren Wohlstand. Dieser in verschiedener Ideologie eingepackte und imperiale Wohlstand wird aber immer Auffälliger und wirft immer mehr Fragen auf. Dazu kommt noch eine durch den Wohlstand verursachter innergesellschaftlicher, kultureller und moralischer Zerfallsprozess des Herrschenden. Anders ausgedrückt: Eine nicht auf den eigenen Leistungen basierendes hohe privilegiertes Lebensniveau ist nicht für die »Ewigkeit« zu halten. So war es auch in der Antike bei den Griechen und Römer und es ist auch nicht anders jetzt mit den USA. Leider wurden diese Wechselprozesse immer wieder mit begleitenden, kaum vermeidbaren Kriegen ausgetragen. Jetzt ist nach meiner Geschichtsdeutung nach den westlichen Seemächten wieder Eurasien dran, ich schätze die Lage so ein, dass im 21. Jh. China mit seiner kulturellen Tradition und als Wirtschaftsmacht die Führung übernimmt, ähnlich als im 13. Jh. die Mongolen es schon vorgemacht haben. China und die zentralasiatischen Länder entlag der »Neuen Seitenstraße« bauen eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft auf, was eine bestimmende Wirkung über die Region hinaus in die Welt haben wird.
-
Leserbrief von Peter Groß aus Bodenseekreis (20. Mai 2023 um 16:47 Uhr)Fünfzigtausend tote Delfine wären schon ein Grund sich für Frieden in der Ukraine zu engagieren. »Im Schwarzen Meer seien mindestens 50.000 Delfine wegen der Auseinandersetzung verendet«, berichtete Christine Leitner in Stern (18. November 2022). Simone Weisenberger schwärmte in Fokus: »Kaum ein Wassertier begeistert so sehr wie der Delfin. Er ist ein häufiges Motiv der Kunst, in Gemälden und Skulpturen. Die glatten und geschwungenen Linien des Delfins sind ästhetisch und ihre kraftvollen Bewegungen im Wasser können mit einem Tanz verglichen werden (21. März 2023)«. Ohne das Krafttier hätten Esoterikläden und Lebenshelfer drastische Umsatzeinbrüche. Trotzdem ist es totenstill, anstatt dass man kraftvoll auf die Schamanentrommel schlägt. Auch um sonstige Krafttiere muss man sich Sorgen machen. Auf Unmengen ukrainischer Hektar Wald fallen brennende Vögel vom Himmel, Bambis und Füchse verenden an verseuchten Quellen oder werden von Scharfschützen zur Komplettierung ihrer Mahlzeiten erschossen. Zum Tierleid in Wald, Feld und Flur schweigen Esoteriker und Tierschützer. Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert. Für eine friedliche Zukunft braucht es den Dialog der Ortsansässigen in den europäischen Regionen. Ohne Könige, Zentralregierung, NATO oder sonstige Kraftmeierei. Die EU ist gescheitert, weil der Monatslohn in Moldawien, bei gleichen Lebenshaltungskosten wie in Radolfzell, bei 100 Euro liegt. Haben Polen Verständnis, wenn Deutschlands Bundeswehrangehörige 100 Euro als Tagessatz, zusätzlich zum Monatseinkommen, erhalten? Krieg kennt nur Verlierer. Ob das Delfine, Mieter in verrottenden Wohnungen, Schüler in maroden Schulen oder Hunderttausende Flüchtlinge in Zelten sind. Alles dient dem Zweck, dass Amerika möglichst nah an die russische Grenze vorrückt und größtmögliche Profite zum Nachteil einer freien, sozialen Marktwirtschaft in der EU abgreifen kann. Amerika liest man, ist insolvent und kann seine Kreditwürdigkeit nur durch militärische Raubzüge aufrechterhalten.
Ähnliche:
- Androniki Christodoulou/REUTERS20.05.2023
Es rappelt im Karton
- Markus Schreiber/AP Photo/dpa18.01.2023
Gipfel schmilzt ab
- Wolfgang Kumm/dpa01.12.2022
Tribunal gegen Russland
Mehr aus: Wochenendbeilage
-
»Der Kampf für Holzmedien ist Kern unserer Arbeit«
vom 20.05.2023 -
Angst vor der geringsten Volksbewegung
vom 20.05.2023 -
Kaderschmiede in der Altstadt
vom 20.05.2023 -
Friedensordnung oder Weltuntergang
vom 20.05.2023 -
Gemüsezwiebeln mit Knoblauchscampi
vom 20.05.2023 -
Kreuzworträtsel
vom 20.05.2023