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Aus: Ausgabe vom 20.05.2023, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Angst vor der geringsten Volksbewegung

Friedrich Engels blickte 1852 im Londoner Exil auf die Deutsche Nationalversammlung zurück, die 1848 und 1849 in Frankfurt am Main getagt hatte
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Eine Sitzung der deutschen Nationalversammlung, Frankfurt am Main, 1848. Aus The Illustrated London News (London, 7.10.1848)

Da Österreich und Preußen die beiden führenden deutschen Staaten waren, wäre jeder entscheidende revolutionäre Sieg in Wien oder Berlin für ganz Deutschland von entscheidender Bedeutung gewesen. Und soweit die Ereignisse des März 1848 in diesen beiden Städten gediehen, waren sie für den Verlauf der Dinge in ganz Deutschland entscheidend. Man brauchte daher auf die Vorgänge, die sich in den kleineren Staaten abspielten, gar nicht einzugehen, und wir könnten uns sehr wohl ausschließlich auf die Betrachtung der österreichischen und preußischen Angelegenheiten beschränken, wenn das Vorhandensein dieser kleineren Staaten nicht der Anlass zur Bildung einer Körperschaft gewesen wäre, die durch die bloße Tatsache ihres Bestehens der schlagendste Beweis für die anomale Lage in Deutschland und für die Unvollständigkeit der jüngsten Revolution war – einer Körperschaft, so abnorm, so lächerlich schon durch die Stellung, die sie einnahm, und dabei so erfüllt von ihrer eigenen Wichtigkeit, dass die Geschichte höchstwahrscheinlich nie ein Gegenstück dazu liefern wird. Diese Körperschaft war die sogenannte Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main.

Nach den Siegen des Volkes in Wien und Berlin verstand es sich von selbst, dass eine Repräsentativversammlung für ganz Deutschland zusammentreten müsse. Diese Körperschaft wurde also gewählt und trat in Frankfurt neben dem alten Bundestag zusammen. Von der Deutschen Nationalversammlung erwartete das Volk, sie werde alle strittigen Fragen lösen und als höchste gesetzgebende Gewalt des ganzen Deutschen Bundes tätig sein. Dabei hatte aber der Bundestag, der sie einberufen, ihre Befugnisse in keiner Weise festgelegt. Niemand wusste, ob ihre Beschlüsse Gesetzeskraft haben oder der Bestätigung durch den Bundestag und die einzelnen Regierungen unterliegen sollten. In dieser verworrenen Lage hätte die Versammlung, wenn sie auch nur einen Funken von Energie besessen, den Bundestag – die bei weitem unpopulärste Körperschaft in Deutschland – ohne weiteres auflösen, nach Hause schicken und durch eine aus ihrer eigenen Mitte gewählten Bundesregierung ersetzen müssen. Sie hätte sich zum einzig gesetzlichen Ausdruck des souveränen Willens des deutschen Volkes erklären und damit jedem ihrer Beschlüsse Gesetzeskraft verleihen müssen. Sie hätte sich vor allem eine organisierte bewaffnete Macht im Lande verschaffen müssen, stark genug, um jeden Widerstand seitens der Regierungen zu brechen. Und das alles war leicht, sehr leicht in jenem Anfangsstadium der Revolution. Aber das hieß viel zu viel erwarten von einer Versammlung, die sich in ihrer Mehrheit aus liberalen Advokaten und doktrinären Professoren zusammensetzte, einer Versammlung, die zwar den Anspruch erhob, die Blüte des deutschen Geistes und deutscher Wissenschaft zu verkörpern, die aber in Wirklichkeit nichts anderes war als die Bühne, auf der alte, längst überlebte politische Figuren ihre unfreiwillige Lächerlichkeit und ihre Impotenz im Denken wie im Handeln vor den Augen ganz Deutschlands zur Schau stellten. Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen.

Sie hielt ihre Beratungen unter den Augen des Bundestages ab, ja, sie bettelte förmlich um die Bestätigung ihrer Beschlüsse durch den Bundestag, denn ihre ersten Beschlüsse mussten durch diese verhasste Körperschaft verkündet werden. Statt ihre eigene Souveränität zu behaupten, ging sie der Erörterung derart gefährlicher Fragen geflissentlich aus dem Wege. Statt sich mit einer Volkswehr zu umgeben, ging sie über alle gewalttätigen Übergriffe der Regierungen hinweg zur Tagesordnung über. (…) So erlebten wir das seltsame Schauspiel einer Versammlung, die den Anspruch erhob, die einzig gesetzliche Vertretung einer großen souveränen Nation zu sein, die aber gleichwohl nie den Willen oder die Kraft besaß, die Anerkennung ihrer Ansprüche zu erzwingen. Die Debatten dieser Körperschaft blieben ohne das geringste praktische Ergebnis; sie waren nicht einmal von theoretischem Wert, da sie nur die abgedroschensten Gemeinplätze veralteter philosophischer und juristischer Schulen wiederkäuten; es gab keinen Satz, der in dieser Versammlung gesprochen oder vielmehr hergestammelt wurde, der nicht unendlich oft und tausendmal besser längst gedruckt gewesen.

So beließ die vorgeblich neue deutsche Zentralgewalt alles beim alten. Weit davon entfernt, die lang ersehnte deutsche Einheit herbeizuführen, entthronte sie nicht einmal die allerunbedeutendsten Fürsten, die Deutschland beherrschten; sie unternahm nichts, um ein festeres einigendes Band zwischen den einzelnen Ländern zu knüpfen (…).

Friedrich Engels: Die Frankfurter Nationalversammlung. In: New-York Daily Tribune, 27. Februar 1852. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 8. Dietz-Verlag, Berlin 1975, Seiten 44–48

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