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Aus: Ausgabe vom 20.05.2023, Seite 12 / Thema
Ukraine

»Der Ruf des Blutes«

Bandera, Himmlers Waffen-SS, Ernst Jünger und die US-Kulturindustrie. Die ideologischen Inspiratoren der faschistischen Krieger der Ukraine
Von Susann Witt-Stahl
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»Unsere Ehre heißt Treue zur Ukraine«, 1. Ukrainische Division »Galizien« – Aktualisierung eines Plakats der deutschen Waffen-SS

Mit der Schlacht um Asowstal in Mariupol sind die Kämpfer der faschistischen Einheiten Kiews in den Heldenolymp der ukrainischen Propaganda aufgestiegen. Das gilt vor allem für das »Asow«-Regiment der Nationalgarde, das zusammen mit der 36. Marineinfanteriebrigade den Kern der Truppen bildete, die sich Mitte April 2022 in die Bunker des Hüttenwerks zurückgezogen hatten und rund eine Woche später von russischen Kräften eingekesselt wurden. Schon vor der Kapitulation, die »Asow«-Kommandeur Denis Prokopenko am 20. Mai bekannt geben musste, wurden in den ukrainischen Medien schwülstige Oden angestimmt: »Im Asow-Regiment gibt es eine ideologische Grundlage. Es wurde zur Basis, zum Herzen jener Titanen, die Mariupol verteidigen und die ganze Ukraine auf ihren Schultern tragen«, sagte der Vorsitzende des Soldatenverbands »Kämpfende Bruderschaft der Ukraine«, Pawlo Schebriwski. »Die 83 Tage der Verteidigung von Mariupol werden als Thermopylen des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen«, verkündete Michailo Podoljak, Berater des Präsidialamtsleiters, rund 79 Jahre, nachdem Hermann Göring einen Tag vor Ende der Schlacht einen ähnlichen Bezug zu Stalingrad hergestellt hatte. Göring hatte mit seinem Vergleich den kollektiven Opfertod der Soldaten der 6. Armee der Deutschen Wehrmacht beschworen, in den Leonidas mit seinen Spartiaten 480 v. u. Z. gegangen sein soll, indem sie sich einem übermächtigen asiatischen Heer entgegenstellten und bis zum letzten Blutstropfen kämpften.

Die Mythologisierung von Militärangehörigen zu götterähnlichen Wesen und Inszenierung als Sagengestalten mit »Herzen aus Stahl«, wie der »Asow« huldigende Eurovision-Song-Contest-Beitrag der Ukraine 2023 heißt, sind seit jeher fester Bestandteil faschistischer Ideologien. »Um den Rückschritt mit der Gloriole des Aufschwungs zu umgeben, wird selbstverständlich die Vorzeit vergoldet«, notierte Siegfried Kracauer Ende der 1930er Jahre und erinnerte daran, dass die Ästhetik des Faschismus ein »Parasit der Romantik« ist.

»Aus den Flammen der Geschosse«

Die in den Streitkräften der Ukraine hochgehaltenen Ideale des Soldaten und des Krieges sind heute vorwiegend von den militanten Nationalisten geprägt, die in den 1930er und 1940er Jahren mit Hitlerdeutschland kollaboriert und sich auch am Holocaust beteiligt hatten. »Der Sieg wird vor allem dank Bandera und Schuchewitsch möglich sein, die die Ukrainer jetzt ermutigen, das zu tun, was sie taten – sich nicht ergeben und die Invasoren vernichten«, würdigte Wolodimir Wjatrowitsch Ende April 2023 die Bedeutung des Anführers des radikalen Flügels der 1929 gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und des Kommandeurs ihres bewaffneten Arms, »Ukrainische Aufständische Armee« (UPA), der bis 1943 das ukrainische Freiwilligenbataillon der Deutschen Wehrmacht »Nachtigall« befehligt hatte, für den gegenwärtigen Krieg gegen Russland. Wjatrowitsch ist – nicht zuletzt wegen Weißwaschung der Geschichte der ukrainischen Waffen-SS-Division »Galizien« – ein international äußerst umstrittener Historiker. Er war früher an der Harvard-Universität tätig, von 2014 bis 2019 Direktor des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung in Kiew und gilt als einer der wichtigsten Architekten der revisionistischen Vergangenheitspolitik seines Landes.

»Wir wurden in einer großen Stunde geboren, aus den Feuern des Krieges und den Flammen der Geschosse«, beschreiben die ersten Zeilen der offiziellen Hymne der OUN formative Erlebnisse, die die ukrainischen mit den deutschen Nationalisten verbanden: Die Kerntruppen der SA, später Waffen-SS, brachten nicht nur Kampferfahrungen, sondern auch Verrohung aus dem Ersten Weltkrieg sowie einen in den protofaschistischen Freikorps eingeübten fanatischen Hass auf den Kommunismus mit. Ähnlich waren viele Kämpfer der OUN Veteranen der kriegerischen Auseinandersetzungen von 1917 bis 1920 um die Errichtung eines ukrainischen Staates mit dem Hauptfeind, dem »moskowitischen Imperialismus« und den Juden als »treuester Stütze« seines »bolschewistischen Regimes«, wie der Bandera-Flügel 1941 auf seinem Zweiten Generalkongress erklärte. Die ukrainischen Nationalisten wurden früh vom deutschen Militarismus und Faschismus beeinflusst: Schon 1923 wurden Kämpfer der »Ukrainischen Militärischen Organisation« (UWO), einer Vorgängerorganisation der OUN, in München heimlich von der Reichswehr ausgebildet und ab 1933 unter anderem auf Betreiben von Admiral Wilhelm Canaris gefördert. Später waren einige ihrer Köpfe für den Geheimdienst der Wehrmacht und die Gestapo tätig.

Die mittlerweile in der Ukraine wieder überaus mächtigen Nationalisten und faschistischen Milizen waren nicht nur treibende Kräfte der im Frühjahr 2014 gestarteten »Antiterroroperation« (ATO) gegen die prorussische Bevölkerung im Osten, die den Aufstand gegen die Maidan-Putschregierung gewagt hatte. Sie sind längst auch Ausgeburten des Krieges, mit all den irrationalen, idealistischen und archaischen Momenten, die Kracauer mit Verweis auf eine Feststellung von Hitlers ehemaligem Reichsorganisationsleiter hervorgehoben hatte: »Der Krieg war es«, sagte Gregor Strasser 1929, »der in den glühenden Jahren die erstarrte Kruste materialistischen Denkens zum Schmelzen brachte und die Umwandlung aller Werte der Ratio erzwang.«

»Ukrainisch-arische Werte«

Niemand kann den vom Faschismus fetischisierten »Willen zur Macht« als Grundimpuls des Lebens und seine »Idee der Nation« besser verkörpern als feuergetaufte Krieger. Denn vergossenes Blut hat sie zur Gemeinschaft geschmiedet, und sie haben blutige Gewalt ausgeübt. »Eine gesunde Nation muss mit einem Gefühl des freudigen Fatalismus für alles kämpfen, was ihr der Ruf des Blutes ins Ohr flüstert und wohin ihr historisches Schicksal führt«, heißt es in der 1940 von dem OUN-Oberst Michailo Kolodsynskyj verfassten und heute von »Asow« wieder aufgegriffenen »Militärdoktrin der Ukrainischen Nationalisten«. »Ihr müsst kämpfen oder ihr werdet sterben.«

Im Programm des 1996 gegründeten »Patriot der Ukraine«, einer paramilitärischen Kernorganisation des »Rechten Sektors«, das von seinem damaligen Vorsitzenden Andrij Bilezkij verfasst wurde, finden sich wesentliche Elemente der Kriegsideologie, die die Kämpfer von »Asow« als pars pro toto der von der NATO bis an die Zähne bewaffneten faschistischen Militärs in der Ukraine heute zur Weißglut gegen alles Russische bringt und der Erfüllung einer Mission dient: »der Erschaffung eines dritten Reichs – der Großukraine«. Das »Superstaatsimperium« werde mit einem »letzten Kreuzzug gegen das semitisch geführte Untermenschentum« erstritten, so Bilezkij, der heute Führer der »Asow«-Bewegung ist und in dessen frühen Publikationen sich Anleihen aus Heinrich Himmlers Reden finden. Das sei aber nur durch die Rückbesinnung auf die »alten ukrainisch-arischen Werte« – »Die Ukrainer sind ein Teil (und zwar einer der größten und hochwertigsten) der europäischen weißen Rasse« – und die Zerschlagung der Demokratie möglich. Denn diese habe dazu geführt, dass ein »heruntergekommener Drogensüchtiger oder ein Päderast bei Wahlen genausoviel wert ist wie ein Panzerdivisionskommandeur«. Nur durch die Entmachtung der »grauen Masse« und »die natürliche Auswahl der besten Vertreter der Nation« kann sich nach der Vorstellung Bilezkijs wieder eine Elite fanatischer Krieger herausbilden, die den »endgültigen Sieg der europäischen Zivilisation im Weltkampf« erringen wird.

Faszination SS

Bilezkij präsentierte ein Abziehbild des »nationalsozialistischen Übermenschen«, der Charakterzüge von Nietzsches »Rudel blonder Raubtiere, einer Eroberer- und Herrenrasse, welche kriegerisch organisiert« ist, trägt, und wie ihn der Grafiker und SS-Propagandakompanie-Sonderführer Ernst Ludwig Kretschmann, der 1942 auf der Krim gefallen ist, Anfang der 1940er Jahre dargestellt hatte. Für das ukrainische Nazimilitär und seine Rekrutierungskampagnen werden diese Herrenrasse-Krieger-Bilder heute neu interpretiert. Zum Beispiel produziert das Designerbüro »Hetmans Pinsel« Werbemittel für »Asow«, die auf Wehrmachts- und SS-Propagandamaterial aus dem Zweiten Weltkrieg basieren. So wurde etwa Ludwig Hohlweins berühmtes »Luftschutz!«-Motiv adaptiert, ebenso der sowjetische »Untermensch« für die Entfaltung antirussischer Horrorklischees wiederbelebt. Das alte »Nederlanders«-SS-Plakat, das einen »Übermenschen«-Krieger über einem mit Panzern und Fliegerunterstützung vorrückenden Kampfverband zeigt, wurde für die Visualisierung des Wunschtraums der Wiederauferstehung der SS-Division »Galizien« als Eliteeinheit der Kiewer Streitkräfte mit der Losung »Unsere Ehre ist unsere Treue zur Ukraine« aktualisiert. »Die Geister der Soldaten der 14. Division schauen uns heute aus ihrem Tempel des Lichts an, der Ruhestätte aller Kämpfer gegen den roten Moloch des letzten Jahrhunderts«, heißt es auf dem »Hetmans Pinsel«-Telegram-Kanal über die »Galizier«.

Unter den ukrainischen Kämpfern, die in der Tradition der OUN stehen, ist die Faszination für die Waffen-SS groß. Viele tragen die Symbole und teilen – wie ihre Vorfahren damals – mit den Angehörigen der SS die Bereitschaft zur Grausamkeit und Skrupellosigkeit: »Du sollst nicht zögern, das allergrößte Verbrechen zu begehen, wenn die Sache dies verlangt«, lautet das siebte Gebot und »Begegne den Feinden deiner Nation mit Hass und rücksichtslosem Kampf« das achte Gebot in der Originalfassung des »OUN-Dekalogs«, der heute in den »Asow«-Verbänden, die inzwischen auf zwei Brigaden angewachsen sind, wieder verbreitet wird.

Die SS sei »die ideale Verkörperung« des Drangs, »totale Macht über andere zu haben, sie als absolut minderwertig zu behandeln«, bemerkte Susan Sontag 1974 in ihrem Essay über »faschistische Sehnsüchte«, in dem sie herausstellte, dass diese in der Mitte der westlichen bürgerlichen Gesellschaft eingelagert sind. Die SS habe ihren Herrschaftsanspruch in einer »einzigartig brutalen und effizienten Weise« ausgelebt und ihn gleichzeitig zu inszenieren verstanden, »indem sie sich an bestimmte ästhetische Normen gebunden« habe. Mit ihren »stilvoll, gut geschnittenen« Uniformen, die »einen Hauch (aber nicht zu viel) von Exzentrik« hatten, »war sie als eine militärische Elitegemeinschaft konzipiert, die nicht nur äußerst gewalttätig, sondern auch äußerst schön sein sollte«.

Der soldatische »Übermensch« kommt heute in der ukrainischen Armee zu höchsten Ehren. Der nazistische Kriegerorden »Centuria«, der sich 2018 an der Nationalen Armeeakademie von Hetman Petro Sagaidatschnyj, der bedeutendsten militärischen Bildungseinrichtung der Ukraine, formiert hat, feiert ihn als Kind einer »zweiten Geburt«: vom »Anhänger einer Idee« zum »höheren Zustand« des »Kämpfers für Ideale«. Dieser »Übermensch« soll »die Identität der Völker Europas vor inneren und äußeren Bedrohungen schützen«. Und so erinnerte »Centuria« die ukrainischen Soldaten am 8. Mai 2023, zum 78. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, an den »unsterblichen herrschenden Willen der ukrainischen Nation«, der die Vorfahren in den Kampf »gegen die Horden« an »die Mauern von Tsargrad (Konstantinopel, S. W. S.), über das Kaspische Meer und die Weichsel führte«, und befahl: »Hört und glaubt, siegt und erobert!«

NATO-Musterkadett

Die Ideologen der ukrainischen Rassekämpfer haben auch verstanden, dass die ersehnte vernichtende Niederlage und Unterwerfung »Asiens«, wie sie Russland heute wieder nennen, nur im Bunde mit den USA herbeigeführt werden kann: »Im Grunde genommen sind die Amerikaner jedoch sowohl vom Blut als auch von der politischen Kultur her Europäer, wie wir anderen auch«, wird der Pakt mit dem einst verhassten liberalen Westen trotz dessen »LGBTQ-Propaganda« vom »Avantgarde Kulturbund«, einer autonomen Nazikriegergruppe, zweckrationalisiert.

Die Mannschaften der faschistischen Kampfverbände in der Ukraine rekrutieren sich erheblich aus dem Nazihooligan- und kriminellen Bandenmilieu. Um eines Tages als Musterkadett der NATO auf den Paradeplätzen des Westens und dem politischen Parkett in Washington, Brüssel und Berlin öffentlich vorzeigbar zu sein, müssen sie perspektivisch ihre SA-Gossenmanieren und Dirlewanger-Radaurhetorik hinter sich lassen. Einige »Asow«-Einheiten haben die Schwarze Sonne, die Wolfsangel und andere vergangenheitspolitisch schwer belastete Symbole bereits aus ihren Insignien verschwinden lassen oder abstrahiert. Weitere Entnazifizierungen dürften folgen – nur des aufs »Dritte Reich« verweisenden Erscheinungsbilds, nicht jedoch der Weltanschauung, erst recht nicht der von den westlichen Partnern schweigend genossenen Kriegführung.

Tödliche Befruchtung

Die rasant wachsende Macht – und damit auch der zunehmende Anspruch auf Prestige und Anerkennung von »ganz oben« aus dem Pentagon – der Faschisten als Staat im Staat nährt ihren Wunsch, eine Kriegeraristokratie zu schaffen. Diese repräsentiert niemand eindrucksvoller als der Literat der vornehmen deutschen Reaktion und Gentleman-Faschist Ernst Jünger. Dessen Schriften bildeten mit seinen dandyesken Betrachtungen des Krieges und der Ästhetisierung des Grauens (wie sie seinerzeit der italienische Futurismus predigte) eine Antithese zu denen Erich-Maria Remarques: »Bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand«, notierte Jünger 1944 über einen Luftangriff auf Paris. »Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird« – nicht zufällig eine der meistzitierten Passagen aus seinem umfangreichen Werk. Bei der Auslese für Jüngers Blutadel zählt biologische Abstammung nichts, bedingungslose Opferbereitschaft alles. Und bei Jünger finden sich auch die palingenetische Vorstellung des »Aufstiegs einer neuen Ära« des Abendlands aus den Schlachtentrümmern und das Ideal vom Herrenvolk als »Schützengrabengemeinschaft«. Diese kann Frieden bestenfalls als »Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln« dulden, wie Kracauer ein Merkmal faschistischer Zukunftsentwürfe beschrieb.

»Der Krieg drückt nicht irgendeinen Teil des Lebens aus, sondern das ganze Leben in seiner Gesamtheit«, so Jünger über »die nationalistische Revolution«. Ansprechend für rechte Militärs in der Ukraine ist auch, dass er den Soldaten schon in dem Essay »Der Arbeiter« von 1932 als Prototyp des »Übermenschen« betrachtete, der heute häufig in der Gestalt eines Mischwesens aus muskelgestähltem Superorganismus und Kriegsroboter erscheint. Sowohl die ukrainischen Kämpfer, die an den schweren Gefechten um den Flughafen von Donezk teilnahmen, als auch die Verteidiger von Asowstal wurden in den Medien als »Cyborgs« verehrt. Wie Jünger damals umtreibt auch die faschistischen Militaristen heute ein tiefes Bedürfnis, die Verdinglichung des Soldaten im industrialisierten Krieg zu verdrängen: Sie wollen mit der Glorifizierung des Kombattanten als edlem Ritter wie als Hightech-Operator und der Schlacht als pulsierendem Blutritual wie auch als Playoff von Killermaschinen eine Brücke zwischen Streitaxt und »Himars«, der archaischen und der hochmodernen Welt des Krieges schlagen – und mit dem durch Ästhetisierung der Metzelei nachgeahmten Moment des Dionysischen, das die beiden Sphären verbindet, den Schrecken des gar nicht mehr heroischen Tötens und Sterbens ideologisch verbrämen.

Er sei eine historische Figur, die »durch die harten, blutigen, aber großartigen Kriegserfahrungen das Ewige, das Übermenschliche berührt« habe, würdigte Bilezkij Ernst Jünger, der im Ersten Weltkrieg – laut Karlheinz Bohrer der »Urknall der Moderne« – als Leutnant und Stoßtruppführer 14 Mal verwundet worden war und 1918 für seine Tapferkeit mit dem Orden Pour le Mérite die höchste militärische Auszeichnung des Königreichs Preußen erhalten hatte. Wie Jünger als Schriftsteller einer ganzen Kriegsgeneration hätten auch die ukrainischen Soldaten, die seit 2014 Fronterfahrung gesammelt haben, ein »phantastisches kreatives Potential«, meint Bilezkij. Diese Generation müsse eine »neue Kultur« schaffen. »Kultur ist der Geist, und ohne den Geist ist alles tot.«

Kriegskulturoffensive

Nach diesem Verständnis ist der Krieg das »höchste Fest der Kultur« und jeder, der »Uniform und Tod nicht liebt, ein Barbar«, wie Klaus Theweleit in seiner »Psychoanalyse des weißen Terrors« schrieb. Und so werden im Kosakenhaus in Kiew, das als Zentrum der Kriegskulturoffensive der Asowschen Eliten gilt, ideologische Indoktrination, soldatische Erziehung und körperliche Wehrertüchtigung miteinander verbunden. In dem vierstöckigen Gebäude in der Nähe des Maidan gibt es Vorträge, Ausstellungen, Filmvorführungen und Martial-Art-Kurse. Im Erdgeschoss findet sich der Merchandise-Shop »Militant Zone«, in dem Besucher modische Militärkleidung und -devotionalien erwerben können. Das Gebäude ist auch Anlaufstelle für Rekruten aus dem Ausland – laut einer Time-Reportage sollen in den sechs Jahren bis 2021 rund 17.000 Neofaschisten aus 50 Ländern eine militärische Ausbildung in der Ukraine erhalten haben.

Das Kosakenhaus war auch eine Wirkungsstätte von Mykola Krawtschenko, des als intellektueller Vordenker und Führer von »Asow« verehrten Historikers und Mitgründers des »Rechten Sektors«. Krawtschenko, der im März 2022 bei einem russischen Raketenangriff ums Leben kam, hatte seit 2015 mit seinem Verlag »Orientyr« (Landmarke) Kriegsberichte von ATO-Kämpfern und historische Theorietexte von radikalen Nationalisten herausgebracht. Darunter das erstmals 1935 erschienene Buch »Natiokratie« des ehemaligen OUN-Führers Mykola Sziborskyj, der für einen elitären Faschismus mit Affinität zu Ästhetik, Technik, Kampfkultur und Kriegskunst eintrat.

2018 haben rechte Studenten und Kriegsveteranen im Kosakenhaus den Literaturklub »Plomin« (Flamme) eingerichtet. Er unterhält eine eigene Bibliothek mit Werken »aus der Welt der hellenischen Helden und mit den Abenteuern der letzten Ritter der Neuzeit«, natürlich auch von Ernst Jünger, und hat einen eigenen Verlag: 2019 hat er eine ukrainische Übersetzung des Westfront-Tagebuchs aus dem Ersten Weltkrieg »Feuer und Blut« von Jünger und 2020 von seiner Textsammlung »Das abenteuerliche Herz« veröffentlicht. Produkte aus dem Hause »Plomin« haben längst einen festen Platz in den Bibliotheken der ukrainischen Streitkräfte. 2020 bewarb deren Operatives Kommando »Ost« sogar einige Bücher des Verlags, unter anderem von dem französischen Algerienkriegsveteranen und Rechtsterroristen Dominique Venner.

Das Kosakenhaus ist eine Denkfabrik für den Plan von »Asow«, eine »paneuropäische Allianz« rechter Gruppen zu bilden – mit dem Ziel, auf dem ganzen Kontinent die Macht zu übernehmen, wie die »Plomin«-Chefin und Sekretärin der Bewegung für internationale Beziehungen, Olena Semenyaka, Time anvertraute. Semenyaka, die betont, dass Deutschland ihre »spirituelle Heimat« ist, bekam 2020 vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen ein Stipendium für die Forschung zu Ernst Jüngers Werk (nachdem Fotos aufgetaucht waren, die sie mit Hakenkreuzfahne und beim Hitlergruß zeigen, wurde es ihr wieder entzogen).

Unter den ukrainischen Kämpfern und Kriegsideologen herrscht ein regelrechter Hype um Jünger. Frontreporter berichten, dass sein Kultbuch »In Stahlgewittern«, das 1920 erschienen war, zur Standard-Schützengrabenlektüre gehöre. »Avantgarde Kulturbund« veröffentlichte Anfang des Jahres die Literaturverfilmung des Essays »Ernst Jünger und der Geist an der Front als permanente Realität« von dem italienischen Historiker Adriano Romualdi – einem Freund von Julius Evola –, der für den Aufbau neuer rechter Eliten geworben hatte. »Jeden Tag spüren wir in unserem neuen Bewusstsein«, heißt es im Begleittext, »dass wir eine neue Generation sind, die durch die Feuer und Erschütterungen des größten Krieges der Geschichte verändert und gestärkt wurde.«

Der US-Ideologieapparat

Jurij Michaltschyschyn, einst Cheftheoretiker der faschistischen Swoboda-Partei, heute »Asow«-Offizier, meint, dass für den Aufstieg des ukrainischen Nationalismus von einer antirussischen Gegen- zur Leitkultur mehr getan werden müsse. Der Herausgeber des »Handbuchs zur Unterrichtung des Sozial-Nationalismus« mit Texten der NSDAP, von Alfred Rosenberg und anderen Propagandisten des historischen Nazismus, der 2005 auf seiner inzwischen gelöschten Internetseite »Nachtigall88« das Projekt »Zentrum für politische Studien Joseph Goebbels« gegründet und es später in »Zentrum für politische Studien Ernst Jünger« umbenannt hatte, wünscht sich für die Entwicklung einer modernen ukrainischen Frontliteratur mehr Orientierung an der westlichen Kulturindustrie.

Als Vorbild nennt er J. R. R. Tolkien, der ebenso wie Ernst Jünger bei der Schlacht an der Somme 1916 »durch den Fleischwolf gedreht« worden war: Tolkien habe »die alten Heldenepen wiederbelebt«, das »Spektrum der heroischen Archetypen« aktualisiert und dafür gesorgt, dass sie heute zur »militärischen Identität« gehörten, meint Michaltschyschyn. Als erfahrener Kriegspropagandist weiß er: Von der Bewusstseinsindustrie der NATO unter der Führung der USA lernen, heißt für die ukrainischen Faschisten siegen lernen. Der »amerikanische Ideologieapparat« sei eine große Inspiration, sagt Michaltschyschyn. Die USA hätten in Vietnam zwar Schlachten verloren, aber mit Filmen wie »Rambo« den Krieg nachträglich gewonnen, indem sie das »Heldentum der Amerikaner« gezeigt und erfolgreich verhindert hätten, dass künftige Generationen für den Frieden marschieren.

Susann Witt-Stahl schrieb an dieser Stelle zuletzt am 17. März 2023 über den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij und das Verhältnis von dessen Partei Diener des Volkes zu den faschistischen Kräften.

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  • Leserbrief von Doris Prato (22. Mai 2023 um 12:21 Uhr)
    Im November 2022 wurden durch Medienberichte Verbindungen italienischer Faschisten in Kampanien (Süditalien) zu ukrainischen Nazis des »Asow«-Regiments bekannt. In einer »Anti-Terror-Operation« hatte die Abteilung für allgemeine Ermittlungen und Sonderoperationen der Carabinieri (DIGOS) zwischen Neapel, Caserta und Avellino eine Gruppe von Nazifanatikern, die laut Ermittlungen der Justiz »Anschläge in unserem Land planten«, verhaftet. Insgesamt wurden von Facebook-Profilen und anderen von den Beteiligten verwendeten Social-Media-Accounts über 30 Durchsuchungen in rechtsextremen Kreisen durchgeführt. Es wurde bekannt, dass unter Leitung eines Ausbilders des ukrainischen Nazi-Bataillons »Asow«, Anton Radomski, u. a. ein Überfall auf die Carabinieri-Kaserne in Marigliano bei Neapel geplant war und in Italien ansässige ukrainische Neonazis einen »Anschlag« auf das Einkaufszentrum »Volcano Buono« in Neapel durchführen wollten. Besagter Radomski war identifiziert worden, aber derzeit nicht auffindbar, da er wohl »an die Kriegsfront in der Ukraine« zurückgekehrt ist. Die Ermittlungen erbrachten – so die Staatsanwaltschaft – dass ein ukrainischer Staatsbürger verwickelt war. Unter den Verhafteten befanden sich vier Gründer nazistischer Vereinigungen wie einer »Ordine di Hagal«, die »Sympathisanten ukrainischer neofaschistischer Organisationen« waren. Diese Vereinigung hatte sich auch an der No-Vax-Propaganda beteiligt, die während der Wahlkampagne von den faschistischen Fratelli Italien (FdI) der heutigen Ministerpräsidentin Georgia Melonis und der Lega Matteo Salvinis unterstützt wurden, berichtete das Online–Portal des »Magazin Contropiano« am 16. November 2022. Das investigative »The Grayzone«- Magazin berichtete, dass Mitglieder des Hagal-Ordens »direkte und häufige« Kontakte über Telegram nicht nur mit dem »Asow«-Regiment, sondern auch mit den neonazistischen ukrainischen Militärformationen »Right Sector« und »Centuria« unterhielten, was »wahrscheinlich im Hinblick auf eine mögliche Rekrutierung in deren Kampfgruppen« geschehen sei. Zu den Verhafteten gehörte der Gründer der Ordine di Hagal, Maurizio Ammendola, der Vizepräsident und Manager der Vereinigung war, und ein Giampiero Testa aus Marigliano, dem Standort der Kaserne, die überfallen werden sollte. Er wollte, wie er bekannte, in der Kaserne »ein Massaker wie das in Neuseeland« begehen. In Christchurch wurden 2019 51 Menschen in einer Moschee durch einen Rechtsterroristen ermordet.
    Die Untersuchungen ergaben, dass die Verdächtigen die »weiße Macht«, den »Hass gegen Einwanderer, und alles, was typisch für die rassistische Rechte ist«, verfolgten. Sie identifizierten sich mit der »vorbehaltlosen Unterstützung« der Ukraine durch die Regierung, der Finanzierung und Waffen, was zum Faktor einer gewaltsamen Radikalisierung des Neofaschismus in diesem Land führte, so »Contropiano«.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Josie M. aus 38448 Wolfsburg (21. Mai 2023 um 11:25 Uhr)
    Vielen Dank an Susann Witt-Stahl auch für diesen ausführlichen Artikel über den Faschismus in der Ukraine, der eng mit unserer deutschen Nazigeschichte verbunden ist, der quasi auch diesen Stellvertreterkrieg zugunsten der Rüstungsindustrie ermöglichte. Ja, man kann wirklich nicht oft genug darauf hinweisen und gegen unsere »Leitmedien« anschreiben und eben auch mit den hier wieder aufgeführten Beweisen darauf hinweisen, wie leicht erlittene Demütigungen und daraus entstehender verletzter Nationalstolz instrumentalisiert werden können. Dabei sollte sich dieser Nationalstolz doch jedem denkenden Menschen ohnehin als Anachronismus erweisen, den wir uns angesichts der beschädigten Überlebensbedingungen auf unserer »Mutter Erde« weniger denn je leisten können. Und wie kann man die eskalierende Gewalt, mit der Andersdenkende an diesem Stellvertreterort unterdrückt werden, in die Verteidigung der »Demokratie« umzumünzen? – Übrigens konnten die Werke des hier erwähnten, in »geistiger Umnachtung« verstorbenen Friedrich Nietzsche von den Nazis ebenfalls missbraucht werden. Denn das von den Nazis gepriesene, weil für sie so zweckdienliche Werk, »Der Wille zur Macht«, wurde damals von seiner Tochter Elisabeth Förster »rekonstruiert« bzw. verfälscht und als das seine ausgegeben.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael M. aus Berlin (22. Mai 2023 um 14:16 Uhr)
      Elisabeth war seine Schwester.
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Josie M. aus 38448 Wolfsburg (22. Mai 2023 um 17:06 Uhr)
        Ah, danke, stimmt. ;)

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