Asche zu Asche
Von Ronald Kohl
Es geht eine Urne auf Reisen. Sie ist beileibe nicht die erste in der Filmgeschichte. Doch nie zuvor war die Dose mit der grauen Asche so knallrot. Ziel ist dieses Mal das sozialistische Ausland, Kuba. Mich würde als Urne ja eher Nordkorea reizen, aber »Ernesto’s Island« ist kein Film, der sich mit schrägen Phantasien abgibt. Es ist, wie ihn Regisseur Ronald Vietz beschreibt, ein »dokumentarischer Spielfilm«.
Die Frau, deren Überreste auf der Thälmanninsel im karibischen Wind verstreut werden sollen, hat, glaubt man Vietz’ Beteuerung, tatsächlich existiert. Wer nett ist, wird sie beim Anschauen des Films als aufrechte Kommunistin einordnen. Wer stärker dazu neigt, nach den Fakten zu urteilen, wird sie wohl eher eine revolutionsromantische Kulturfunktionärin nennen. Zwischen ihr und ihrem Sohn Matthias (Max Riemelt), den sie allein im Ostberlin der 80er Jahre großgezogen hatte, gab es schon lange keinen Kontakt mehr. Über die Gründe erfahren wir nichts. Wir sehen nur, wie Matthias lebt, was er treibt: protzige Eigentumswohnung (ausgerechnet in der früheren Stalinallee) und Topjob in der Werbebranche. Was soll man mit so einem reden? Dem kannst du nur deine Asche schicken: Auf geht’s! Zurück in den Sozialismus, wo Mutter und Sohn ihre glücklichsten Tage hatten. Die Reise wird eine riesige Enttäuschung, vor allem für den Zuschauer.
Die Ankunft in Havanna ist genau das, was jeder, egal, ob er schon mal dort war oder nicht, über Kuba längst weiß. Nichts funktioniert, und alle wollen sie nur dein Geld. Immerhin etwas, denn ohne fremde Hilfe könnte Matthias niemals die abgelegene Insel erreichen, die 1972 von Fidel Castro in einem symbolischen Akt an die DDR verschenkt wurde (natürlich hatte er sich davon einen ökonomischen Nutzen versprochen). Jetzt liegt das unbewohnte Eiland innerhalb der militärischen Sperrzone, und die Studentin Sofia begleitet Matthias, der kein Spanisch spricht, nur deshalb dorthin, weil sie die Kohle dringend für die Miete braucht. Als das Auto dann mitten auf dem Highway streikt, kümmert sie sich um Hilfe. Hier, in der tiefsten Provinz, kommen sie bei freundlichen, hilfsbereiten Menschen unter.
Fraglos gelingt es Vietz, ein realistisches Bild von Kuba zu zeichnen, mit ganz tollen Bildern. Was trotz intensivster Vorbereitung nicht hinhaut, ist die Story. Sowohl Vietz als auch Hauptdarsteller Riemelt haben die Insel mehrfach besucht, auch noch nachdem das Skript bereits fertiggestellt war. Die neuen Eindrücke wurden dann immer wieder nachträglich eingefügt. Gebracht hat es nichts, weil der Ansatz falsch ist.
Kein Gewichtheber der Welt bekommt die Last gestemmt, wenn er sie zuvor nicht auf den Millimeter genau ausbalanciert hat. Und genau diese Balance geht dem Film völlig ab, vom Gewicht, das aufgelegt wurde, ganz zu schweigen. Doch zurück zur Balance.
Seinen ersten großen Erfolg feierte Vietz vor gut zehn Jahren mit »This ain’t Califonia«, einem Film über Skateboarder in Ostberlin. Vietz, der in dieser Szene einst zu Hause war, produzierte den Film. Regie führte Marten Persiel, ebenfalls ein leidenschaftlicher Skateboarder, allerdings einer aus Hannover. Doch geht es hier nicht um Ost und West, sondern darum, dass ein Außenstehender viel zielsicherer erkennen konnte, was das wirklich Geile an dieser real existierenden Nische war, und selbstverständlich auch sah, wie sich die Sache mit ein bisschen Phantasie noch aufpeppen ließ.
Diesmal hat Vietz mit Hauptdarsteller Riemelt einen Partner, der genau wie er im Ostberliner Stadtbezirk Mitte aufgewachsen ist. Dass die beiden in der eigenen Soße schmoren, ist nicht einmal das größte Problem. Entscheidend ist, dass Berlin-Mitte nicht Ostberlin war und Ostberlin nicht die DDR. Und auch wenn die Naivität des Helden bestimmt authentisch ist, so unerträglich bleibt sie auch. Noch unerträglicher sind nur seine Belehrungen. – Ein Zonendödel als Westonkel, das kann nicht funktionieren, höchstens als Komödie. Aber lustig ist der Film nicht.
Ob sich Vietz, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, der Blasiertheit seines Helden so recht bewusst ist, möchte man fast bezweifeln, wenn man hört, wie er im Interview erzählt, dass sie den Leuten vor Ort oft gesagt hätten, dass das, was sie da vorhätten, gut und richtig wäre, aber sie doch aufpassen sollten, dass sie in den Häusern wohnen bleiben können, die ihnen gehören.
Allerdings muss zur Ehrenrettung des Regisseurs gesagt werden, dass seine Bilder zum Teil einen größeren Realitätssinn zeigen als er selbst: Matthias hat sich für seinen Trip über die Insel einen völlig überteuerten Wolga zugelegt, also eine waschechte sowjetische Funktionärskarosse. Nur das Lenkrad ist von Renault.
»Ernesto’s Island«, Regie: Ronald Vietz, BRD 2022, 115 Min., bereits angelaufen
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