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Aus: Ausgabe vom 19.05.2023, Seite 5 / Inland
Nachruf

Einer der Pioniere

Zum Tod des Sozial- und Wirtschaftshistorikers Josef Ehmer
Von Sabine Fuchs
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Immer ein offenes Ohr: Josef Ehmer bemühte sich besonders um den wissenschaftlichen Nachwuchs (Wien, 2018)

Es ist immer noch schwer zu glauben, auch wenn es mittlerweile schon die Wikipedia verzeichnet: Der österreichische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Josef Ehmer ist tot.

Ehmer gehörte zu den renommiertesten deutschsprachigen Vertretern seines Fachs. Geboren wurde er am 7. November 1948 im oberösterreichischen Gschwandt bei Gmunden als Sohn einer Arbeiterfamilie, seine Eltern gehörten der kommunistischen Widerstandsbewegung gegen Austro- und Nazifaschismus an. Auch Ehmer selbst war lange Zeit Mitglied der KPÖ und während seines Studiums der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien eines der Gründungsmitglieder des Kommunistischen Studentenverbands, bevor sich in den 80er Jahren wegen Konflikten mit der damaligen versteinerten Parteibürokratie die Wege trennten.

1989 habilitierte er sich mit einer Arbeit über den Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaftsstruktur und Heiratsverhalten im 19. Jahrhundert, wobei er einen Vergleich zwischen Industrieregionen Mitteleuropas und Englands zog. Damit war Ehmer in Österreich einer der Pioniere der historischen Demographie und der quantifizierenden Geschichtswissenschaft, die mit der statistischen Analyse von Massenquellen die Lebenswirklichkeit von Bevölkerungsgruppen erforscht, die nicht der bürgerlich-aristokratischen Elite angehörten. 1993 wurde er zum Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an die Universität Salzburg berufen, 2005 zum Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2015 lehrte und forschte. Neben vielen anderen Ehrungen war er Träger des Victor-Adler-Staatspreises für die Geschichte sozialer Bewegungen, seit 2011 war er Associate Fellow am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg »Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive« der Berliner Humboldt-Universität und seit 2012 Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission »Demographischer Wandel« der Leopoldina.

Aber nicht nur für die Wissenschaft, auch menschlich ist Ehmers Tod ein großer Verlust. Immer hatte er ein offenes Ohr für jüngere, oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeitende Kolleginnen und Kollegen, ermutigte und leistete Hilfestellungen wissenschaftlicher und administrativer Art. So verhalf er in den 90er Jahren einem in Deutschland aus politischen Gründen »abgewickelten« Kollegen aus der ehemaligen DDR zu einer Gastprofessur in Salzburg und damit zu einer Möglichkeit der Fortsetzung der wissenschaftlichen Karriere. In den letzten Jahren war ihm seine Aufgabe als Vorstand des bei der Österreichischen Arbeiterkammer angesiedelten »Edith-Saurer-Fonds zur Förderung geschichtswissenschaftlicher Projekte« ein besonderes Anliegen.

Sepp Ehmer starb in der Nacht vom 9. zum 10. Mai in Wien im Alter von 74 Jahren, unerwartet und viel zu früh.

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