Den Rechten ausgeliefert
Von Hansgeorg Hermann
Attentate, Einschüchterung, Drohbriefe, grölende Schläger in den Straßen von Paris: Frankreich wird seit Monaten geflutet von einer Welle physischer und verbaler Gewalt gegen Bürgermeister, Abgeordnete und Kulturträger – ausgelöst, gefördert und angeheizt von der äußersten politischen Rechten. Es geht vordergründig gegen Asylsuchende und deren Unterbringung in kleineren Kommunen. Vor allem aber um die Eroberung politischer Macht auf der Basis von Fremdenhass. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Terror der Nationalisten jüngst mit einem Anschlag gegen Yannick Morez, den Bürgermeister des kleinen Badeorts Saint-Brevin-les-Pins an der Atlantikküste: Rechte Täter brannten am 22. März sein Wohnhaus nieder. Erst am Mittwoch bequemten sich der Senat und Ministerpräsidentin Élisabeth Borne, Morez in die Haupstadt einzuladen und sich seine Klage anzuhören – gegen die Untätigkeit einer Regierung, die dem faschistischen Wüten offenbar nichts entgegenzusetzen hat.
Das kam viel zu spät, nicht nur in diesem Fall. Schon am 10. Mai hatte Morez seine blau-weiß-rote Amtsschärpe abgegeben, im Zorn, wie er nach dem Kurzbesuch bei Borne vor Journalisten erklärte. Seine Entscheidung, nicht nur das Rathaus, sondern auch den Ort zu verlassen, wo er mehr als 30 Jahre gelebt hatte, sei unumkehrbar. Nicht verwunderlich, wie Sprecher aller parlamentarischen Gruppen in dieser Woche einräumten. Der Bürgermeister habe sich offenbar nicht nur von seinen Vorgesetzten in der Präfektur des Departements Loire-Atlantique und Innenminister Gérald Darmanin verlassen gefühlt, sondern wohl auch von der Mehrheit der Bevölkerung, die ihn als Kandidaten einer bürgerlich-rechten Gruppe an die Spitze der Gemeinde gewählt hatte. Deren Wut hatte Morez auf sich gezogen, weil er die Entscheidung des Innenministers, in dem schicken Badeort eine Sammelstelle für Asylsuchende einzurichten, nach Recht und Gesetz in die Praxis umsetzen wollte.
Ein inzwischen klassischer Grund für rechte Schläger – aber auch für fanatische katholisch-bürgerliche »Verteidiger« christlichen Glaubens und französischer Lebensart, gegen »muslimische Überfremdung« –, auf unterster politischer Ebene zu Gewalt aufzurufen und sie auch umzusetzen. Dass sich »die Republik« auf oberster Ebene um die Sorgen kleiner Ortsvorsteher nicht schert, belegt das Zeugnis Morez’, der die Polizeipräfektur um Schutz gebeten hatte: »Wir waren sehr erstaunt«, ließ er in Paris die wartenden Journalisten wissen, »dass der Präfekt uns lediglich erklärte, er habe selbst täglich mit Drohungen zu leben«. Der Chef der Gendarmerie habe ergänzt, es handele sich »nur um leere Drohungen und Einschüchterungsversuche«. Morez: »Er hat uns abgewiesen mit dem Hinweis, eine Klage nütze überhaupt nichts, seine Behörde werde nichts unternehmen, weil es sich hier um Meinungsfreiheit handele.«
Das Innenministerium, das in den vergangenen Monaten vor allem die zum Teil brutale Niederschlagung der Straßenproteste gegen das Rentendiktat von Präsident Emmanuel Macron organisierte, hatte offenbar nur wenige oder gar keine freien Personalkapazitäten, um sich gleichzeitig um den Schutz der lokalen Exekutive zu kümmern. Schon im vergangenen Jahr registrierten Darmanins Leute nicht weniger als 2.265 Klagen und Hinweise auf geplante oder vollzogene rechte Gewalt gegen gewählte Abgeordnete aller politischer Ebenen. Eine Steigerung von 32 Prozent gegenüber 2021. Bornes Regierung habe dem rechten Terrorismus nun mit einer »arme fatale«, einer tödlichen Waffe, gedroht, spottete am Mittwoch die Pariser Wochenzeitung Le Canard enchainé: der Gründung eines »Zentrums für die Analyse und Bekämpfung von Angriffen auf Gewählte«, in dem »die Arbeit der betroffenen Akteure – Polizei, Gendarmen, Präfekturen – besser koordiniert werden soll«.
Unterdessen verboten Innenministerium und Polizei als »linke« Veranstaltungen geltende Konzerte und Feste unter anderen der LGBTIQ-Gemeinde, weil sie von faschistischen Gruppen bedroht oder von streng katholisch geführten Institutionen auf dem Klageweg gestoppt wurden.
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