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Aus: Ausgabe vom 17.05.2023, Seite 8 / Ansichten

Offene Eskalation

Gipfeltreffen des Europarats
Von Jörg Kronauer
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Pressekonferenz vor dem Europarats-Gipfel mit Charles Michel (l.), Präsident des Europäischen Rates, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission

Als »Hüter von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« bezeichnet sich der Europarat, dem der Idee nach sämtliche Staaten des Kontinents von Island bis Aserbaidschan angehören sollen, gern selbst. Dass die Berufung auf Menschenrechte politischen Zwecken dient, ist nicht neu. Und in der Tat wurde das inzwischen gesamteuropäische Gremium vom Westen jahrzehntelang auch genutzt, um widerspenstige Staaten – Russland beispielsweise oder die Türkei – zu disziplinieren oder dies zumindest zu versuchen. Dennoch: Es blieben gewisse Spielräume. Der Schweizer Liberale Dick Marty etwa legte als Sonderermittler des Europarats geharnischte Berichte über die CIA-Folter in Europa im »Antiterrorkrieg« und über kosovarische Kriegsverbrechen vor. Und: Trotz aller Streitigkeiten sprach man in der Organisation wenigstens noch miteinander. Man giftete die Vertreter Russlands an, saß aber immerhin neben ihnen. Das war nicht viel. Es galt aber – auch in Berlin – als durchaus erwünscht, um einer Eskalation im Ansatz ein wenig entgegenzuwirken.

Die Zeiten sind vorbei. Der Machtkampf zwischen dem Westen und Russland ist eskaliert. Nun suchen die westeuropäischen Mächte den Europarat offen für ihre Zwecke einzuspannen. Ein Schadensregister für die Kriegsschäden in der Ukraine könnte man überall einrichten. Indem auch Berlin darauf dringt, dies ausgerechnet im Rahmen des Europarats zu tun, wandelt es diesen völlig offen in ein weltpolitisches Kampfinstrument um. Denn natürlich geht es nicht um die Opfer, sondern gegen Russland. Serbien hätte sicherlich nichts dagegen, im Europarat ein Schadensregister aufzubauen, um von der NATO Entschädigung für die Bombenopfer des Jahres 1999 einzufordern. Als Mitglied des Europarats soll Serbien nun statt dessen Maßnahmen gegen einen seiner bedeutendsten Kooperationspartner beschließen. Deeskalation, das war einmal.

Ob die Umorientierung auf offenen Machtkampf geeignet ist, die inneren Differenzen in den Hintergrund zu drängen, unter denen der Europarat in wachsendem Maße leidet? Zweifel sind angebracht. Die Urteile, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spricht, werden immer öfter missachtet, und das nicht nur von der Türkei. Ein wichtiges Europaratsdokument, die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt, ist auch von mehreren EU-Staaten bis heute nicht ratifiziert worden, darunter Ungarn, Tschechien und Litauen; die Türkei hat sie sogar außer Kraft gesetzt. Aus einflussreichen konservativen Spektren in Großbritannien kommt weitreichende Grundsatzkritik am EGMR. Die Bindungskraft des Europarats nimmt ab. Maßnahmen gegen Russland mögen Großbritannien wieder enger anbinden; für Staaten wie Serbien, Armenien oder Aserbaidschan, die weiterhin mit Moskau kooperieren, sind sie unerwünscht. Nicht auszuschließen, dass die Organisation Europarat in nicht allzu ferner Zukunft zu bröckeln beginnt.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (17. Mai 2023 um 23:36 Uhr)
    Ich erzähle Ihnen noch etwas Spannendes aus meiner Familiengeschichte erzählen, die eher weniger zum Kiewer Präsidenten lässt, der auch bald vergessen hat, wo er geboren ist. Er wuchs in einer behüteten Welt auf. Sie werden es nicht glauben, doch sogar jede Behandlung beim Tierarzt war kostenlos! Es gab überall kostenlose Kindergärten und Kindergeld! Es gab Geld dafür, wenn du studiert hast! Wer nach 16 Jahren noch zur Schule ging, bekam Geld dafür wie ein Azubi, weil es ungerecht gewesen wäre, wenn sie weniger Geld gehabt hätten. Die Studierenden bekamen das Stipendium fürs Studieren. An allen Ecken und Enden gabs das Leistungsstipendium. Aus Anstand hab ichs immer wieder abgelehnt. (…) Aber so gings doch allen mit IQ über Weltniveau. Und dann ging ich noch mal von vorne an. Es ist natürlich Hacke, wenn du klug bist. Ich würde sagen: Geh zu Union! Innerhalb einer halben Lebenszeit bist du ein Star! Ansonsten geh zu Hertha. Sie brauchen wirklich alle Hilfe – und dafür iss Union berühmt!
  • Leserbrief von Bernd Kulawik aus Bern (17. Mai 2023 um 17:08 Uhr)
    Ein Schadensregister für Kriegsschäden? Finde ich eine tolle Idee! Nur leider finde ich im Web bisher keine solchen Register des Europarats für die Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien … von Vietnam oder Korea ganz zu schweigen. Warum gibt es die nicht? Sind die Politiker, die ausgerechnet jetzt solch ein Register für die Ukraine fordern – aber sicherlich unter Ausschluss des Donbass seit 2014 –, also alle einfach nur elende Heuchler? Oder sind die Opfer dieser Kriege nicht wichtig? Dann wären dieselben Politiker offensichtlich Rassisten. Aber vermutlich sind sie einfach beides, oder? Speichel- und Stiefellecker des (wertewestlichen) Kapitals waren nie anderes. Ok, Rassisten sind sie vielleicht gar nicht: Ihnen sind schlichtweg nur einfach alle Menschen egal, die sie für »überflüssig« halten, weil ihre Kontostände nicht 12stellig sind und/oder sie nicht zur Schicht dieser »Funktions«-»Elite« gehören. (Dumm für sie, wenn sie eines Tages bemerken sollten, dass ihre Herren sie selbst ebenfalls als austauschbar ansehen.) Es ist wirklich nicht nur eine intellektuelle Beleidigung allergrößten Ausmaßes, sondern einfach nicht mehr auszuhalten, was für ein schlechtes Marionettentheater uns diese Verbrecher vorspielen!

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