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Aus: Ausgabe vom 17.05.2023, Seite 7 / Ausland
75 Jahre Vertreibung

Viele Schlüssel

Nakba-Gedenken in Palästina und bei UNO: Betroffene wollen Erinnerung an »Katastrophe« wachhalten, Präsident fordert Einhaltung von Resolutionen
Von Gerrit Hoekman
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Erinnerung an die Katastrophe: Nakba-Gedenken mit Premierminister Schtaja (M.) in Ramallah (15.5.2023)

Am Montag gedachten die Palästinenserinnen und Palästinenser des 75. Jahrestags der Nakba, der Katastrophe, wie sie Flucht und Vertreibung von mindestens 750.000 Menschen aus ihrer Heimat aufgrund der Staatsgründung Israels am 14./15. Mai 1948 nennen. Erstmals fand auch eine offizielle Nakba-Gedenkfeier im UN-Hauptquartier in New York statt, bei der der palästinensische Präsident Mahmud Abbas die Einhaltung der dort beschlossenen Resolutionen verlangte: »Wir fordern heute offiziell, im Einklang mit dem Völkerrecht und den internationalen Resolutionen bezüglich der Palästinenser sicherzustellen, dass Israel diese Resolutionen respektiert, oder Israels Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen auszusetzen«, zitierte die amtliche palästinensische Nachrichtenagentur WAFA aus der einstündigen Rede. Abbas zeigte den Anwesenden einen Brief des ersten israelischen Außenministers Mosche Scharet, in dem er versprochen hatte, die Resolutionen von 1947 und 1948 zu akzeptieren. »Bisher wurde kein einziger Beschluss umgesetzt«, kritisierte der Präsident.

Abbas betonte, das palästinensische Volk sei nicht gegen Juden oder den jüdischen Staat, sondern gegen »diejenigen, die unser Land besetzen«. Times of Israel zufolge trug er einen Schlüssel zu dem Haus am Revers, in dem seine Familie lebte. Seine Heimatstadt Safed gehört heute zu Israel. Während des arabisch-israelischen Kriegs 1948 war Abbas mit seinen Eltern nach Damaskus geflohen. Wie viele andere palästinensische Familien glaubten sie, bald nach Hause zurückkehren zu können. Sie schlossen die Tür ab und nahmen die Schlüssel mit, die sich oft noch bis heute im Familienbesitz befinden.

In Ramallah in der Westbank heulten am Montag 75 Sekunden lang die Sirenen. Die Menschen standen auf den Straßen und gedachten still der Katastrophe von 1948. »Die Nakba ist ein fortdauerndes Verbrechen, und es gibt keine Alternative zur Rückkehr«, stand auf einem Transparent, das über einer Bühne in Ramallah hing. Dort und in anderen Städten auf dem Westjordanufer demonstrierten Tausende. »Diesen Tag können wir nicht vergessen«, sagte ein Teilnehmer gegenüber dem Fernsehsender Al-Dschasira. »Wir versuchen, ihn im Gedächtnis unserer Kinder wachzuhalten.«

In New York erklärte Abbas, dass »Israel, die Besatzungsmacht«, seine »Besetzung und seine Aggression gegen das palästinensische Volk« fortsetze und »weiterhin diese Nakba« leugne und internationale Resolutionen zur Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in ihr Heimatland ablehne. Einer UN-Statistik zufolge sind heute 5,9 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser als Geflüchtete ­registriert. Sie leben überwiegend in Lagern in der Westbank, in Gaza, Jordanien, Syrien und im Libanon.

Das offizielle Israel ist der Ansicht, dass die meisten Flüchtlinge ihr Land freiwillig verlassen hätten, nachdem die arabischen Führer sie dazu aufgefordert hätten. Der israelische Botschafter bei der UNO, Gilad Erdan, hatte die Mitgliedstaaten vor der Gedenkfeier in einem Brief aufgefordert, nicht daran teilzunehmen. »Die Teilnahme an diesem verabscheuungswürdigen Ereignis bedeutet, jede Chance auf Frieden zu zerstören, indem man das palästinensische Narrativ übernimmt, das die Gründung des Staates Israel als Katastrophe bezeichnet«, zitierte die New York Times aus einer Videoerklärung des Botschafters. 32 Staaten, darunter die USA, Kanada, die Ukraine und zehn Mitglieder der EU folgten dem Aufruf. Deutschland gehörte bereits im November zu den 30 Staaten, die gegen eine Nakba-Gedenkfeier in der UNO gestimmt hatten. 90 Länder waren dafür. »Wir werden die ›Nakba‹-Lüge mit aller Kraft bekämpfen, und wir werden nicht zulassen, dass die Palästinenser weiterhin Lügen verbreiten und die Geschichte verzerren«, erklärte der israelische Außenminister Eli Cohen laut der US-Agentur AP.

Israelische Medien werfen Abbas vor, er habe in seiner Rede Israel mit dem Propagandaminister der Nazis verglichen. »Sie lügen wie Goebbels und sie lügen weiter, bis die Leute ihre Lügen glauben«, soll Abbas gesagt haben. Ausländische Zeitungen wie die New York Times und große Nachrichtenagenturen wie Reuters erwähnten diese Passage bis Dienstag jedoch nicht. Auch in der vollständigen Rede, die von der Nachrichtenseite Maan auf arabisch abgedruckt wurde, kommt der Goebbels-Vergleich nicht vor.

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  • Leserbrief von Raimon Brete aus Chemnitz (18. Mai 2023 um 11:04 Uhr)
    Janusköpfige Politik des Wertewestens. Israel und Palästina spalten nicht nur eine Region, sondern offenbaren in besonders tragischer Weise die Zweigesichtigkeit der Politik des gesamten Westens. Mit der Ausrufung Israels, das zur Heimat vieler jüdischer Bürgerinnen und Bürger wurde, ging gleichzeitig die Vertreibung eines ganzen Volkes von Grund und Boden einher. Der Bazillus einer janusköpfigen imperialistischen Politik, das Teile und Herrschen hat sich seit 75 Jahren ausgebreitet und vernebelt tendentiell den Blick auf die Realitäten. Ganze Generationen von Palästinensern leben in Flüchtlingslagern und viele mussten den Verlust von Grund und Boden sowie den Abriss ihrer Häuser hinnehmen. Damit wurde der Nährboden für Hass und Gewalt bereitet und wird durch die Politik des Westens, die die Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates nie ernsthaft befördert und die Umsetzung von UN-Resolutionen seit Jahrzehnten torpediert, nur noch verschärft. Landbesetzungen, der illegale Bau von Siedlungen und die vielschichtigen Repressionen gegenüber von Palästinensern wird vom Westen ohne erkennbare Proteste hingenommen. Der zaghafte Versuch für einen Interessenausgleich durch den israelischen Ministerpräsidenten Rabin, Schimon Peres und dem Palästinenserführer Jassir Arafat, die dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden, sind längst Geschichte. Rabin wurde dafür von einem Israeli ermordet (sic). Kritik an der Politik des imperialistischen Staates Israel wird offiziell ganz schnell als antisemitisch abgestempelt und mit der sogenannten Verantwortung vor der Geschichte erstickt. Die Opfer der Konfliktparteien und das unendliche Leid der Vertriebenen erfährt in den Reden der westlichen Wertegemeinschaft kaum Erwähnung und schon gar nicht den ernsthaften Versuch einer Entschärfung des Konflikts, der eine ganze Region in Haftung für eine imperialistische Herrschaftspolitik in der Region nimmt. Da spielen unteilbare Menschenrechte keine Rolle!

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