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Aus: Ausgabe vom 16.05.2023, Seite 1 / Titel
Türkische Wahlen

Wandel bleibt aus

Türkei: Erdogan muss sich Stichwahl stellen. Rechte Allianz hält Parlamentsmehrheit. Linke beklagt »Misserfolg«
Von Nick Brauns
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Bangen in der Wahlnacht: Unterstützer Kilicdaroglus vor der CHP-Zentrale (Ankara, 14.5.2023)

Im türkischen Parlament dominieren auch zukünftig nationalistische, faschistische und islamistische Parteien. Doch Präsident Recep Tayyip Erdogan wird sich mit 49,4 Prozent der Stimmen erstmals einer Stichwahl stellen müssen. Das ist das Ergebnis der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom Sonntag. Der Vorsitzende der kemalistischen CHP Kemal Kilicdaroglu kam als Kandidat einer breit aufgestellten Opposition auf 45 Prozent. Zum Königsmacher könnten so am 28. Mai die Wähler des mit 5,2 Prozent drittplatzierten Faschisten Sinan Ogan werden.

»Wir werden die zweite Runde definitiv gewinnen«, gab sich Kilicdaroglu, der eine Rückkehr vom Präsidialsystem zum bürgerlichen Parlamentarismus versprochen hat, in der Nacht zu Montag siegesgewiss. »Der Wille in der Gesellschaft zur Veränderung ist höher als 50 Prozent.« Im 600 Sitze umfassenden Parlament hält die um Erdogans islamistische AKP und die faschistische MHP gebildete »Volksallianz« allerdings eine Mehrheit von 323 Abgeordneten. Neben Hasstiraden gegen die als »schwul« und »terroristisch« bezeichnete Opposition – so attackierte Erdogan in seiner Balkonrede am frühen Montag morgen erneut den inhaftierten kurdischen Politiker Selahattin Demirtas – treten Vertreter dieser ultrareaktionären Allianz für die Abschaffung eines Gesetzes zum Schutz von Frauen vor Gewalt ein.

Während Kilicdaroglu in Izmir als traditioneller CHP-Hochburg an der Ägäisküste auf 62 Prozent kam, stimmten in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, über 72 Prozent für den Oppositionskandidaten. In dieser taktischen Stimmabgabe für den ihren Forderungen distanziert gegenüberstehenden Kemalisten zeigt sich der hohe Politisierungsgrad der kurdischen Wähler, die ansonsten die Grüne Linkspartei (YSP) zur stärksten Kraft im Südosten machten. Landesweit fiel die YSP mit 8,77 Prozent drei Prozentpunkte hinter das Ergebnis ihrer von einem Verbot bedrohten Vorgängerpartei HDP im Jahr 2018 zurück. Die Vorsitzenden der YSP und HDP sprachen daher am Montag auf einer Pressekonferenz in Ankara selbstkritisch von einem »Misserfolg«, insbesondere Stimmverluste in der Westtürkei seien ein »Problem«. Im Parlament verfügt die YSP, auf deren Liste Mitglieder marxistischer Parteien antraten, zukünftig über 63 Abgeordnete, während die mit ihr in der »Allianz für Arbeit und Freiheit« verbundene Arbeiterpartei der Türkei (TIP) wie bislang vier Mandate erhält. Dass die linkssozialdemokratische TIP, die auf lediglich 1,58 Prozent kam, bei deutlicher Überschätzung ihrer Kraft auf einer eigenständigen Kandidatur bestanden hatte, kostete das linke Bündnis rund ein Dutzend Mandate.

Vornehmlich in den kurdischen Gebieten kam es am Wahltag zu zahlreichen Betrugsfällen und Manipulationen sowie gewaltsamen Übergriffen auf Unterstützer der Opposition, wie der Menschenrechtsverein IHD am Montag mitteilte. An mehreren Orten tauchten so vorab für Erdogan abgestempelte Wahlscheine auf. Westliche Beobachter zeigten sich erstaunt, dass selbst in den von den Erdbeben im Februar betroffenen Gebieten – mit Ausnahme von Hatay – mehrheitlich für Erdogan votiert wurde. Doch während staatliche Katastrophenhilfen gezielt an die als Regierungsunterstützer geltende türkisch-sunnitische Bevölkerung geliefert worden waren, mussten viele traditionell zur Opposition neigende alevitische und kurdische Bewohner aufgrund ausgebliebener Unterstützung ihre verwüsteten Wohnorte verlassen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (16. Mai 2023 um 10:30 Uhr)
    Dass die TIP sich, anders als die HDP, nicht vollständig diesem neoliberalen Bündnis unterworfen hat und sich damit noch ein Mindestmaß an Handlungsfreiheit erhalten hat, zeigt sich angesichts des voraussichtlichen Verlusts als eher intelligente Entscheidung.

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