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Aus: Ausgabe vom 15.05.2023, Seite 12 / Thema
Religion und Wirtschaft

Nicht von dieser Welt

Eine vermeintliche Kapitalismuskritik des Christentums erweist sich, genauer besehen, als Klage über einen Mangel an Glauben und als Aufforderung zum Beten
Von Meinhard Creydt
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Lob der Armut, denn der materielle Reichtum lenkt nur vom Glauben ab: Bettelmönche in einer Buchillustration aus dem Jahr 1893

Die Bibel ist zu einer Zeit entstanden, als es keinen Kapitalismus gab, sondern eine ganz andere Gesellschaftsordnung. Nichtsdestotrotz beziehen sich heute manche auf die »Heilige Schrift«, um aus ihr Stellungnahmen zur heutigen Erwerbs- und Geschäftswelt herzuleiten.

Auch wer sonst kaum etwas von der Bibel kennt, hat zumeist den Spruch »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme« (Mt. 19,24), schon einmal gehört. Der reiche Jüngling, der sich ausgerechnet beim Sohn Gottes direkt erkundigt, was er denn über seine regelkonforme Rechtschaffenheit hinaus noch tun könne, um auch wirklich in den Himmel zu kommen, hätte ahnen können, dass die Antwort ihn mit einem Entweder – Oder konfrontiert. Eine Person, die sich aus der Deckung wagt und Jesus persönlich fragt, muss damit rechnen, geprüft zu werden, ob sie das aufgibt, was ihr bislang am meisten wert ist. Der junge Glaubensstreber mag aber die von Jesus erwartbar ultimative Aufforderung, alles zu verkaufen, was er hat, nicht befolgen. Diese Geschichte kritisiert nicht den Reichtum, sondern die »fehlende Wertschätzung des Angebots des ewigen Lebens. (…) Die Ewigkeit zählt mehr als die kurze Zeit auf Erden. Und: An der Himmelspforte zählt nicht Reichtum und gutes Benehmen, sondern unsere Haltung zu Jesus«.¹

Jesus interessiert das Verhalten des Individuums in bezug auf den Reichtum unter einem Gesichtspunkt, der über die Einrichtung der Gesellschaft erhaben ist: Vermag es, die vorbehaltlose Wertschätzung für Gott zu beweisen? Allein zum Beweis ihres ausschließlichen Vertrauens auf Jesus sollen seine Jünger ihren Besitz den Armen geben. Ganz anders aber sieht es beim kostbaren Nardenöl aus, mit dem Maria Magdalena Jesu Füße »salbte«. Ein Jünger fragt: »Warum ist diese Salbe nicht verkauft worden, um den Erlös den Armen zu geben?« Die Antwort von Jesus: »Arme habt ihr immer bei euch; mich aber habt ihr nicht immer.« (Joh 12,3) Die Jünger hatten gefragt: »Wozu diese Vergeudung?« (Mt 26,8) Es handelte sich bei dem Nardenöl um »ein sehr kostbares Salböl«, das Jesus auch »über das Haupt« gegossen wurde (Mk 14,3). Der Gegenwert dieses einen Pfunds Öl, das Maria verwandte, waren »dreihundert Denare« (Mk 14,5). Diese Summe entsprach dem Jahreslohn eines Arbeiters in Palästina.² Materieller Reichtum wird dann bejaht, wenn er für die Feier des Glaubens Verwendung findet. Die Bekämpfung der Armut wird angesichts dessen nachrangig.

Lob der Armut

Jesus und die Evangelisten sind »an der sozialen Ungerechtigkeit an sich nicht interessiert: Sie stellen den Himmel und das ewige Feuer in den Mittelpunkt«³. Armut ist für Jesus vorzugswürdig gegenüber dem Reichtum, insofern die Armen weniger besitzen. Sie gelten deshalb als in geringerem Maße ablenkbar vom Glauben. Um sich diese christliche Wertschätzung zu erhalten, dürfen sie aber den Reichen ihren Reichtum auch nicht neiden.

Der irdische Reichtum, so die Kritik, verführt zu einer schädlichen Illusion. »Niemandem erwächst aus äußeren Gütern ein Lebensglück, selbst im Überflusse nicht.« (Lk 12,15) Jesus findet am irdischen Reichtum problematisch, dass er die Menschen fehlleite: auf das Irdische hin, vom Seelenheil weg. Der irdische Reichtum stelle ein Übermaß an Diesseitigem dar. Jesus hat gegenüber jedem Wirtschaften einen sehr grundsätzlichen Vorbehalt. Es verschaffe bestenfalls eine nur materielle Sicherheit, aber nicht die Sicherheit durch die Bindung zu Gott (Lk 12,19 und 21). Aus diesem Urteil entsteht bei heutigen Christen eine Stellungnahme zu den Problemen der gegenwärtigen Gesellschaft, die fast nach Schadenfreude und »Wir haben es schon immer gewusst« klingt: »Am Zusammenbruch großer Banken sehen wir, dass das Geld verschwindet, nichts ist. Wer nur auf Sichtbares setzt, baut auf Sand. Nur das Wort Gottes ist eine solide Wirklichkeit.«⁴

Die ersten Anhänger Jesu lebten von Spenden und aus dem Erlös, den der Verkauf ihrer Güter und Habe erbrachte (Apostelgeschichte 2,44-45). Es handelte sich um einen rein konsumtiven »Kommunismus«, also um die Verteilungsgleichheit unter Leuten, die nicht arbeiten. Jesus ist darüber erhaben, sich Gedanken über die Art und Weise der gesellschaftlichen Gestaltung der Arbeit zu machen. Schon aufgrund der Naherwartung des Reichs Gottes braucht ihn das nicht zu interessieren. Die Frage nach der gesellschaftlichen Reproduktion durch Arbeit stellt sich vor diesem Hintergrund nicht. Der Werbung für Jesus widmen seine Anhänger ihre ganze Energie. Sie haben Höheres im Sinn als den Broterwerb.

Wer meint, erst der Kapitalismus mache Menschen habgierig, widerspricht der christlichen These, die Menschen seien ganz unabhängig von jeder Gesellschaftsordnung von sich aus sündig und selbstsüchtig. Dem Christenglauben zufolge lässt sich das Böse in der menschlichen Sphäre nicht grundlegend überwinden. »Niemand ist gut denn der einige Gott.« (Mt 19,17) Die Menschen »sind arg« (Mt. 7,11). »Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« (1. Mose 8,21) »Trügerisch ist das Herz, mehr als alles, und unheilbar ist es.« (Jeremia 17,9)

Selbst das gute Tun von Menschen, das sie nur Gottes Gnade verdanken, vermag dem Christenglauben zufolge nicht, eine gute Gesellschaft hervorzubringen. Aus krummem Holz lasse sich nun einmal nichts Grades schnitzen. Die Gesellschaft sei problematisch, weil es sich um eine Gesellschaft von Menschen handele. »So spricht der HERR: Verflucht sei der Mann, der auf Menschen vertraut.« (Jeremia 17,5) Diejenigen, die meinen, grundlegende Veränderung sei von Menschen dauerhaft zu erreichen, zeigen der christlichen Religion zufolge nichts anderes als frevelhafte Selbstüberschätzung und Anmaßung sowie den lächerlichen Irrglauben, Gottes nicht zu bedürfen. Auf Erden sorgen die Menschen in unschöner Regelmäßigkeit tatkräftig dafür, dass sie selbst Gottes Beistand zunichte machen oder durchkreuzen. Einerseits ist der Mensch dem christlichen Glauben zufolge schlecht, andererseits aber nicht so abgründig schlecht, dass er nicht bisweilen in Kontakt zu Gott treten könnte.

Die christliche Festschreibung der ethischen Ambivalenz »des Menschen« hat negative Folgen, die progressive Freunde des Christentums nicht wahrhaben wollen. Bereits die Lehre von der Erbsünde spricht überindividuell jeden von vornherein schuldig und entschuldigt zugleich faktisch jedes Verbrechen, insofern es dieser Auffassung zufolge als unausweichlich gilt.

Bei aller Zurückhaltung in puncto Gesellschaftsordnung enthält die Bibel einige Vorgaben, die Linken missfallen dürften. Wenn es im siebten Gebot heißt »Du sollst nicht stehlen« (2. Mose 20,15), dann bedeutet das ein Ja zum Privateigentum. Im Matthäus-Evangelium lesen wir die Geschichte von dem Herrn, der jedem seiner drei Knechte einen Teil seines Vermögens anvertraute und dann für Jahre verschwand. Als er zurückkam, hatten zwei der Knechte das ihnen anvertraute Geld investiert und präsentierten ihrem Herrn den Gewinn. Der dritte hatte seinen Teil vergraben und gab ihn zurück. »Da wurde der Herr böse und sprach: Du Schalk und fauler Knecht. (…) So solltest du mein Geld zu den Wechslern getan haben, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine zu mir genommen mit Zinsen.« (Mt 25,27) Und in der Genesis heißt es: »Der Herr hat meinen Herrn Abraham reichlich gesegnet, so dass er zu großem Vermögen gekommen ist.« (1. Mose 24,35)

»An keiner Stelle aber spricht die Bibel der staatlichen oder anderweitig gewaltsamen Umverteilung das Wort.«⁵ Gegner des Sozialstaats können sich berufen auf das Bibelwort: »Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.« (Thessalonicher 3,10)

Franziskus

Wir kommen nun von der Bibel zu ihren heutigen maßgeblichen Interpreten. Wenn vom Verhältnis zwischen Kapitalismuskritik und christlicher Religion die Rede ist, wird gern auf einen Ausspruch von Papst Franziskus Bezug genommen: »Diese Wirtschaft tötet«, heißt es in »Evangelii Gaudium«, dem ersten Apostolischen Schreiben des Papstes. Zugleich lobt er im gleichen Text (in einem späteren Abschnitt) grundsätzlich die »edle Arbeit« des Unternehmers, der in der Lage ist, »die Güter dieser Welt zu mehren und für alle zugänglicher zu machen« und damit »dem Gemeinwohl zu dienen«.

Christen setzen »Reichtum« gern mit »Materialismus« gleich und sehen in letzterem den Feind des Glaubens. Negative Phänomene des Kapitalismus gelten Papst Franziskus als Folge einer falschen Orientierung, die »das Materielle« dem Glauben vorzieht. »Das eigene Glück darin zu suchen, materielle Dinge zu besitzen, ist ein sicherer Weg, um nicht glücklich zu sein.« (Papst Franziskus via Twitter am 15.9.2013) »Fragen wir uns, ob unser Leben wirklich von Gott erfüllt ist. Wie viele Dinge ziehen wir ihm tagtäglich vor?« (Twitter am 17.5.2013) »Die Logik der Welt treibt uns zum Erfolg, zur Herrschaft und zum Geld; die Logik Gottes zur Demut, zum Dienen und zur Liebe.« (Twitter am 02.6.2013) »Das Reich Gottes gehört jenen, die ihre Sicherheit in die Liebe Gottes setzen und nicht auf materielle Dinge.« (Twitter am 22.11.2013)

Diese Kritik am Reichtum führt nicht primär zum Nachdenken über strukturelle Veränderungen oder gar zum Engagement für sie, sondern zur Aufforderung zu beten. »Das Gebet vermag alles. Nutzen wir es, um Frieden in den Nahen Osten und in die ganze Welt zu bringen.« (Twitter am 7.6.2014) »Der Kampf gegen das Böse ist hart und langwierig; dabei ist entscheidend, mit Ausdauer und Geduld zu beten.« (Twitter am 2.11.2013) »Das ist die christliche Hoffnung: Die Zukunft liegt in Gottes Hand.« (Twitter am 14.12.2013)

Der Mangel an christlichem Glauben gilt Franziskus als die grundlegende Ursache für alle ­Probleme, die gottlose Individuen sowohl anrichten als auch erleiden. Und die kapitalistische Wirtschaft bildet diesem Verständnis zufolge nur ein Beispiel des »Bösen«. Die Abtreibung – das zeigt die höhere Intensität des päpstlichen Zornes – repräsentiere die durch Missachtung Gottes charakterisierte »anthropologische Krise« in stärkstem Maße: »Im vergangenen Jahrhundert war die ganze Welt schockiert davon, was die Nazis getan haben, um die Reinheit der Rasse sicherzustellen. Heute tun wir dasselbe, nur mit weißen Handschuhen.«⁶

Folgerichtig hat sich Franziskus für »ein familienpolitisches Kampfbündnis« engagiert.⁷ So mancher meint, Franziskus rücke die katholische Kirche mit ihren 1,2 Milliarden Katholiken in die Nähe zu den 600 Millionen Evangelikalen. »Thomas Schirrmacher, Cheftheologe der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA)« betonte, »in Sachen Familie sehe der Papst mit den theologisch konservativen Evangelikalen ›viel größere Gemeinsamkeiten als beispielsweise mit den evangelischen Landeskirchen in Deutschland.‹«⁸

Dem Papst zufolge gilt das christliche Verständnis vom Kapitalismus als grundlegender denn alle Fragen, die sich bei der Einrichtung einer bloß irdischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stellen. Dieses Verständnis richtet die Aufmerksamkeit auf das, was nicht von dieser Welt ist, von dem aber alles in der Welt abhänge. Die Argumentationskette des Papstes lautet: Wer von der Wirtschaft, die tötet, spricht, ohne sie als Resultat bzw. Teilmenge der Kultur zu verstehen, die bereits das ungeborene Leben tötet, erweist sich als oberflächlich. Wer nicht begreift, dass die Kultur des Lebens (im Gegensatz zur Kultur des Todes) nur eine Kultur des Glaubens an Gott sein kann, erweist sich nicht nur als substanzlos, sondern bleibt Tier. Zur »Menschwerdung der Tiere« aber komme es allein »durch das Reden mit Gott«.⁹

Befreiungstheologie

Oft wird die »Befreiungstheologie« in Südamerika als Beleg für die Kapitalismuskritik von Christen bemüht. Egal, was man von ihr hält, um eine sonderlich aktuelle Angelegenheit scheint es sich nicht mehr zu handeln: »›Natürlich gibt es noch Pfarrer und Bischöfe, die sich für die arme Bevölkerung einsetzen, doch sie äußern sich nicht mehr so radikal wie in den 70er und 80er Jahren‹, sagt Anuar Battisti, brasilianischer Erzbischof von Maringá. ›Die Zeiten, als in den Kirchengemeinden der soziale Kampf ausgerufen wurde, sind vorbei.‹ Battistis Bilanz ist ernüchternd. ›Der Begriff Befreiungstheologie wird nicht mehr benutzt.‹«¹⁰

Schon 1976 hieß es, die geringe Beteiligung der Armen an der Kirche betreffend: »Ein Großteil der Erziehungsinstitutionen der Kirche ist den Armen gewidmet. Trotzdem ist die Anteilnahme der Armen an der Kirche noch sehr gering. Der größte Teil der praktizierenden Katholiken stammt aus der Mittelschicht.«¹¹ Anders sieht es bei den Pfingstkirchen aus. Sie haben in Südamerika enormen Zulauf von den Armen.¹²

Faktisch gibt es sowohl dem Kapitalismus wohlgesinnte als auch ihm gegenüber kritisch eingestellte Christen. Manche Linke beziehen sich gern auf letztere und meinen, sich keine Rechenschaft über die innere Logik des christlichen Glaubens ablegen zu müssen. Wenn linke Christen die Bibel links interpretieren, dann sei sie das auch. Das ist so, als ob man aus der Existenz von »kritischen Aktionären« darauf schließt, der Umgang mit den Aktien liege allein im Belieben ihrer Eigentümer.

Bei den südamerikanischen Anhängern der Befreiungstheologie bleibt unklar, ob sie die Bibel vergleichsweise »links« interpretieren, weil sie als Christen zu ihren Aussagen kommen, oder ob sie aus sozialen und politischen Gründen zu linken Auffassungen gelangen. Sie nutzen dann die Autorität der Bibel, um den eigenen politischen Positionen Nachdruck zu verleihen.

Die Stellungnahme des Vatikans zur Befreiungstheologie macht genau auf diesen Unterschied aufmerksam und weiß die theologischen Gegenargumente gegen die politische Instrumentalisierung der Bibel zu nennen: »Angesichts der Dringlichkeit der Probleme sind manche versucht, den Akzent einseitig auf die Befreiung von der Versklavung auf irdischem und weltlichem Gebiet zu setzen, so dass es scheint, dass diese die Befreiung von der Sünde an die zweite Stelle setzen und ihr hierdurch faktisch nicht mehr die erste Bedeutung einräumen, die ihr zukommt.« »Man darf auch nicht das Böse vorrangig und allein in den ökonomischen, sozialen und politischen ›Strukturen‹ orten, als hätten alle anderen Übel ihre Ursache und Quelle in diesen Strukturen, so dass die Schaffung eines ›neuen Menschen‹ von der Errichtung anderer ökonomischer und soziopolitischer Strukturen abhinge.« Ein wahrer Christ, so der Vatikan, könne »von Gott allein Heil und Heilung erwarten. Gott, nicht der Mensch, hat die Macht, die Notsituationen zu wenden.«¹³

Manche Vertreter der südamerikanischen Kirche betonen, sie wollten bloß »ein Mindestmaß an materiellen Bedingungen.« »Für einen Menschen mit leerem Magen, der sich in einem Zustand körperlichen Elends, in Wohnungsnot und im Kampf ums Überleben befindet, gibt es keine Öffnung zur übernatürlichen Ordnung. Es gibt einfach ein Mindestmaß an materiellen Bedingungen, das erfüllt sein muss, damit man überhaupt vom Glauben sprechen kann.«¹⁴

Genauso wie für Christen der Reichtum als Ablenkung vom und als Konkurrenz zum Glauben gilt, kommt hier die allerschlimmste Armut als Hindernis des Glaubens vor. Wessen Tun und Trachten sich darum dreht zu überleben, finde – so die Befürchtung – zuwenig Zeit und Energie zum Glauben. Um die Beseitigung der Armut geht es dann nur recht indirekt bzw. um des höheren Zwecks willen. Nur diejenige Armut sei zu überwinden, die die Armen davon abhält, zum Glauben finden zu können.

Dom Helder Camara, der linke Bischof von Recife, mahnte, dass »das Übermaß an Komfort entmenschlicht«.¹⁵ Beim Befreiungstheologen Leonardo Boff heißt es: »Wir müssen die materiellen Bedingungen liefern, die eine Lebensweise in gottgefälliger Armut ermöglichen.«¹⁶

Der Kampf gegen den Kapitalismus ist für diejenigen eine heikle Angelegenheit, die tagein tagaus verbreiten, die Armen seien bereits die eigentlich Reichen. »Uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich;
wir haben nichts und haben doch alles.« (2 Kor 6,10) Auch den Befreiungstheologen geht es bei der Befreiung vor allem um Theologie. Für sie steht beim »Kampf um die Veränderung der Welt« etwas Höheres im Zentrum, nämlich das »Treffen mit Gott«. (Boff)

Ora et labora

»Denkt daran, liebe Arbeiter, dass die wichtigsten Lebensnotwendigkeiten von christlichem Standpunkt aus zu beurteilen sind, dass die materiellen Güter, mögen sie auch noch so nötig sein, nicht vollkommen das Herz des Menschen erfüllen, dass es auch Werte gibt wie Würde, Zurückhaltung, Ehrlichkeit – und Leistung, die innig angestrebt werden müssen.«¹⁷

»Leistung« lässt sich gegen diejenigen geltend machen, die per Raub das durch Leistung erworbene Eigentum anderer stehlen. In bezug auf die kapitalistische Ökonomie ist die herrschende Meinung, es handele sich nicht um Raub. Das Privateigentum des Arbeitenden an seiner Arbeitskraft werde durch den Arbeitsvertrag nicht verletzt. Die Unternehmer brächten wie die Arbeiter ihr Eigentum als Produktionsfaktor ein: die einen ihre Arbeitskraft, die anderen das Kapital. Wer seine Forderungen mit den eigenen »Leistungen« verteidigt, wird von der Gegenseite auch daran gemessen werden. Diejenigen, die wirklich für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung kämpfen, werden sich kaum den Wert der »Zurückhaltung« zu eigen machen.

Der Begriff »Würde« findet sich etwa in der Aussage »Die Gegenseite hat etwas getan, das nicht nur meine materiellen Interessen schädigt, sondern von mir auch deshalb bekämpft wird, weil ich ohne dieses Engagement meine Anerkennung vor mir selbst verlieren würde.« Welchen Inhalt eine Person zu dem Wert jenseits ihrer materiellen Realität erhebt, mit dem sie ihre Selbstanerkennung verknüpft bzw. von dem sie ihre Würde abhängig macht, ist je nach Weltanschauung sehr verschieden. Die Würde übersteigt alles Weltliche. Christen wissen warum: Ihnen zufolge bildet der Mensch »ein über die Welt überständiges Wesen«. Deshalb »hat die äußere Welt allein niemals genügend Bedeutung für ihn. Sein Herz und sein Selbst sind immer schon über die Welt hinaus. Die Welt, an der wir arbeiten, genügt unserem Innersten nicht«.¹⁸

Spätestens dann, wenn es darum geht, dem sozialen und politischen Feind tatkräftig entgegenzutreten, erteilen Christen der Praxis, die aus der Kapitalismuskritik folgt, eine entschiedene Absage: »Der Versuchung, gesellschaftliche Änderungen mit Gewalt anzubahnen, gilt es zu widerstehen, denn die Waffe der Kirche ist das Kreuz. Ihre Kraft ist die Gnade Gottes. Um das Reich nicht dieser Welt, sondern Gottes zu bauen, müssen wir glauben, beten und vor allem leiden, ja sogar sterben.«¹⁹ Das ist nun entschieden mehr »Theologie«, als eine wie auch immer geartete »Befreiung« verträgt.

Anmerkungen

1 Christoph Sprich: Das Kamel und das Nadelöhr: Ist das Christentum gegen die Marktwirtschaft?, https://www.gemeindenetzwerk.de/?p=7657

2 Elisabeth Moltmann-Wendel: Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus, Gütersloh 1987, S. 100

3 Walter Kaufmann: Der Glaube eines Ketzers, München 1965, S. 220

4 Papst Benedikt XVI. am 6.10.2008 auf der Weltbischofssynode in Rom, zit. n. Berliner Zeitung, 7.10.2008

5 Robert Grözinger: Kapitalismuskritik: Wie der Papst in Wirtschaftsfragen irrt, FAZ 30.12.2013

6 Papst Franziskus laut der Nachrichtenagentur ANSA über die Legalisierung von Abtreibungen in seinem Heimatland Argentinien, zit. n. junge Welt, 18.6.2018

7 Welt vom 2.11.2015

8 ebd.

9 Dietrich Ritschl: Menschwerdung der Tiere durch das Reden mit Gott. In: Michael Graf/u. a. (Hg.): Was ist der Mensch, Stuttgart 2004

10 Astrid Prange: Befreiungstheologie in Lateinamerika: Gesegnete Revolution, Taz, 22.5.2015 https://Taz.de/Befreiungstheologie-in-Lateinamerika/!5007559/

11 »Hirtenbrief an das Volk Gottes«, Repräsentative Kommission der Nationalen Bischofskonferenz Brasiliens, 1976

12 Elle Hardy: Die Pfingstkirche wird zur Religion der Armen der Welt. In: Jacobin, 5.6.2022, https://kurzelinks.de/Pfingstbewegung

13 Joseph Kardinal Ratzinger: Instruktion der päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre, 1984

14 Positionspapier des chilenischen Episkopats bei der römischen Bischofssynode 1974

15 Dom Helder Camara: Revolution für den Frieden, Freiburg 1969

16 Leonardo Boff: Theologie der Knechtschaft und der Befreiung, Petropolis 1980

17 Erzbischof Romero: La Voz sin Voz, San Salvador 1980

18 Peter Koslowski: Die postmoderne Kultur, München 1987, S. 53

19 »Hirtenbrief an das Volk Gottes«, Repräsentative Kommission der Nationalen Bischofskonferenz Brasiliens, 1976

Meinhard Creydt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Januar 2023 über Arbeit jenseits des Kapitalismus.

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  • Leserbrief von Frank Lukaszewski aus Oberhausen (19. Mai 2023 um 16:22 Uhr)
    Mit Blick auf a) unsere Kopftuchfetischistinnen und die eigentlich in Beton zu gießenden Bärte ihrer Vorbetertrottel, b) unsere katholischen Kinderschänderfreunde im Kardinalsrang a la Woelki und ihre »aktiv« Untergebenen, c) die besserwisserischen Evangelikalen, die tendenziell a ähneln und eigentlich eh das machen, was sie wollen, sei mir die Wiederholung eines Zitates gestattet: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« Marx, K.: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,1844.
  • Leserbrief von Hagen Radtke aus Rostock (16. Mai 2023 um 08:22 Uhr)
    Der Autor hat recht: Die Krux am Christentum ist, dass jeder etwas anderes darunter versteht. Die Bibel ist so divers und widersprüchlich, dass jeder daraus lesen kann, was gerade gebraucht wird, um die persönliche Überzeugung zu begründen. In den Ausführungen des Autors kommen aber dennoch ein paar wesentliche Aspekte der praktisch gelebten Theologie zu kurz, speziell aus der evangelischen Kirche:
    Der Glaube ist kein Glaube an eine bloße Existenz Gottes oder an seine persönliche Hilfe im Alltag. Der Glaube ist die gemeinschaftliche Hoffnung auf das kommende Reich Gottes, das nicht als rein jenseitig verstanden wird. Die Wunder und Gleichnisse Jesu dienen dem Stärken der Hoffnung auf dieses schon im alten Testament angelegte Versprechen Gottes, die irdische Herrschaft und Unterdrückung durch seine eigene Herrschaft zu ersetzen. Wie diese Gottesherrschaft aussieht, erfahren wir aus Gleichnissen Jesu: Beim Festmahl Gottes speisen Arm und Reich am selben Tisch, die letzten werden die ersten sein. Wesentlich für das Erwecken dieser Hoffnung auf das Große ist das Wirken im Kleinen: Wenn Jesus einzelne Kranke heilt, dann als ein Vorzeichen dafür, dass Krankheit in der kommenden Welt insgesamt verschwunden sein wird. Dem Christen heute kommt nun dieselbe Aufgabe zu wie Jesus damals: Um den Glauben an das (unmöglich scheinende) kommende Gottesreich zu befördern, lässt er es im Kleinen bereits hier und jetzt entstehen. In der Gemeinschaft werden im Idealfall diejenigen Werte praktisch erlebbar, die verheißen sind, wie ein Leben ohne Herrschaft und Knechtschaft. Das Gebet dient dem Christen nicht zum Einfordern einer magischen göttlichen Intervention, sondern der Stärkung der eigenen Beziehung zu Gott, die Kraft für gutes Handeln gibt. Das Handeln in Nächstenliebe macht dann die Kraft Gottes erst spürbar, denn »Gott hat keine Hände als nur unsere Hände«. Ziel eines praktischen Einsatzes z.B. gegen Armut ist also tatsächlich die Förderung des Glaubens, aber des Glaubens im Sinne des Bewahrens der Hoffnung auf die Möglichkeit einer anderen und besseren neuen Welt, die einmal viel später (von der Naherwartung hat man sich verabschiedet) nach Gottes Willen die bestehende Ordnung ersetzen soll.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (15. Mai 2023 um 12:52 Uhr)
    »(…) dass die materiellen Güter, mögen sie auch noch so nötig sein, nicht vollkommen das Herz des Menschen erfüllen (…)« – Bischof Romero spricht aus, was auch die indigenen Völker als Lebensbasis ansehen: Materieller Reichtum ist verdammenswert, ausreichende Versorgung mit materiellen Gütern dagegen etwas anderes – nur eben nicht alles (»nicht vollkommen«)! Der Befreiungstheologie in all ihren Facetten wird der Artikel nicht gerecht, denn Armut im Sinne von Bescheidenheit ist vielleicht nicht gottgefällig, aber der südamerikanischen »Pacha Mama«, der sowjetischen »Mutter Heimat« und auch dem deutschen Wald gefällt Bescheidenheit und Rücksichtnahme – ganz im Gegensatz zum kapitalistischen Wachstumszwang mit seinen katastrophalen Folgen für Körper, Psyche und Umwelt.

    Christentum ungleich Kirche – wir alle wissen, dass diese Beliebigkeit zu Adolf Hitler (»Gott mit uns« auf den Koppelschlössern der Wehrmacht) oder aber zum Widerstandskämpfer D. Bonhoeffer (»Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.«) führen kann. Aber auch wir Nichtgläubigen sollten Christen/Religiöse nach ihren Taten bewerten und nicht nach ihren Worten – Pfarrer, die 1945/46 ihren Segen der Bodenreform in der SBZ gaben und damit jahrhundertealtes Duckmäusertum der Tagelöhner aufbrechen halfen, sind keine Reaktionäre, Priester in südamerikanischen linken Guerillaverbänden sicher auch nicht.

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