Sie sind des Lebens
Von Hagen Bonn
Die Geschichte der Arbeiter- und Bauernklasse ist auch immer die Geschichte ihrer unsterblichen Opfer. Und wir? »Wir stehen und weinen, voll Schmerz, Herz und Sinn.« Die Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch sowie der Dirigent, Pianist und Komponist Fabio Costa spielten sich am Donnerstag in der Maigalerie von junge Welt in Berlin anlässlich vierer 50. Todestage in unsere Herzen.
Gedenken, Verneigung und Feier gingen an diesem Abend ineinander über, erinnerte man doch an die Kämpfe der historischen Vorbilder in einer Zeit, als der Sozialismus als Bewegung immer noch in der Lage war, weltweit Kraft zu entfalten und Popularität zu gewinnen. Dafür waren in hohem Maße mitverantwortlich: Pablo Neruda – chilenischer Dichter (Nobelpreis für Literatur 1971), Antifaschist und kommunistischer Abgeordneter. Víctor Jara – Sänger, Musiker, Theaterregisseur und ebenfalls kommunistischer Aktivist. Salvador Allende – Arzt, Sozialist und von 1970 bis 1973 Präsident Chiles. Und natürlich das Wahlbündnis linker chilenischer Parteien und Gruppierungen »Unidad Popular«, deren Anhänger von den Faschisten Pinochets ab 1973 zu Tausenden ermordet wurden. Der Tod dieser Ikonen muss uns aber, so Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer des Verlags 8. Mai, der in den Abend einführte, eine aktuelle Mahnung sein. Denn der Faschismus von damals konnte im Bündnis mit den USA zwar das sozialistische Chile liquidieren, aber zugleich war der mörderische Putsch auch Anlass für viele Menschen auf der Welt, sich zu mobilisieren und sich einzusetzen für die politische und soziale Emanzipation der Armen und Ausgebeuteten.
»Nein, nein, nein, es sind keine Glocken, nein, nein, sie sind nicht des Todes, sie sind des Lebens, sie sind ein ganzes Volk von Genossen, alle Brüder, Hunderte von Tausenden, für ganz Chile …« – Daniel Vigliettis Lied »Por todo Chile« fasst die kämpferische Stimmung nach der Niederlage wie kaum ein anderes in Text und Ton. Das Unfassbare fassbar zu machen, dazu ist die Kunst ja aufgerufen. »Sie haben die Macht, sie können uns unterwerfen. Aber die sozialen Prozesse lassen sich weder durch Verbrechen noch Gewalt aufhalten«, so Salvador Allende in seiner letzten Rede. Ist das bereits eingelöst? Oder fordert er uns heraus? Ist die heutige Welt nicht ein sehr gefährlicher Ort? Aber das sagten wir auch Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts oder während der Bauernkriege 1525. Ist »Der Triumph des Todes«, den das berühmte gleichnamige Fresko zeigt, etwas anderes als die Fernsehbilder zum Putsch von 1973, als die Hingeschlachteten eng an eng auf der Straße zur Schau gestellt wurden? Gina Pietsch und Fabio Costa standen also vor einer künstlerischen Aufgabe, die Jean Paul einst so beschrieb: »Musik ist Mondlicht in der düsteren Nacht des Lebens.«
Fabio Costa »tastete« sich auf seinem Piano von Volksweisen im Dreivierteltakt bis zur expressionistischen Kavallerie und zu Eisler. Dazwischen ein »Gebet« im Sechsvierteltakt, natürlich in Moll. Daneben die Pietsch, unvergleichlich souverän! Ein positiv wechselhafter Abend, eine Collage aus Anekdoten, Gedichten und eben den großen Liedern. Liedern vom Kampf, von der Niederlage und von der ewigen Liebe. Das darf sentimental sein, aber nie flach romantisierend. Es muss auch mal donnern. Und ja, Pietsch und Costa haben gedonnert. Das Publikum donnerte zurück, mit Applaus. 85 Menschen fanden sich zur Weltpremiere in der Maigalerie ein, die also restlos ausverkauft war. Ein Abend wie das Leben: Freude tanzt mit Trauer, Hoffnung wischt die Tränen weg. »Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt«, wusste Seneca. Und wir wissen es auch.
Nächste Termine unter:ginapietsch.de/neue-programme.html#chile
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