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Aus: Ausgabe vom 12.05.2023, Seite 12 / Thema
Geopolitik der Kaiserzeit

»Wer Kiew hat, kann Russland zwingen«

Beim Übergang zum Imperialismus um 1900 änderte sich das Verhältnis des deutschen Kapitals zum Zarenreich. Seine Vordenker entdeckten die Ukraine als »Randstaat«. Eine Literaturstudie (Teil 1)
Von Arnold Schölzel
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Förderung einer ukrainischen Nationalkultur mit dem Zweck der Zerschlagung des russischen Reichs (k. u. k. Soldaten mit jungen Frauen in ukrainischer Festtracht in Galizien während des Ersten Weltkriegs, undatierte Aufnahme)

Der baltendeutsche Theologe, Publizist und Kolonialbeamte Paul Rohrbach, geboren im damals zaristischen »Kurland«, lebte von 1869 bis 1956. Er reiste in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts viel durch die Welt und wurde durch seine Schriften ungefähr ab 1900 zu einem der einflussreichsten Meinungsmacher der Außenpolitik des Deutschen Kaiserreichs. Von 1903 bis 1906 war er im Kolonialdienst in »Deutsch-Südwestafrika« als Ansiedlungskommissar und Wirtschaftssachverständiger tätig, wusste also vom Völkermord an den Herero und Nama aus erster Hand. 1914 bis 1918 formulierte er im Reichsmarineamt antirussische Kriegsziele, trat in den 20er und 30er Jahren für die Rückgabe der deutschen Kolonien ein und erkannte im Rassismus der NSDAP Geistesverwandtes, übernahm im Faschismus aber keine politischen Funktionen mehr. 1949 bedachte ihn die noch heute in München existierende Ukrainische Freie Universität für sein beharrliches Eintreten für eine unabhängige Ukraine mit der Ehrendoktorwürde, 1952 wurde er Ehrenpräsident der »Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft«. Die Würdigung traf den Richtigen.

Ukraine als neuralgischer Punkt

Rohrbach veröffentlichte bereits 1897 einen Reisebericht »Durch die Ukraine«, aus dem der Jenaer Historiker Claus Remer in seinem 1997 veröffentlichten Buch »Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen« zitiert: »›Alles große Leben in Russland muss versiegen, wenn ein Feind die Ukraine packt …‹« Remer fährt fort: »Wenn man allerdings Russland 50 Jahre in Ruhe lasse, könne es sein, ›dass die ukrainische Frage einschläft‹. Für Rohrbach war also die Ukraine ein neuralgischer Punkt aller wichtigen gesellschaftlichen Vorgänge im Russischen Reich, das mit der ­›ukrainischen Frage‹ keine Ruhe finden dürfe. Diese Frage bestand für ihn, der Vertrauensmann der Politischen und Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes war, darin, nationale Unterschiede und Gegensätze der Ukrainer zu Polen und anderen Nichtrussen, vor allem aber zu den sogenannten Großrussen herauszustellen, vertiefen zu helfen und für eine Zersetzung des einheitlichen Russland auszunutzen. Das bestimmte seine Zusammenarbeit mit Ukrainern, Armeniern und anderen, Russen kritisch oder feindlich eingestellten Vertretern anderer Nationen. (…) Und wenn sie sich überhaupt mit der sozialen Lage der zumeist ukrainischen Landbevölkerung – einem zentralen Problem vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts – beschäftigten, dann fast nur unter dem Gesichtspunkt, dass es russische Großgrundbesitzer und Unternehmer waren, die sie unterdrückten und ausbeuteten. Dieser Aspekt war oft nur ein willkommener zusätzlicher Gesichtspunkt für die angeblich wesentlicheren, unüberbrückbaren nationalen Gegensätze zwischen Russen und ­Ukrainern. In seinem Bericht über die Ukraine schrieb Rohrbach schließlich: ›Wenn aber der Tag kommt, wo Russland das Schicksal herausfordert, und dann hat zufällig dort, wo bei uns die Entscheidungen getroffen werden, jemand so viel Kenntnis von den Dingen und soviel Entschlossenheit, dass er die ukrainische Bewegung richtig loszubinden weiß – dann, ja dann könnte Russland zertrümmert werden. Wer Kiew hat, kann Russland zwingen.‹«

Laut Remer galt Rohrbach im wilhelminischen Deutschland bald als der bedeutendste Ukraine-Spezialist. Ab 1912/13 und besonders im Ersten Weltkrieg habe er sein Thema »zu einer lautstark verbreiteten Russophobie« weitergeführt. Remer schreibt: »Durch solche alldeutsch-chauvinistischen Kräfte und deren propagandistische Unterstützung für alle antirussischen Positionen und Aktivitäten der nationalbewussten Führer in der russischen Ukraine sowie im (Ost-)Galizien der k. u. k. Monarchie sind die schon in früheren Jahren und Jahrzehnten geäußerten Meinungen über die Notwendigkeit einer Zertrümmerung des ›russischen Kolosses‹ und sein Zurückdrängen an und bis hinter den Ural nicht nur neu belebt worden, sondern sie erlangten in der Vorkriegszeit einen viel höheren Stellenwert. Was früher mehr Gedanke als Tat war, bekam mit der vollen Herausbildung der imperialistischen Gegensätze, mit dem Drängen des Deutschen Reiches nach Neuaufteilung Europas und der Welt, mit dem forcierten Aufrüsten in allen imperialistischen Hauptländern und dem Streben führender Vertreter des deutschen Monopolkapitals, der Militärs und alldeutscher Politiker nach einer großen militärischen ›Lösung‹ dieser Gegensätze programmatische, kriegsvorbereitende und -motivierende Bedeutung.«

Zweifel an Revolutionierung

Ergänzt wurde diese Propagandaliteratur laut Remer, der sich u. a. auf Arbeiten von DDR-Historikern zur Kontinuität der deutschen »Ostkunde« bis in die BRD der 50er und 60er Jahre bezieht, durch eine sich damals herausbildende wissenschaftliche Russlandkunde: »Diese Gilde hat einige beachtliche Forschungen und Publikationen hervorgebracht, auf die noch heute zurückgegriffen werden kann. Dennoch gab es gemäß der damals vorherrschenden politischen Gedankenwelt und auch als Ergebnis ihrer eigenen Darstellungen eine Reihe Thesen, die nicht nur dem heutigen Kenntnisstand widersprechen, sondern sich schon damals als negativ prägend für die deutsche Ost-, Russland- und Ukrainepolitik erwiesen. Dazu gehörten unter anderen solche Akzentsetzungen, die den asiatisch-tatarisch-mongolischen Charakter des Russischen Reiches hypertrophierten oder seine gesellschaftlichen, geschichtlichen und kulturellen Leistungen gering veranschlagten beziehungsweise darauf zurückführten, dass Russland ›europäisiert‹, dass die Rolle deutsch-baltischer Barone, deutscher Generale, Wissenschaftler, Kaufleute und Handwerker stark übertrieben und den ›Großrussen‹ zumeist eine destruktive und kulturlose, eine rücksichtslose oder auch passiv-leidende Grundhaltung zugesprochen wurde. Obwohl der Zarismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos das (oder ein) Bollwerk der Heiligen Allianz und der (oder ein) ›Gendarm Europas‹ war, sahen diese Autoren zu wenig die qualitativen Veränderungen seiner Rolle, die nach dem Krimkrieg oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach den Niederlagen im Fernen Osten, mit der Revolution von 1905/06 oder seiner Balkanpolitik 1908/09 eingetreten waren. Außenpolitische, militärtaktische, wirtschaftliche Motive veranlassten die meisten deutschen Ostforscher auch nach der Jahrhundertwende das zaristische Regime noch immer als Bedrohungsfaktor Nummer eins für Deutschland und Europa darzustellen.«

Besonders nach Beginn des Ersten Weltkrieges hätten dann nicht nur alldeutsche Politiker, Ideologen und Publizisten die »monolithische« Einheit des Zarismus, von der bis 1914 letztlich die Reichspolitik ausging, in Frage gestellt. Die Idee der »sogenannten Revolutionierung russischer Randgebiete« sei zum Beispiel im Zusammenhang mit der russischen Revolution von 1905 bei alldeutschen Ideologen »etwas in den Hintergrund« getreten, »weil die Furcht vor einem Überspringen revolutionärer Gedanken und Bewegungen auf das Deutsche Reich, die Imponderabilien und Risiken für deutschen Besitz in Russland, weil die Verbundenheit der Bourgeoisie und Gutsbesitzer beider Staaten und die gemeinsame Bekämpfung aller revolutionär-demokratischen Kräfte bestimmend waren«. Dem folgte der deutsche Kaiser selbst, wie Remer aus einem Bericht der Sächsischen Gesandtschaft vom Dezember 1905 zitiert: »Der Kaiser glaubt, dass die Vorgänge, die sich jetzt in Russland abspielen, nur die Einleitung zu einer fürchterlichen Katastrophe bilden, die das (Russische) Reich in eine Anzahl von Republik auflösen wird. Diese Republiken würden aber eine ständige Gefahr für Deutschland bedeuten, da sie zweifellos noch mehr zu Frankreich hinneigen würden, wie dies bei dem bisherigen absoluten Kaisertum der Fall war.«

Wilhelm II. hatte allen Grund für seine Befürchtungen: Die SPD unter August Bebel und viele deutsche Liberale äußerten Sympathie für die Revolution und prangerten die Massaker der Konterrevolution an. Der Gedanke von den »Randstaaten« des Zarenreichs, den Rohrbach maßgeblich entwickelt hatte, schien vom Tisch.

»Randstaaten«-Idee

Aber die russisch-deutschen Gegensätze verschärften sich nach 1905 mit einer gewissen Unvermeidlichkeit. Der deutsche Imperialismus hatte mit dem Bau der sogenannten Bagdadbahn seit 1899 unmissverständlich seine Ansprüche auf einen »Platz an der Sonne« in Richtung Südosteuropa, Osmanisches Reich und sogar Indien angemeldet. Die zu 40 Prozent von der Deutschen Bank finanzierte, ab 1904 schrittweise in Dienst gestellte Bahn, wurde in London ebenso wie in St. Petersburg zu recht als Machtdemonstration gesehen. Das Zarenreich erhob aber Anspruch auf den Balkan als Einflusssphäre. So kam es nach der Annexion von Bosnien und der Herzegowina 1908 durch Österreich zu wütenden nationalistischen Aufwallungen in Serbien und Russland, die in den Balkankriegen 1912 und 1913 eskalierten. In Deutschland verschärfte sich zugleich die antirussische Propaganda von der »slawischen Gefahr«. Remer fasst zusammen: »Die Reichsleitung, der Generalstab und das Reichsmarineamt, Unternehmerverbände, nationalliberale und deutschkonservative Zeitungen machten aus ihrer Meinung keinen Hehl mehr, dass die deutsch-russischen Interessengegensätze auf dem Balkan und im Nahen Osten nicht mehr friedlich geregelt werden könnten. Immer wichtiger wurden für sie die unmittelbare militärische und psychologisch-propagandistische Kriegsvorbereitung sowie die Pläne für den militärischen Aufmarsch und für den Zeitpunkt des Kriegsbeginns. Eine gewisse antirussische Hysterie betrachteten seit 1912/13 Wilhelm II., Bethmann Hollweg und andere Regierungspolitiker, vor allem alldeutsche Funktionäre und führende Militärs als notwendiges, kriegsförderndes Moment, weil eine demagogische Komponente darin bestand, die sozialdemokratisch beeinflussten Massen des deutschen Volkes leichter für einen Krieg gegen den Zarismus, den Unterdrücker demokratischer und liberaler Kräfte sowie der Befreiungsbewegungen nichtrussischer Nationen, zu gewinnen.«

Die »Randstaaten«-Idee von der Auflösung des zaristischen Reiches wurde Bestandteil der deutschen Politik, nachdem 1912 die Entscheidung zum Krieg gefallen war. Das von Nationalliberalen wie Friedrich Naumann propagierte »Mitteleuropa«-Konzept einer wirtschaftlichen Machtkonzentration, die Deutschland gegenüber Frankreich und England im Westen sowie gegenüber Russland im Osten zur Führungsnation machen sollte, bezog nun auch die Eroberung und Ausbeutung Südosteuropas und des Nahen Ostens ein. Das deutsche Kapital litt an Überdehnungssucht und Größenwahn. Remer zitiert Kurt von Mangold (Bund der Industriellen), der 1912 schrieb, »dass erst die (wie auch immer geartete) ›Niederzwingung einer oder mehrerer Großmächte und speziell der französisch-englischen Macht‹ Freiraum für die deutsche Wirtschaft bringen werde«. Mangold orientierte auf einen großen mitteleuropäischen Wirtschaftsverband einschließlich Österreich-Ungarn und dem »ganzen europäischen Südosten samt dem anschließenden Vorderasien«. Es gehe um Rohstoffe, Lebensmittel und Absatzmärkte. Deutschland werde »bei einem solchen Werke die Führerrolle mit all ihren ungeheuren Vorteilen zufallen«. 1888 hatte Otto von Bismarck noch einen damaligen deutsch-russischen Pressekrieg als »Druckerschwärze auf Papier« abgetan, nun erhielt die antirussische Propaganda einen anderen Stellenwert. Das Ukraine-Thema nahm noch keinen zentralen Platz ein, aber, so Remer, »diese hochgespielte Problematik wurde ebenfalls eines der Reizthemen in den deutsch-russischen Beziehungen und bereitete politisch den Boden für eine wenig später aktiv betriebene Ukrainepolitik des deutschen Imperialismus vor. Die politisch und insbesondere die militärisch Herrschenden in Deutschland wollten nicht nur den großen Krieg zu einem für sie günstigen Zeitpunkt vom Zaun brechen, sondern er sollte mit der Kriegserklärung an Russland begonnen und nach dem modifizierten Schlieffen-Plan geführt werden. Auf eine andere ›Eröffnungsvariante‹ waren sie so gut wie nicht eingestellt«.

Nach Auslösung des Krieges erhielt die kaiserliche Regierung eine Flut von Kriegszieldenkschriften konservativer Parteien, Organisationen und Unternehmern, in denen im Osten zunächst das zaristisch besetzte Kongresspolen und das Baltikum im Vordergrund standen: Die Grenzen Russlands sollten nach den Wünschen der Alldeutschen und des Krupp-Direktors Alfred Hugenberg so weit wie möglich nach Osten verschoben werden. Andere forderten, einen Pufferstaat im Osten Deutschlands. Charakteristisch war eine Denkschrift, die der Industrielle August Thyssen über den ­Zentrumspolitiker Matthias Erzberger am 9. September 1914 an Reichskanzler Bethmann Hollweg übersandte. Darin hieß es ohne Rücksicht auf die Geographie: »Russland muss uns die Ostseeprovinzen, vielleicht Teile von Polen und das Dongebiet mit Odessa, die Krim sowie asowisches Gebiet mit dem Kaukasus abtreten, um auf dem Landwege Kleinasien und Persien zu erreichen. Sie werden diese Ansicht vielleicht für undurchführbar halten. Dennoch werden wir nur dann eine Weltmachtstellung erreichen können, wenn wir jetzt nach dem Kaukasus und Kleinasien kommen, um England in Ägypten und Indien, wenn erforderlich, erreichen zu können.«

Sonderlager für Ukrainer

Nach dem Scheitern der deutschen Pläne, in kurzer Frist und mit zahlreichen Annexionen zu siegen, ging die Zahl solcher Denkschriften zurück. Zudem zeigte sich, dass die »Wunderwaffe« (Remer) der Aufwiegelung von »Randvölkern« Russlands nicht zog. Insbesondere in Wien hatte die politische und militärische Führung darauf gesetzt, dass sich in der Ukraine eine Aufstandsbewegung gegen Russland organisieren ließe. Statt dessen erlitt Österreich schwere militärische Niederlagen. Wenig Effekt hatte auch die Einweisung ukrainischer Kriegsgefangener in spezielle Lager in Deutschland. Ab 1915 wurden sie ebenso wie Polen, Georgier, Finnen und Moslems von den russischen Soldaten zum Teil getrennt und bei besserer Unterbringung und Verpflegung zusammengeführt. Für Ukrainer gab es dort antirussische Unterrichtung über ukrainische Geschichte, Sprache und Kultur. Die Lager für Ukrainer befanden sich in Rastatt, Wetzlar, Salzwedel und Hannoversch Münden. Große Erfolge gab es nicht.

Das spiegelt sich auch in einem von Remer zitierten Brief Lenins wider, den dieser Ende Januar 1917 an Ines Armand schrieb: Er habe sehr interessante Gespräche mit zwei in die Schweiz geflüchteten Kriegsgefangenen geführt. Der eine, ein Bauer aus dem Schwarzerdegebiet (Woronesch), »war ein Jahr in deutscher Gefangenschaft (im allgemeinen ist es dort grauenhaft) in einem Lager für 27.000 Ukrainer. Die Deutschen – haben gewandte Agitatoren aus Galizien zu den Ukrainern geschickt. Und die Ergebnisse? Nur 2.000 Ukrainer, sagt er, waren für die ›Unabhängigkeit‹ (Selbständigkeit mehr im Sinne von Autonomie als von Separation). Und das nach monatelangen Anstrengungen der Agitatoren! Die übrigen seien bei dem Gedanken an eine Lostrennung von Russland und an einen Übergang zu den Deutschen oder Österreichern in Wut geraten. Eine bedeutende Tatsache! Man kann nicht umhin, es zu glauben: 27.000 ist eine große Zahl. Ein Jahr ist eine lange Zeit. Die Bedingungen für die galizische Propaganda waren äußerst günstig. Und dennoch hat ihre Verwandtschaft mit den Großrussen die Oberhand behalten! Daraus folgt natürlich nicht im geringsten, dass die Losung ›Freiheit der Lostrennung‹ falsch ist. Im Gegenteil.« (Lenin: Briefe, Band IV, Seite 374/375) Karl Liebknecht charakterisierte die Sonderlager schon 1916 als »Seelenfang«, als »Pressen wehrloser Gefangener zum Landesverrat in deutschen Gefangenenlagern« und nannte es eine »amtliche deutsche Fabrikation von Revolutionären für das feindliche Ausland«.

Sozialdemokratische Mithilfe

Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten laut Remer rechte Sozialdemokraten auch im Hinblick auf die ­Ukraine längst auf Rechnung und im Auftrag von Reichsregierung und Heeresleitung. 1914 hatte noch Zurückhaltung geherrscht: »Die Mehrheit der Funktionäre von SPD und Gewerkschaften stimmte im großen und ganzen den Kriegszielen (Hauptgegner England, Vorherrschaft in Mitteleuropa, ›Weltmarktinteressen‹, Kolonialbesitz, ›Verteidigungskampf‹ Deutschlands) zu. Aber auffällig war, dass die SPD hinsichtlich der Kriegsziele ›im Osten weitgehend Stillschweigen‹ übte oder bereit war, ›die dortigen territorialen Veränderungen als ›Befreiung‹ der Völker vom russischen Joch zu akzeptieren‹. Damit und mit der Übernahme der These vom Bedrohungsfaktor Russland (z. B. in Friedrich Stampfers Artikel vom 30. Juli 1914, in dem er die Deutschen vor den ›kosakischen Bestialitäten‹ warnte) oder mit der Akzeptanz, dass auch im Osten deutsche ›Sicherheitsinteressen‹ wahrgenommen werden müssten, befand sich die Mehrheitssozialdemokratie prinzipiell im Gleichklang mit der offiziellen deutschen Ostpolitik.«

Im Verlauf des Krieges traten einige Sozialdemokraten sogar an die Spitze, um die »Randstaaten«-Konzeption, also die Auflösung Russlands, zu verwirklichen. Remer: »Die deutsche Regierung bediente sich auch der Angebote solcher rechten, oder, wie es amtlich oft hieß, gemäßigten Sozialdemokraten, wie Alexander Helphand (Parvus), Dr. Albert Südekum und Dr. Eduard David. Südekum war ein eifriger Verteidiger der deutschen Kriegsziele in Ost- und Westeuropa und unterhielt enge Kontakte zu antirussisch und nationalistisch eingestellten Ukrainern, worüber er solche Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, wie vor allem Nadolny, Wesendonk und von Bergen, informierte. Er entwickelte Anschauungen, die denen von Rohrbach schon sehr nahe standen.« Südekum wurde 1915 vom Auswärtigen Amt nach Bukarest geschickt, »um von hier mit Hilfe einiger russländischer Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Revolutionierungsversuche in der Ukraine und anderen Gebieten des zarischen Reiches zu unternehmen, was so gut wie nicht gelang. Wenige Jahre später, im Juli 1918, drängte Südekum darauf, das militärisch und wirtschaftlich wichtige ›Rekrutierungsgebiet‹ Ukraine unbedingt für das Deutsche Reich zu erhalten und ›den Schatz nicht aus unserer Hand zu lassen‹. Am 10. Oktober 1918 formulierte Südekum sein Ukraine-Programm, das fast wortgleich am gleichen Tage vom Staatssekretär des Auswärtigen Amts, W. Solf, übernommen und an den deutschen Botschafter in Kiew, A. Mumm von Schwarzenstein, geschickt wurde. Einige der insgesamt acht Punkte lauteten wie folgt: ›1. Die Ukraine als selbständiger Staat und unsere Vormachtstellung darin werden nach Möglichkeit gehalten (…) 4. Die großrussischen Elemente und die Ententeagenten werden aus der Ukraine entfernt. 5. Die Ukraine wird veranlasst, uns offiziell zu ersuchen, unsere Truppen auch weiterhin bis zur Festigung der Lage in der Ukraine zu belassen.‹«

Zu dem einst mit dem Nimbus eines russischen Revolutionärs in der deutschen Arbeiterbewegung aufgetauchten Helphand, der im Weltkrieg für die politische Sektion des Großen Generalstabs arbeitete und dafür Millionen Mark erhalten haben soll, heißt es bei Remer: »Der zwielichtige Helphand war ein eifriger Verfechter der Dekomposition Russlands, was sich in seiner umfangreichen Denkschrift deutlich zeigte, die er am 9. März 1915 dem Auswärtigen Amt übergab. Er schlug hier für die Ukraine und Südrussland vor, von Bulgarien und Rumänien aus Streiks in Odessa, Nikolajew, Sewastopol, Rostow am Don und in anderen Städten zu organisieren. (…) Er dachte auch an die Möglichkeit einer Meuterei in der russischen Schwarzmeerflotte, an Streiks in den Bergwerken des Donezgebietes und nahm in einem besonderen Abschnitt Stellung zu den Bedingungen einer Bauernbewegung in der Ukraine gegen den russischen Großgrundbesitz sowie der damit zusammenhängenden Möglichkeit einer anwachsenden Forderung nach nationaler Autonomie oder sogar Unabhängigkeit der Ukraine.«

Helphand veröffentlichte Ähnliches auch in der von ihm in München herausgegebenen sozialdemokratischen Halbmonatsschrift Die Glocke. Dort setzte er sich zum Beispiel 1915 dafür ein, so Remer, »dass die Ukrainer (wie schon die Polen) antirussische Legionen bilden können, erinnerte an die von ihm und russischen Sozialdemokraten 1904/05 geschmiedeten ›Pläne des Aufstandes der Kriegsflotte im Schwarzen Meer‹ und an seine Position 1914/15 ›auf der Seite des deutschen Generalstabs‹, um die vom Zarismus ›geschaffene staatliche Zentralisation zu beseitigen‹ und um den ›Kampf der Ukraina um ihre politische Selbständigkeit sowie die Befreiung sämtlicher Nationen vom Zarismus‹ zu erreichen. Er schrieb in seiner zuspitzenden Art: ›Wenn das ›Selbstbestimmungsrecht der Völker‹ als oberster Grundsatz dienen soll, so müsste man die Polen und Juden, die Litauer, die Finnländer, die Ukrainer, die Georgier, die muselmanische Bevölkerung des Kaukasus und die anderen unterdrückten Nationen Russlands erst fragen, ob sie unter der Herrschaft des Väterchens Zar verbleiben wollen. Und wenn sie es nicht wollen, was dann? Soll die deutsche Armee sich aus Polen zurückziehen, um dort die Kosaken einmarschieren zu lassen, die mit Nagaikas und Maschinengewehren der Bevölkerung russischen Patriotismus einbläuen werden?‹«

Die Nationalitätenfrage war, resümiert Remer, ein wichtiger Aspekt im zaristischen Völkergefängnis, die Ideologen, Politiker und Militärs der Mittelmächte überschätzten aber deren Bedeutung. Es gelang ihnen, einige Tausend der rekrutierten ­ukrainischen Gefangenen in eigene Einheiten an die Ostfront zu bringen, allerdings verließen diese Soldaten dort entweder die Truppe oder wurden wegen Unzuverlässigkeit von den eigenen Kommandeuren nach Hause geschickt. Remer fasst zusammen: »Es erwies sich, dass in den Jahren des Ersten Weltkriegs und vor allem 1917/1918 für die Volksmassen noch aktuellere, wichtigere Fragen im Vordergrund standen: Frieden, Brot, Land und die Durchsetzung demokratischer Umgestaltungen in der ganzen Gesellschaft, nicht nur in der Nationalitätenpolitik. Das wurde in ihrer Bedeutung von ukrainischen nationalbewussten Kräften in der Ukraine (Rada) nicht richtig erkannt, erst recht nicht von den in den Zentralmächten wirkenden und agierenden Ukrainern, so dass sie nicht den notwendigen Massenanhang erhielten.«

1918 bedeutete für den deutschen Imperialismus und sein Verhältnis zur Ukraine: Der Kaiser ging, die Rohrbachs blieben. Seit 1917 verschmolz die Russophobie mit dem Antisowjetismus. Rohrbach schrieb noch 1953 in seinen Memoiren: »Von Beginn des (Ersten Welt-)Krieges an hatte ich mein ganzes Bemühen darauf gerichtet, klarzumachen, dass der entscheidende Ansatzpunkt für den Aufbau eines gesunden osteuropäischen Staatensystems in der Ukraine und im ukrainischen Volkstum lag – dort, wo es heute noch liegt.«

Claus Remer: Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen. Ende des 19. Jahrhunderts bis 1917/18, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1997

Teil 2 der Literaturstudie erscheint am kommenden Freitag, dem 19. Mai

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