Diktat nach Belieben
Von Frederic Schnatterer
Chiles Linksregierung hängt in den Seilen. Um so mehr seit dem Erdrutschsieg rechter und ultrarechter Kräfte bei der Wahl zum Verfassungsrat am Sonntag. Alles deutet darauf hin, dass der sozialdemokratische Präsident Gabriel Boric, der über keine Mehrheit im Parlament verfügt, in den kommenden Monaten von der Rechten vor sich hergetrieben werden wird.
Die noch vor der Abstimmung getätigte Aussage der kommunistischen Regierungssprecherin Camila Vallejo gegenüber der spanischen Tageszeitung El País, Boric werde sich in seinem Kurs nicht vom Wahlergebnis beeinflussen lassen, ist wenig glaubhaft. Zu eindeutig war das Ergebnis. Mit 3,5 Millionen Stimmen gewann die ultrarechte Partei Republikaner des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast rund 35 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie wird 23 der insgesamt 51 Sitze in dem Gremium besetzen, das eine neue Verfassung für Chile ausarbeiten soll. Zusammen mit dem Bündnis »Chile Seguro« kommt die Rechte auf 34 Sitze. Mit der Zweidrittelmehrheit im Rat kann sie den Inhalt eines neuen Verfassungsentwurfs nach Belieben diktieren.
Paradoxerweise wird also das voraussichtlich künftige Grundgesetz des südamerikanischen Landes, das die noch aus Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) stammende Konstitution ersetzen soll, von Ultrarechten und Pinochet-Apologeten geschrieben werden. Kast, Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, gilt als Bewunderer des faschistischen Diktators. Ein progressiver Text, wie er von den im Rahmen der Massenbewegung ab Oktober 2019 Protestierenden gefordert worden war, ist in weite Ferne gerückt. Dass es so kommen würde, war bereits zuvor absehbar gewesen, dass die Niederlage für die Linke so heftig ausfallen würde, allerdings nicht. Bereits die Schlappe beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr, bei dem eine klare Mehrheit gegen einen in weiten Teilen fortschrittlichen Entwurf gestimmt hatte, zeigte, wie gut sich die Rechte nach der Revolte von 2019 erholen konnte.
Über die Gründe dafür herrscht Uneinigkeit. Soziale Bewegungen werfen der Boric-Regierung vor, sich seit ihrem Amtsantritt im März 2022 immer weiter von der Basis entfernt zu haben. Die Regierung habe den Verfassungsprozess kooptiert und so ein Kapern durch rechte Kräfte erst ermöglicht, indem nach der Niederlage im Referendum beschlossen worden war, einen neuen Entwurf durch »Experten« und Vertreter politischer Parteien ausarbeiten zu lassen. Die von Boric Enttäuschten riefen dementsprechend am Sonntag, an dem Wahlpflicht herrschte, zur Abgabe ungültiger Stimmen auf. 22 Prozent der Wähler folgten dem Aufruf. Das Bündnis »Unidas para Chile«, dem die Regierungsparteien Sozialistische Partei, Kommunistische Partei und Frente Amplio angehörten, kam gerade einmal auf 16 Sitze im Verfassungsrat, von denen die Kommunisten die meisten gewinnen konnten.
Am Dienstag (Ortszeit) forderte der Vorsitzende der rechtskonservativen Unión Demócrata Independiente (UDI), Javier Mayaca, ein Überdenken der Regierungspolitik. Laut Tageszeitung La Tercera erklärte er, es wäre »bedauerlich«, wenn die Regierung so täte, als sei am Sonntag nichts geschehen, und statt dessen so weitermache wie bisher. Auch Mayacas Parteifreund und Senatspräsident Juan Antonio Coloma bezeichnete Konsequenzen aus dem Wahlausgang als »unvermeidlich«. Das Ergebnis stelle »objektiv gesehen einen sehr wichtigen Triumph für die Opposition und eine Niederlage für die Linke« dar. Priorität für die Regierung müssten nun die Themenbereiche Beschäftigung und innere Sicherheit haben.
Gerade das Beispiel »innere Sicherheit« zeigt, wie sehr die Rechte die Agenda in Chile bereits bestimmt. Im April beschloss das Parlament angesichts steigender Kriminalitätsraten ein Gesetz, das den für ihre Gewalt berüchtigten Polizeikräften der Carabineros weitgehend freie Hand im Umgang mit vermeintlichen Verbrechern lässt. Künftig wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass der Einsatz der Dienstwaffe gerechtfertigt war. Die Strafen für Gewalt gegen Einsatzkräfte wurden deutlich angehoben. Die Gegenstimmen eines Großteils von Kommunisten und Frente Amplio konnten die Neuerung nicht verhindern.
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