Milieu und Vorstellung
Von Ken Merten
Die Entropie: »Kaum merklich, über Jahre, schleicht es sich ein. Man weiß nicht, was. Mit spitzen Fingern zieht man die Folie ab, vorsichtig, als zöge man ein Häutchen vom Licht. Man hat es geahnt. Die Haltung lässt nach, der Atem wird schlecht, die Stimme matt. Man sieht nicht mehr in den Spiegel, vergisst seinen Geburtstag, ruft nicht zurück. Die Haut wird stumpf, der Blick trüb, die Fußnägel wachsen ein, und plötzlich ist sie verschwunden, die sonst so helle Freude über das erste Birkengrün im Jahr, das Weiß des ersten Schnees … Und dann, nach Unzeiten, kommt sie wieder. Am Morgen nach der Heilung. Am Abend vor dem Tod.« So heißt es gegen Ende von Ralf Rothmanns Roman »Hitze«. Das Buch wird 20, der Autor nunmehr 70 und sein Stammverlag Suhrkamp hat letzteren Jahrestag keineswegs vergessen, sondern Rothmann mit »Theorie des Regens« ein vom Geburtstagskind selbstverfasstes Geschenk gemacht. Die Notatsammlung ist Werkschlüssel für eine eh offene Tür.
Traumata und Erbe
Auch wenn sie es als Berufsqualifikation nicht brauchen, gibt es Autorinnen und Autoren mit wechselvoller, ereignisreicher Vita: schreibende Exilanten, Kriegsteilnehmer, soziale Auf- und Absteigerinnen, hauptamtliche Politiker. Rothmann selbst war und ist nichts dergleichen – seinen Wandel vom Proletarier zum Kulturproduzenten in Vollzeit als ungewöhnlichen bundesrepublikanischen Werdegang einmal ausgenommen. »Aber es war schon so, dass ich das seltsame Phänomen hatte, dass ich mehrmals im Jahr träumte, erschossen zu werden«, sagte er Deutschlandfunk Kultur anlässlich der Vergabe des Heinrich-von-Kleist-Preises im Jahr 2017. »Und ich habe nie in die Mündung einer Pistole geguckt. Ich fragte mich immer, woher kommen diese Träume. Und dann hat mir mal ein befreundeter Arzt gesagt, dem ich das erzählt habe – nicht aus therapeutischen Gründen, einfach als Anekdote – der sagte, na ja, du hast wahrscheinlich so eine Traumavererbung.«
Rothmann kommt als Nachkriegskind am 10. Mai 1953 in Schleswig zur Welt. Die Eltern verdingen sich als Melkerin und Melker, ziehen aber nach der Geburt von Ralfs Bruder nach Oberhausen. Der Vater – gebürtiger Essener – arbeitet sich dort als Bergmann kaputt, wird mit der Verrentung aus Scham vor der scheinbaren und abrupten Überflüssigkeit Alkoholiker und stirbt früh. Die Mutter kellnert und leistet die Reproduktionsarbeit. Sie ist eigentlich gebürtige Danzigerin – über ihre Vergewaltigung gegen Kriegsende schreibt und redet Ralf Rothmann von Mal zu Mal, vor allem sein bis dato letzter Roman »Die Nacht unterm Schnee« verarbeitet das Thema der Vergewaltigung durch Angehörige der vordringenden Sowjetarmee. Mehr dazu später.
Seinen Vater habe er, wie er der Rheinischen Post zum Anlass der Veröffentlichung des Romans im vergangenen Jahr berichtete, »geliebt – und zwar vorbehaltlos auch dann noch, als er nur noch betrunken war und schreckliches Bildzeitungs-Gequatsche von sich gab«, während der Mutter ob des Missbrauchs, den sie als 16jährige erlitt, »fast jedes Gefühl dafür fehlte, welches Leid sie anderen zufügte. Ängstlich und frech wie ein Spatz und brutal wie eine Katze. Sie hat uns Kinder oft blutig geschlagen.«
Erhöhung der Schlagzahl
Dem Haushalt mit der promiskuitiven und am Rande des Nervenzusammenbruchs stehenden Mutter und einem von der harten Lohnarbeit dauererschöpften, fast mönchisch stummen Vater, entflieht Rothmann als Langhaariger und früh mit 18. Rock ’n’ Roll, ja, allerdings verschlägt es ihn nicht an die Universitäten mit ihren linken Lesezirkeln und SDS-Gruppen. Rothmann wird, was seine Eltern sind: Arbeiter der Hand. Er macht eine Lehre zum Maurer, malocht in einer Großküche und als Hilfspfleger in Essen. 1976 zieht er nach Westberlin und bestreitet seinen Unterhalt durch Gelegenheitsjobs – die Freizeit investiert in er ins lyrische Schreiben, überschüssiges Geld in Reisen. 1986 erscheint mit der Erzählung »Messers Schneide« der Erstling, ein Jahr später der für den nicht wenig vom Beat bewegten Poeten selbstverständlich mit freien Versen gebaute Lyrikband »Kratzer und andere Gedichte«. Erst in den 1990er Jahren nach Veröffentlichung des ersten Romans »Stier« (1991) geht mit der Etablierung als Autor der hierzulande höher als Gedichte oder Kurzprosa gehandelten Warenform Roman die Möglichkeit einher, sich auf das Schreiben allein zu konzentrieren. Als Stadtschreiber von Bergen (1992/93) oder durch Aufenthaltsstipendien in Oberlin (Ohio, USA, 1994) und Essen (1999/2000) bieten sich dazu mindestens mittelfristige Möglichkeiten.
Die Verschiebung vom Feierabend-, zum Vollzeitautoren macht sich an der Schlagzahl der Publikationen bemerkbar. Auch wenn Rothmann betont, dass er Texte vor Veröffentlichung mehrmals und intensiv überarbeitet, hat er doch nunmehr zehn Romane (allesamt mit je gut 200 Seiten kurz, aber nicht knapp), vier Kurzgeschichten-, zwei Lyrikbände, dazu einzeln publizierte Erzählungen und mit »Berlin Blues« (1997) ein Schauspiel geliefert.
Zuwachsende Sätze
Nimmt man sich Rothmanns Biographie und die seiner Eltern her, hat man bereits das Gros des Stoffs, das er behandelt. »Phantasie ist meine Sache selten«, hält er in »Theorie des Regens« fest, »meine Erlebnisse und Erfahrungen sind der Boden, aus dem mir die Sätze zuwachsen, und so zu arbeiten schien mir immer ein Gebot der Redlichkeit zu sein.« Mit Ausnahme einiger mystizistisch-angelegter Kurzgeschichten, finden sich Phantastik und Avantgardismus in seiner Prosa höchstens als eingeflochtene Episode oder als Rahmen einer Romanhandlung: etwa der barocken Bezugnahme auf den 30jährigen Krieg in »Der Gott jenes Sommers« (2018) oder durch die Untertagewanderung in »Junges Licht« (2004), deren Opazität an die Kafka-Epigonin Ilse Aichinger erinnert. Einzig die O-Töne der geistesverwirrten Mutter in »Flieh, mein Freund!« (1998) sind direkt in die Handlung eingezogen, auch wenn die Herausnahme des Teils nicht dazu führen würde, dass im Plot eine Lücke entstünde. Der Roman wäre allerdings um das Beste an ihm ärmer.
Während die sogenannten Ruhrgebietsromane, beginnend mit »Stier«, offensichtlich aus dem Erlebten in der Montanregion schöpfen, die Berlinromane »Hitze« (2003) die Plackerei in einer Großküche und »Feuer brennt nicht« (2009) Leben und Leiden eines alternden Berufsschriftstellers zeigen sowie in den drei letzten Romanen Elternbiographisches angeeignet und aufgearbeitet wird, ist »Flieh, mein Freund!« der mit Abstand am wenigsten autofiktionale Langtext Rothmanns. Der Roman, der auf der Makroebene am meisten der Phantasie (im Wortsinne von »Vorstellung«) entsprungen und poetisch (im Sinne von »erschaffen«) ist.
Unmann und Mann
Dabei ist »Flieh, mein Freund!« (der Titel ist ein Zitat aus dem Hohelied Salomons im Alten Testament) sichtlich Kind seiner Zeit und als solches wiederum uneigenständiger im Vergleich zur sonst literarischen Moden gegenüber sehr unachtsamen Schreibe Rothmanns. Dass die ausgehenden 1990er Jahre den Christian Krachts und Benjamin von Stuckrad-Barres gehören, lässt sich auch hier erkennen.
Der Ich-Erzähler über weite Strecken ist der 20jährige Louis »Lolly« Blaul, Ergebnis eines Unfalls im Schlafsack nach einer Anti-AKW-Aktion. Von seinen Eltern ist nur die Mutter Hippie geblieben, der Vater führt eine Werbeagentur und unterhält für sich und seinen Sohn eine Eigentumswohnung in Berlin. Ein relativer Wohlstand also. Popliterarisch-Flapsiges fusioniert hier fortwährend mit Rothmanns an Kitsch grenzenden und diese Grenze häufig auch übertretenden Ton: »Ich meine jetzt das Weiblich-Schöne, das uns hinanzieht und so. Das macht mich vollkommen fertig. Manchmal denke ich, die Silhouette einer Frau ist schon ihr Heiligenschein.« Hier sind wir auch beim Thema, bei dem man sich wundert, dass es einen ganzen Roman tragen soll: Denn Lolly verliebt sich in die füllige Vanina und ihr Körper wird für ihn Anziehung und soziales Ärgernis zugleich; nicht zuletzt, weil sich der Ödipuskomplex in Lolly meldet, fühlt er sich doch an die gescheiterte Beziehung zwischen seinem adipösen Vater und der so ranken wie unberechenbaren Mutter erinnert.
Das Coming of Age bricht hier die Mackerperspektive, denn Lolly mag zwar einerseits weibliche Schönheit als »Nahkampfbereich« bezeichnen, indem er sich aber selbst ehrenhalber die Titel »Professor Dr.« verleiht, scheint sein Machismo doch durch Selbstironie angetastet, fragiler wirkt er noch durch ein Übermaß an Schüchtern- und Unbeholfenheit, körperlich durch einen leichten Silberblick gezeichnet. Als er in der Schlange stehend und im moralischen Dilemma steckend einer Kassiererin nicht zu Hilfe eilt, die einem Obdachlosen den gestohlenen Schnaps abnehmen will, wird Lolly seine Männlichkeit abgesprochen. Von Rothmann mittradierte, höchstens an ihren Spitzen gebrochene Geschlechterrollenbilder sind auch dort prägend, wo er gegen eines der Lieblingsziele der Popliteratur pöbelt: Thomas Mann. Scheitert Krachts Hauptfigur im Schlusskapitel von »Faserland« (1995) daran, dessen Grab in der hereinbrechenden Dunkelheit ausfindig zu machen und damit endgültig bei seiner Sinnsuche, geht es bei Rothmann weit pejorativer und plebejischer zu. Lolly verachtet Mann, den »Arsch«, dafür, dass der sich in privaten Eintragungen abfällig über eine korpulente Frau im Zug auslässt; so sehr, dass er Vaninas attraktiver Mitbewohnerin Mara beim Umzug unmännlicherweise nicht dabei hilft, die Mann-Werke zu tragen, woraufhin Unweibliches geschieht: »(…) sie strengte sich beim Hochheben des Vielsagenden derart an, dass ihr ein langes, eindeutiges Geräusch entfuhr.« Uff. »Wenigstens das muss ich dem Werk des modernen Klassikers also verdanken: zum ersten Mal eine furzende Frau erlebt zu haben.«
Heller als Intelligenz
Humor ist eine tragende Ebene bei Rothmann: Zwar nicht in »Flieh, mein Freund!«, aber in seinen anderen Romanen, spielen sie nun im Pott, in Berlin oder am Ausgang des Zweiten Weltkriegs irgendwo im bald besiegten Deutschen Reich, steht ein weiter Teil des Personals am Rande des Analphabetismus und das Gros ist kaum in der Lage, sein Inneres zu artikulieren. Trotz mangelnder rhetorischer Fähigkeiten aber sind sie zumeist gewitzt, schlagfertig und alltagsphilosophisch unterwegs.
Im Roman »Hitze« lässt sich der Kameramann Simon DeLoo nach großem Verlust in einer Großküche anstellen. Beim Almosenausliefern überschüssigen Essens an Wohnungslose lernt er die Polin Lucilla kennen. »Sie war nicht eigentlich hübsch«, heißt es später, nachdem DeLoo sich bereits eine längere Zeit um die Streunerin bemüht hat. »Der Mund war voll, die Oberlippe hatte einen nahezu florentinischen Schwung, und eine warme Klarheit war um Stirn und Augen herum, etwas Helleres als Intelligenz.« DeLoo hatte ihr Kleidung, wahrscheinlich die seiner verstorbenen Frau, mitgebracht, deren passgenaue Größen Lucilla lobt. »Nur die Büstenhalter sind etwas zu groß. Ich habe fünfundsiebzig A, nicht B«, sagt sie und er erwidert: »Oh, wirklich?« Sie: »Macht aber nichts. Trag selten welche. Und wenn, hab ich Platz für den Steuerbescheid …« Er: »Du hast was?« Sie: »Vergiss es. Ein dummer Witz aus Polen, kann ich nicht erklären, von wem sind die Kleider?«
Das Motiv des männlichen Retters aus der Not wird hier bemüht und nur teils gebrochen, indem Lucilla den emotional Versehrten aus einer körperlichen Konfrontation vor einer Berliner Kneipe rettet. Im Gegenzug hilft er ihr, als sie übel zugerichtet Zuflucht bei ihm sucht.
Beide verlassen Berlin, gehen aufs polnische Land, Analsex am See inklusive – oder wie Rothmann Lucilla sagen lässt: »Ein Schmerz, der schön macht. Hab ich nicht einen hübschen Po?« Rothmanns Humor, wie man sieht, geht mitunter auf den Rücken seiner Figuren und der mit ihnen vermittelten Haltung des Autors, die da mindestens Klischees bedienen will und im Falle von Klasse und Milieu zur Authentifizierung dient, im Falle von Geschlecht, wie hier bei der willig Schmerzen während der Penetration erduldenden Lucilla, oftmals konstruiert-sexistischer Pornographie.
Zweierlei Schmierigkeiten sind das: Die als Milieustudien durchaus gelungenen Adelungen von Elend sind mindestens handwerklich verkraftbar; die Phantasien des Autors, der in »Flieh, mein Freund!« voyeuristisch urinierende Frauen vor Publikum in Form von Lolly austreten lässt, ohne dabei noch Kopf und Schreibhände frei zu haben, um trotz betonter Überarbeitungswut zu korrigieren, dass ein »Silberstrahl« eben nicht »ins Becken rieselte«, sonst wäre er kein Strahl gewesen. Was jemand wissen müsste, der weiß, dass Feuer nicht brennt.
»Armut macht genial«, sagt ein Saufkumpane von DeLoos proletarisch-philantropischem Kollegen Klaputzek – und er meint damit nicht Geistesarmut.
Obendrauf Eiter
Abstraktion und Konstruktion sind die Pole, zwischen denen sich Rothmann bewusst bewegt. Ständig tönt irgendwo ein Vogeltier; oder ein Hundebellen schallt her. Regelmäßig herrscht ein Eindruck nur »momentlang« oder einen »Lidschlag lang« – sprachlich selbst und bewusst diskrepant, sorgen die Einschübe doch gerade dafür, dass sich das Momentum bei den Lesenden festhält –, auch wenn gerade Fäkalien fabriziert oder fabuliert werden. Als wäre es nötig, ist ausgespuckter Schleim dann schon mal ein »eitriger«.
Als in »Junges Licht« – 2015 von Adolf Winkelmann verfilmt – der zwölfjährige Ich-Erzähler Julian bei einer Gesprächsrunde mit einem Autoren vor dem Fernseher einnickt, erinnert er sich nach Wiedererwachen an eine Formulierung des Interviewten, die ihm außerordentlich gefällt, obwohl er begrifflich nichts damit anzufangen weiß: »Stille Feiung«. Mit dem Vorbegrifflich-Poetischen, das das Kind registriert, dem Nonkonfessionell-Festlichen des Adjektivs und dem der Umgangssprache entzogenen Biologisch-Vulgären (an der erwünschten Immunisierung eines Organismus durch Keiminfektion, die sich hinter der Feiung verbirgt) umreißt hier Rothmann sein Œuvre selbst. Eine andere Dimension, die politische, bleibt hier außen vor; bundesdeutsche Fahnen auf halbmast wehen in »Junges Licht« des Mauerbaus in Berlin wegen auch nur im Hintergrund auf der Zeche.
Besonders dieser Roman vermittelt Expertise und Sicherheit im Stoff, wenn Julians Vater in eine Wutrede verfällt, weil er die Arbeitsorganisation im Stollen für gefährlich mangelhaft erachtet: »Das Hangende ist durchgebrochen. Abstand der Vorbohrkappen ein Meter fünfzig. Also alles umstempeln, zack. Wo ein Panzer auf Kohle liegt, muss die Hobelgasse gut durchgeschossen werden, sonst kracht der Mist doch zusammen! Aber meinst du, da kommt mal was von oben? Funkstille.«
Wie Lolly ist Julian ungesund schüchtern. Hier aber ist der Protagonist dem Autor nicht nur in Sachen Geburtsjahr näher; in »Junges Licht« entspricht die Mutter stark dem, was Rothmann über seine eigene schildert: Sie zerschlägt vor Zorn komplett enthemmt Holzlöffel auf dem Hintern ihres Sohnes. Julian ist trotzdem enttäuscht, aus Geldmangel nicht mit ihr und seiner kleinen Schwester Sophie in den Urlaub an die Küste mitfahren zu können. So bleiben er und sein Schichten schiebender Vater, dessen Blutgruppe Julian ablesen kann, weil sie den Mitgliedern der Waffen-SS nach der Rekrutierung eingestochen wurde, zu Hause.
Julian erfährt Langeweile, Ärger durch falsche Freunde und wird vom pädophilen Vermieter bedrängt. Nach all dem lässt Rothmann den alten Kauz, auf dessen Hof sich Julian eine Hütte erbaut hat, im Nachgang eines abgebrochenen Weglaufversuchs zum Jungen das sagen, was Rothmanns Plädoyer seit jeher ist: »Das ganze Universum ist vollkommen, verstehst du. Man kann nichts wegnehmen und nichts dazutun. Du bist längst tot und wirst immer leben. (…) Und wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.«
Determinierte Freiheit
Die Freiheit wählen, obwohl gar nichts zur Wahl steht: Wenn schon das Proletariat in der Bundesrepublik wenig mehr zu entscheiden hat, als sich wenigstens frei zu fühlen, zeigt Rothmanns Weltkriegstrilogie endgültig das Fatale an einer Freiheit esoterisch formulierenden Welt, die aber niemals zuließe, dass höhere Grade an Freiheit in ihr praktisch erreichbar seien als der jeweils vorhandene.
Kein Wunder, dass in »Im Frühling sterben« (2015), »Der Gott jenes Sommers« und »Die Nacht unterm Schnee« der konkrete Widerstand gegen den deutschen Faschismus von außen kommt. Er kommt nicht nur, er kommt bei Rothmann schlechter weg als die Nazis selbst.
Ist bei »Im Frühling sterben« der Beitritt zur Waffen-SS lediglich als freiwillig betitelt, sonst aber volksgemeinschaftlichem Gruppenzwang zum Endsieg entsprungen, der Feind trotz letzter Kriegstage noch weitgehend abwesend und wenn, dann US-amerikanisch, buchstabiert Rothmann in »Die Nacht unterm Schnee« die Vergewaltigung einer aus Westpreußen Flüchtenden aus: »Er zog sie an sich, drückte ihr schmales Gesicht zu einer Schnute zusammen, um sie mit herausgereckter Zunge zu küssen, und mehr als die Angst vor dem, was ihr drohte, war es die Scham, die sie widerspenstig machte. Sie war nicht sauber, entwand sich ihm mit einem schiefen Lächeln und zeigte auf den Wassereimer; aber der verdutzte Mann, die schwarzen Augen nur noch Schlitze, stieß ein paar empört klingende Laute in seiner Sprache hervor. Speicheltröpfchen spritzten von seinen Lippen.« Nicht nur fragt man sich, wieso Rothmann seine Hauptfigur Elisabeth während ihrer beginnenden Vergewaltigung über ihre eigene Körperhygiene ins Nachdenken kommen lässt, er macht auch – minutiöse Darstellungen des Missbrauchs folgen – klar, dass hier der bolschewistische Barbar nicht einmal die Gefälligkeit hinnimmt, wenn das Opfer sich – noch dazu in einer abendländischen Kirche – vorher waschen will, ohne dass er in schwarz- und schlitzäugigen Zorn gerät. Hingegen der alte Volkssturmsack, neben dem Elisabeth vorher in einem Lkw sitzt, scheint ungefährlich wie ein Kastrat: »Der Wind pfiff durch den Fensterschlitz, und es roch nach Tabak und Schnaps in dem Führerhaus, als sie wenig später erwachte, weil sie etwas auf dem Knie fühlte, den Handschuh des Bebrillten. Sie ruckte herum in der Enge, um ihm anzudeuten, dass ihr das lästig war, doch er ignorierte es, und so griff sie danach und erschrak. Es war eine lederbezogene Bakelitprothese, wie auch ihr Lehrer seit der Schlacht bei Charkow eine trug, und verstohlen befühlte sie die Finger mit den eingeprägten Nagelbetten, ohne dass der rauchende Mann es bemerkte. Das Kinn vorgereckt, starrte er zusammen mit dem anderen in die Nacht.«
Wird Elisabeth später von einem sowjetseits desertierten Sanitäter in Sicherheit gebracht und medizinisch versorgt, dann ist das weniger der Versuch, dem einfallenden Russen einzelexemplarisch Menschenfreundlichkeit zuzugestehen, vielmehr äußert sich hier die konfessionell-ungebundene Religiosität Rothmanns, die er als erlösenden Faktor gern in die sonst ausweglos-hundsgemeine Welt einflicht. Retter Dimitrij »hatte einen kleinen Haarknoten im Nacken, wie er ihr schon einmal auf einem Foto von russischen Mönchen aufgefallen war«, die Stelle auf seiner Budjonny-Mütze, »wo der Sowjetstern gehaftet hatte, war (…) ein wenig heller.«
Gesenkten Hauptes
In »Hitze« klebt der Gewerkschaftssticker im Pausenraum und der Antiarbeitszeitverkürzungsaufkleber im Chefbüro. Ein subtiler Hinweis auf sich konträr gegenüberstehende Klasseninteressen, im handwerklichen Verfahren Rothmanns allerdings nicht viel anderes, als einer bestimmten Figur so und so viel von diesem oder jenem Dreck unter die Fingernägel zu schieben, um sie authentisch und sozial zugehörig zu gestalten. Konkret politisch wird er fast ausnahmslos dann, wenn der Realsozialismus als Hölle und dessen Funktionäre und Militärs als dessen Abgesandte dargestellt werden wollen.
Die weiter oben zitierte Stelle aus »Theorie des Regens«, in der Rothmann auf seine praktizierte Phantasielosigkeit eingeht, ist Teil eines Notats, in der er eine gescheiterte Lesung im Jahr 2000 in Ostdeutschland interpretiert. Er ist auf Tour mit dem kurz darauf erscheinenden Roman »Milch und Kohle«, und warum ihm niemand gebannt an den Lippen hängt, dafür findet er eine Schuldige: die DDR. Denn »dann kommt da einer, der niemals Mangel litt, sich niemals vor der Stasi ducken musste, niemals in Bautzen war, immer durch die Welt reisen konnte, und will ihnen seine Geschichte andrehen. Und wenn die tausendmal im Arbeitermilieu spielt und von Not, Betrug und Gewalt erzählt, hat sie den Ruch einer Okkupation und atmet etwas, das ihnen lange fehlte: Freiheit. Und ihnen das vor Augen zu führen, mag für sie etwas Überhebliches oder gar Höhnisches haben; jedenfalls wird nicht applaudiert.«
Nun, mit Okkupation kennt sich der Westen, dessen Teil Ralf Rothmann ist, erfahrungsgemäß aus. Auch wenn der Ukraine-Krieg bewertet wird, denn zu dem musste sich Rothmann in seinem Zettelkasten zum Jubiläum natürlich verhalten, wie so oft in den schwulstigen Notizen nur knapp postpubertär (er zeigt, dass er auch Kinderdeutsch kann und spricht an mehreren Stellen von »Machtmenschen«), entschieden aber totalitarismustheoretisch, Faschismus relativierend und dem Zitierten einen Bärendienst erweisend: »Was Stefan Zweig während des letzten Weltkriegs in die Depression und schließlich in den Freitod getrieben hat, ›der unvorstellbare Rückfall der Menschheit in längst vergessen gemeinte Barbarei mit ihrem bewussten und programmatischen Dogma der Antihumanität‹, ereignet sich gerade wieder vor der Tür, in der Ukraine, wobei der Aggressor bereits unverhohlen auf Europa schielt … Und die Menschen hier planen ihren Osterurlaub, die Hotels auf Mallorca sind ausgebucht, die Nachbarin backt uns einen Mohnstrudel.«
Richtig ist: Wenn man von Russland aus in die Ukraine geht, muss man wirklich schielen, um von Europa aus auf Europa zu schauen. Oder man macht es wie Ralf Rothmanns vom Schicksal geschlagene Protagonistinnen und Protagonisten und senkt das Haupt. Ihr nunmehr 70jähriger Kreateur würde beim Betrachten des Bodens dabei zuschauen, wie die Sätze zu ihm hochwüchsen. Alles Gute dabei.
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