Angst vor Eskalation
Von Jörg Kronauer
Unmittelbar vor den Feiern zum 78. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland am 9. Mai haben die russischen Streitkräfte die Angriffe auf Ziele in der Ukraine verstärkt. Agenturen berichteten am Montag von Dutzenden Luftangriffen; laut Angaben des Kiewer Bürgermeisters Witali Klitschko wurde allein die ukrainische Hauptstadt mit 36 Drohnen attackiert. Alle hätten von der ukrainischen Abwehr abgefangen werden können, behauptete Klitschko. Zudem verstärkten russische Truppen ihren Beschuss in Bachmut. Jewgeni Prigoschin hatte am Wochenende die Drohung zurückgezogen, seine »Wagner«-Einheiten von dort abzuziehen, sollten sie nicht größere Mengen an Munition erhalten. Von ukrainischer Seite hieß es, man rechne mit einer weiteren Intensivierung der Angriffe in der ostukrainischen Stadt: Gelinge es Russland, sie zu erobern, sei dies für Moskau eine willkommene Erfolgsmeldung zum 9. Mai.
Unterdessen hat Moskau erste Evakuierungen aus der Region Saporischschja bestätigt. Deren Verwaltungschef Jewgeni Balizki teilte am Montag mit, es seien 1.679 Menschen, darunter 660 Kinder, aus dem Gebiet rings um das dortige Atomkraftwerk vor sich häufendem Beschuss in Sicherheit gebracht worden. Sie hielten sich nun in einer temporären Einrichtung in Berdjansk am Asowschen Meer auf. Die Region Saporischschja gilt als möglicher Schauplatz der seit Monaten angekündigten ukrainischen Frühjahrsoffensive, von der Prigoschin am Montag erneut behauptete, sie habe bereits begonnen. Ein mögliches Ziel einer Offensive – sofern sie stattfindet – wäre es, die Landbrücke aus dem russischen Kernland auf die Krim zu durchbrechen. Das könnte die Ukraine mit einer Offensive in der Region Saporischschja versuchen. Laut einem Vertreter der russischen Behörden dort trafen russische Raketen gestern ein Vorratslager und ukrainische Stellungen in der Kleinstadt Orichiw südöstlich der Gebietshauptstadt Saporischschja.
In der Ukraine, wo die Feiern zum Sieg über Nazideutschland in Anpassung an Westeuropa bereits am Montag stattfanden, nutzte Präsident Wolodimir Selenskij seine Ansprache, um einmal mehr Russland in eine Reihe mit dem deutschen Faschismus zu stellen. »All das alte Übel«, das »das moderne Russland zurückbringt«, werde »genauso zerschlagen werden, wie der Nationalsozialismus zerschlagen wurde«, tönte Selenskij. Zwar kenne niemand »das Datum«; doch werde es »ein Fest für die ganze Ukraine«, ja für »die ganze freie Welt sein«. An diesem Dienstag will der ukrainische Präsident, zum bereits fünften Mal, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew empfangen, wo der 9. Mai von nun an als »Europatag« begangen werden soll. Von der Leyen werde erneut die uneingeschränkte Unterstützung der EU für die Ukraine bekräftigen, hieß es.
Gleichfalls am Montag wurde bekannt, dass die EU im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg das mittlerweile elfte Sanktionspaket und in diesem Kontext weitere Sanktionen gegen China vorbereitet. Wie die Financial Times berichtete, schlägt die Kommission Maßnahmen gegen acht Unternehmen aus der Volksrepublik vor, darunter auch Firmen aus Hongkong. Als Grund wird genannt, sie lieferten Produkte nach Russland, die für die Produktion von Waffen genutzt werden könnten. Die Ständigen Vertreter der 27 Mitgliedstaaten sollen am Mittwoch darüber beraten. Wang Wenbin, Sprecher des chinesischen Außenministeriums, forderte die EU auf, die Sanktionspläne zurückzuziehen; andernfalls kündigte er »entschlossene Maßnahmen« an.
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Die Achsenmacher
Gedenken kommt von Denken. Gerade das sieht Freiheit heute nicht vor. Dummdreist gipfelt Politik im Vergessen, dass seit 2014 in der Ukraine gegen wen Krieg geführt wurde. Generationen von Russen, Kinder, Enkel wissen, was deutscher Faschismus war, der aus deren Köpfen nicht zu löschen ist. Blinder Hass, unhistorisch, verlogen, erobert Straße und Stammtische nicht ohne Erfolg, mit grenzenloser Dummheit. Von mehr als 800 Jahren slawischer Geschichte weiß im Land der Dichter und Denker kaum einer. Der dritte Versuch soll gelingen. Einige glauben wieder daran. Der Hauptfeind steht auch heute im eignen Lande. Wer den Krieg gewollt hat, besiegen will, Frieden verhindert und verlangt, das müssen wir an die Menschen bringen.