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Aus: Ausgabe vom 08.05.2023, Seite 4 / Inland
8. und 9. Mai in Deutschland

Angriff auf die Erinnerung

Bundesregierung plant keine Veranstaltungen zum Tag der Befreiung vom Faschismus. Kooperation mit Russland auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Gastkommentar von Sevim Dagdelen
Von Sevim Dagdelen
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Die Berliner Polizei versucht bis zuletzt, das Fahnenverbot aufrechtzuerhalten (9.5.2022)

Der 8. bzw. 9. Mai 1945 markiert mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht die Befreiung Europas vom Faschismus. Damit war zugleich das Ende eines terroristischen deutschen Regimes besiegelt, das überall in seinem Herrschafts- bzw. Einflussgebiet beispiellose Verbrechen zu verantworten hatte. Es ist lange überfällig, dass der Tag in Deutschland ein gesetzlicher Gedenk- und Feiertag wird.

Der Weg dahin ist weit. Die Ampelregierung plant dieses Jahr noch nicht einmal Veranstaltungen, in denen explizit der Befreier und der von ihnen gebrachten Opfer gedacht wird, allen voran die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten. Unklar ist, ob Kulturstaatsministerin Claudia Roth überhaupt an der Veranstaltung des institutionell von der Bundesregierung geförderten Museums Berlin-Karlshorst teilnimmt, wie aus der Antwort des Grünen-geführten Außenministeriums auf meine Anfrage hervorgeht.

Abgesehen von einer Kranzniederlegung in der Julius-Leber-Kaserne im Rahmen einer von der französischen Botschaft organisierten Gedenkveranstaltung zum Kriegsende ist auch in den Dienststellen der Bundeswehr als Nachfolger der Wehrmacht zum Tag der Befreiung nichts geplant. Vorgesehen sind noch – wie im vergangenen Jahr – eine Beteiligung an einer Zeremonie »unserer Partner und Verbündeten von EU und NATO« am 8. Mai auf dem Gelände der französischen Botschaft in Moskau sowie eine Kranzniederlegung an einer Gedenkstätte in Minsk »im Gedenken an die Opfer von nationalsozialistischem Krieg und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft«.

Offizielle Vertreter Russlands und Belarus’ werden nicht mehr eingeladen, Einladungen von diesen wiederum werde nur »nach Einzelfallprüfung« nachgekommen – es liegen allerdings keine mehr vor. Mit Verweis auf den Ukraine-Krieg hat die Bundesregierung sämtliche Kooperationen mit Russland »in bezug auf Gedenken und Forschung zu NS-Verbrechen« auf Eis gelegt. Das gelte auf unbestimmte Zeit. Zivilgesellschaftlichen Projekten, die vom Bund gefördert werden, ist jegliche Kooperation mit staatlichen Stellen in Russland untersagt, selbst wenn es nur darum geht, Ausstellungen zu deutschen Verbrechen in russischen Museen zu zeigen.

Und während die Bundesregierung Russland »geschichtsverzerrende Propaganda« vorwirft, schweigt sie sich zu propagandistischen Nazivergleichen der ukrainischen Führung aus. So hat Präsident Wolodimir Selenskij Russland von der Bundesregierung unbeanstandet und ohne Konsequenzen die »Endlösung der ukrainischen Frage« unterstellen oder die von Russland installierten Gouverneure als »Gauleiter« bezeichnen können. Kein Wort der Kritik und der Distanzierung ist von Berlin schließlich darüber zu hören, dass in der Ukraine Faschistenführer und Judenmörder wie Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch als Helden verehrt und mit Denkmälern sowie Straßenumbenennungen gewürdigt werden.

Dazu passt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Russland mit Blick auf den Krieg in der Ukraine einen »Vernichtungskrieg« und »Zivilisationsbruch« vorwerfen – Charakterisierungen, die bislang dem faschistischen Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 vorbehalten waren. Die Bundesregierung prescht vor, wenn es um die Umschreibung der Geschichte geht. Die Verbrechen des Naziregimes werden in einem Schritt relativiert und begrifflich auf Russland verschoben. Ein Manöver, das zugleich geschichtspolitische Entlastung bringt und Munition für den Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland liefert. Der sowjetische Marschall Schukow soll einmal gesagt haben: »Wir haben sie vom Faschismus befreit, das werden sie uns nie verzeihen.« Nichts könnte die Haltung der Bundesregierung und ihren Angriff auf die Erinnerung in dieser Zeit besser beschreiben.

Sevim Dagdelen ist Bundestagsabgeordnete für Die Linke

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Peter M. (8. Mai 2023 um 16:59 Uhr)
    Frau Dagdelen, vielen Dank für diesen Beitrag. Man könnte meinen, die deutsche Regierung ist »froh«, einen Grund gefunden zu haben, sich der Dankbarkeit und Verantwortung gegenüber Russland endlich zu entledigen. Nun »belastet« uns kein schlechtes Gewissen mehr und diejenigen, die begierig auf das »Stichwort« warten, um ungestraft wieder den rechten Arm hochzureißen, können wieder frohen Mutes ihrem Hass freien Lauf lassen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (7. Mai 2023 um 23:37 Uhr)
    Super Beitrag! Danke! Schnell vorweg: Tag der Befreiung und Tag des Sieges sind beide am 9. Mai 1945. Die Unterschrift des letzten Nazigenerals unter die Kapitulation der faschistischen Wehrmacht gabs um 0.15 Uhr am 9. Mai. Was mich richtig auf die Palme bringt: Des Endes des Nazifaschismus wird in der BRD nicht mehr gedacht? Weil die Opfer alle tot sind? In meinem Falle gabs Überlebende. Ich bin sehr gespannt, was es von meinem Zentralrat zu dieser widerlichen Schweinerei morgen in der Tagesschau zu hören gibt. Wenn die israelische Regierung nicht ordentlich laut wird, falle ich vom Glauben ab.

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