Noch nichts verloren
Von Hansgeorg Hermann
Mehr als 30.000 Franzosen haben sich seit Januar allein bei der Gewerkschaft CGT eingeschrieben: Unter ihnen Rückkehrer, die irgendwann nicht mehr an den materiellen oder gesellschaftlichen Nutzen einer Mitgliedschaft in den Arbeiterorganisationen geglaubt hatten. Emmanuel Macron hat es geschafft, den negativen Trend umzudrehen. Die wiedervereinten Gewerkschaften sind Schulter an Schulter gegen das Rentendiktat des rechten Präsidenten marschiert und haben – auch an diesem 1. Mai – erneut Millionen Menschen mobilisiert. Gegen einen längst als Autokraten wahrgenommenen Staatschef, der sich neuerdings nicht mal mehr in die robuste Öffentlichkeit eines Fußballstadions traut, wie nach dem französischen Pokalendspiel am Sonnabend.
Macron traut dem Volk nicht mehr. Nicht einmal bei einem Ballspiel, als dessen begeisterter Anhänger er sich bisweilen ausgab. Interessant mag für ihn danach die Erkenntnis gewesen sein, dass sich die 80.000 Zuschauer im Pariser Stade de France kaum für ihn selbst, sondern fast ausschließlich für ihre beiden Mannschaften interessierten.
Draußen auf der Straße sah das zwei Tage später anders aus. Die vielen Hunderttausend, die ihren Maifeiertag zum dreizehnten gewaltigen Generalprotest gegen das Rentengesetz des Präsidenten machten, haben inzwischen begriffen, dass es nicht nur darum geht, zwei Jahre länger den Rücken krumm machen zu müssen. Sie stehen endlich gegen die gesamte »kapital-oligarchische Konterrevolution« auf, wie es der kommunistische Pariser Philosoph Alain Badiou so treffend formulierte; gegen die seit 40 Jahren sich weltweit ständig verschärfende Herrschaft eines Kapitalismus des 19. Jahrhunderts – mit all den Schweinereien, die sich seit 2017 auch in Macrons hässlich-liberaler Gesellschaftspolitik manifestieren.
Dass noch nicht alles verloren sei, möchten die neue CGT-Chefin Sophie Binet und die Millionen in den Straßen glauben. Sie haben recht. Es liege »in der Natur einer Gewerkschaftsführerin«, sagte Binet am Freitag der Tageszeitung Libération, »niemals entmutigt zu sein«. Die erste Frau an der Spitze einer französischen Arbeiterorganisation weiß natürlich, dass »nicht die protestierende Mehrheit der Bevölkerung sich radikalisiert hat«, wie Macron behauptet, »sondern die Regierung« – vor allem aber deren Hintermänner, die eigentlichen Autoren des Rentendiktats. Den Widerstand gegen diese Typen immer wieder neu zu organisieren – gegen kommende »Reformen«, sprich Privatisierung der Bildungs- und Gesundheitssysteme –, wird den Gewerkschaften erneut Einigkeit und ungeteilte Solidarität abverlangen. Die beiden Frauen, die künftig die beiden größten Organisationen CGT und CFDT anführen werden, Binet und Marylise Léon, scheinen die Kraft dafür zu haben.
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