Ein Land geht zur Schule
Von Jörg Kronauer
Chinas Aufstieg verändert die Welt. Der Volksrepublik ist es nicht bloß gelungen, sich aus der Armut zu befreien. Ökonomisch erstarkt, ist sie längst zu einem Machtfaktor geworden, der die globale Dominanz des Westens in Frage stellt. Der reagiert, indem er China immer schärfer attackiert – per Wirtschaftskrieg und mit einem militärischen Aufmarsch, der einen dritten Weltkrieg befürchten lässt.
Jörg Kronauer beleuchtet in der zwölfteiligen jW-Serie anhand zentraler Aspekte die Konsequenzen, die sich aus dem Aufstieg der Volksrepublik für die internationalen Beziehungen ergeben. (jW)
Chinas Wiederaufstieg hat den Menschen im Land gewaltige Fortschritte gebracht. Als im Jahr 1949 die Volksrepublik gegründet wurde, lag das Land darnieder. Die Armut grassierte; Wissenschaftler schätzen die Zahl der Chinesen, die damals unterhalb der Armutsschwelle dahinvegetierten, auf mehr als 80 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei unfassbaren 38 Jahren, die Säuglingssterblichkeit bei über 20 Prozent, die Zahl der Schuljahre, die Chinesen mit einem Lebensalter von 16 Jahren und mehr im Durchschnitt absolviert hatten, bei 1,6. Nur ein Fünftel aller Erwachsenen konnte lesen.
Der Kampf der Kommunistischen Partei gegen das Elend halbierte die Säuglingssterblichkeit in kaum fünf Jahren, steigerte die Lebenserwartung bis 1978 auf 64 Jahre; man findet heute so gut wie keine Chinesen mehr, die mit dem chinesischen Schriftzeichensystem (Hànzì) nicht umgehen können. Ein Bildungsvergleich, den das Münchner Ifo-Institut auf Grundlage verschiedener Schulleistungsstudien wie PISA durchgeführt hatte, bestätigte Ende 2022: China hat weltweit den geringsten Prozentsatz an Schülern, denen grundlegende Fähigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen fehlen (6,5 Prozent). Deutschland lag mit erstaunlichen 23,8 Prozent auf Platz 30, knapp vor den USA (24,7 Prozent).
Grundlage dieser Entwicklung ist neben dem systematischen Ausbau des Gesundheits- und des Bildungssystems die Armutsbekämpfung der Volksrepublik, die weltweit als beispiellos gilt. Anfang 2021 konnte Beijing den endgültigen Sieg über die extreme Armut im Land verkünden. Selbst die Weltbank, nicht per se chinafreundlich gestimmt, räumte ein: Binnen 40 Jahren ist es China gelungen, knapp 800 Millionen Menschen über die Schwelle von 1,90 US-Dollar am Tag zu heben; wer weniger Geld zur Verfügung hatte, galt als extrem arm. Fast drei Viertel aller Menschen, die in diesem Zeitraum weltweit aus extremer Armut befreit wurden, waren laut der Weltbank Chinesen. In anderen Ländern stieg die extreme Armut zuletzt pandemiebedingt wieder – zur Jahreswende 2020/21, als China den Sieg über sie auf nationaler Ebene bekanntgeben konnte, auf weltweit 719 Millionen Menschen. Das Land, das mit rund 56 Millionen Menschen den größten Anstieg hinnehmen musste, war Indien, das eine ähnlich große Bevölkerung hat wie China und bei Beginn der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik ähnliche ökonomische Leistungsdaten aufwies wie die Volksrepublik. Auch Indien steigt auf, aber deutlich langsamer als China.
All die Erfolge können über zweierlei nicht hinwegtäuschen. Zum einen befinden sich Teile der Volksrepublik bis heute auf dem Niveau eines Entwicklungslandes; so modern vor allem die Küstenregionen sind – der Fortschritt hat entlegenere Regionen noch nicht vollständig erreicht, und das Stadt-Land-Gefälle ist nach wie vor stark. Zum anderen besitzen die Chinesen im Durchschnitt immer noch deutlich weniger als die Menschen im Westen; das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, das die Dimensionen erahnen lässt, lag 2021 in China bei 12.500 US-Dollar, in Deutschland bei 51.200, in den USA sogar über 70.200. Beijing arbeitet daran und will bis spätestens 2035 landesweit »gemeinsamen Wohlstand« erreichen; 2049, zum hundertsten Jahrestag ihrer Gründung, soll die Volksrepublik ein voll entwickeltes und wohlhabendes Land sein, vielleicht so wohlhabend wie der Westen. Ob dies gelingt, hängt freilich davon ab, ob sie ihren bisher so erfolgreichen Wiederaufstieg fortsetzen kann.
Und: Es hängt auch davon ab, wie sich die Gegensätze zwischen Arm und Reich innerhalb der Volksrepublik entwickeln. Die Zahl der chinesischen Dollar-Milliardäre ist zuletzt von 539 auf 495 zurückgegangen, allerdings ohne diejenigen mit Wohnsitz in Hongkong oder Macau. Die Zahl der Dollar-Millionäre wiederum steigt unaufhaltsam; sie lag laut Recherchen der Crédit Suisse 2020 bei 5,3 Millionen, 2021 bei 6,2 Millionen und könnte bis 2026 auf satte 12,2 Millionen anschwellen. Immerhin sinkt – laut Weltbank-Statistik – in China der Gini-Koeffizient wieder, der Ungleichheit misst und, wie unzulänglich er auch sein mag, eine gewisse Orientierung erlaubt. Er lag in der Volksrepublik zuletzt bei 38,2, ungefähr auf US-Niveau (39,7) und immerhin nicht mehr so hoch wie in Brasilien (52,9), dessen Spitzenwerte er zeitweise fast erreicht hatte. Allerdings ist Deutschland dagegen geradezu egalitär – mit einem Gini-Koeffizienten von 31,7.
Teil eins: »Chinas Aufstieg«
Teil drei: »Die Neue Seidenstraße«
der zwölfteiligen China-Serie von Jörg Kronauer
Lesen Sie am Mittwoch Teil 3 (von 12): China und die Neue Seidenstraße
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (3. Mai 2023 um 09:49 Uhr)»China hat weltweit den geringsten Prozentsatz an Schülern, denen grundlegende Fähigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen fehlen (6,5 Prozent).« Zu diesem Ergebnis kann man nur kommen, wenn man sozialistische Länder wie Kuba oder die Demokratische Volksrepublik Korea ignoriert. Dort dürfte der Prozentsatz bei null liegen. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass die DVRK aus eigener Kraft Satelliten ins All schießen kann. Ähnlich verhält es sich mit dem fragwürdigen Gini-Koeffizienten. Für die Weltbank scheint es die erwähnten Länder gar nicht zu geben.
In der Serie Auf dem langen Marsch. Chinas Aufstieg
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Chinas Aufstieg verändert die Welt. Der Volksrepublik ist es nicht bloß gelungen, sich aus der Armut zu befreien. Wirtschaftlich erstarkt, ist sie längst zu einem Machtfaktor geworden, der die globale Dominanz des Westens in Frage stellt. Der reagiert, indem er China immer schärfer attackiert – per Wirtschaftskrieg und mit einem militärischen Aufmarsch, der einen dritten Weltkrieg befürchten lässt.
- 29.04.2023: Weltweit die Nase vorn
- 02.05.2023: Ein Land geht zur Schule
- 03.05.2023: Ost und West verbinden
- 04.05.2023: Größter Handelspartner des Kontinents
- 05.05.2023: Multipolare Ära
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