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Aus: Ausgabe vom 29.04.2023, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Stellvertreterkrieg in der Ukraine

Arbeiter im Schützengraben

Wer stirbt da an der Front für fremde Interessen? Wen Russland und die Ukraine für ihre Streitkräfte rekrutieren und auf welche Weise
Von Dmitri Kowalewitsch, Kiew
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Einen Eindruck davon, wie viele Soldaten tatsächlich in diesem Krieg sterben, vermitteln die überfüllten und die neu angelegten Friedhöfe (Lwiw, 7.4.2023)

Jeder militärische Konflikt hat eine Klassenkomponente: Die Soldaten, die direkt an Schlachten beteiligt sind, stammen in der Regel aus den ärmeren Schichten der Gesellschaft. Der derzeitige Krieg in der Ukraine bildet da keine Ausnahme, auch wenn es in den beiden kriegführenden Staaten Unterschiede in der militärischen Mobilisierung und im Grad der individuellen Freiheit gibt. Diese sind in erster Linie auf Unterschiede beim wirtschaftlichen Potential und den Humanressourcen in Russland und der Ukraine zurückzuführen.

Am 23. April habe ich in einem Dorf in der Region Kiew auf dem Gelände eines Kindergartens etwa Hundert wehrpflichtige junge Männer gesehen. Einige trugen bereits die Uniform der militärischen Streitkräfte der Ukraine (AFU), andere waren noch in Zivilkleidung. Eine Schachtel Zigaretten half, um mit ihnen in Kontakt zu kommen – die Soldaten haben nur selten Zigaretten, also bitten sie Passanten um welche. Als ich mit ihnen gesprochen hatte, erfuhr ich, dass viele von ihnen am Arbeitsplatz entführt worden waren. »Ich arbeitete im Einkaufszentrum der Baumarktkette Epicenter. Zwei Soldaten kamen mit der Polizei und dem Geschäftsführer herein, der auf einige Leute zeigte. Sie wurden mitgenommen, mich eingeschlossen«, sagte einer der eingezogenen Männer. Die anderen, so stellte sich heraus, waren Bauarbeiter, Marktverkäufer und Arbeiter in einer örtlichen Möbelfabrik.

In der Ukraine ist die Einberufung von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seit dem vergangenen Jahr in vollem Gange. Seit dem 24. Februar 2022 ist es allen ­ukrainischen Männern untersagt, das Land zu verlassen. Die einzigen Ausnahmen sind Mitarbeiter westlicher Nichtregierungsorganisationen und einige IT-Spezialisten. Männer, die nicht kämpfen wollen, können sich entweder verstecken oder nachts illegal die Grenze überqueren.

Aus armen Regionen

Es gibt verschiedene korrupte Methoden, um Männer in EU-Länder zu überführen oder ihnen gefälschte Papiere auszustellen, aber die Preise für solche Dienstleistungen schwanken zwischen 5.000 und 12.000 Euro. Nur wohlhabende Bürger in der Ukraine können so viel Geld bezahlen. Folglich befinden sich in den Schützengräben an der Front häufiger Bewohner armer Regionen sowie Landwirte. Die AFU beruft immer häufiger Fahrer von Traktoren und landwirtschaftlichen Maschinen ein und schult sie zum Fahren von Panzern und anderen Militärfahrzeugen um. Demgegenüber kann ein Ukrainer, wenn er alle sechs Monate über 5.000 Dollar verfügt, sich alle halbe Jahre einen Aufschub erkaufen und sein gewohntes Leben weiterführen.

Viele ukrainische Prominente posieren regelmäßig in Militäruniformen, aber man hört kaum davon, dass berühmte Schauspieler oder Sänger getötet oder verletzt wurden. Die meisten von ihnen sind verpflichtet, Spenden für die AFU zu sammeln oder für Hilfe zu werben, weil sie in dieser Funktion als nützlicher erachtet werden. Ein hoher Status und hohe Einnahmen aus Konzerten befreien eine Person also quasi automatisch von der Einberufung zur Armee. Einige Prominente waren auch in der Lage, ihre Kinder gegen hohe Geldbeträge illegal aus der Ukraine zu evakuieren. So wurde beispielsweise der Enkel der ukrainischen Volkskünstlerin Sofija Rotaru letztes Jahr festgenommen, als er versuchte, den Fluss Dnjestr mit einem Boot in Richtung Moldawien zu überqueren. Trotz seiner Verhaftung landete er, wie ukrainische Medien berichteten, schlussendlich in Frankreich.

Auch Vollzeitstudenten sind von der Wehrpflicht befreit, ebenso wie Studenten europäischer Universitäten. In der Ukraine kann sich jedoch nur noch die Mittelschicht eine Hochschulausbildung leisten.

Überfüllte Friedhöfe

Einer der demotivierendsten Faktoren gegen den Dienst in den ukrainischen Streitkräften sind seit einiger Zeit die weitläufigen ukrainischen Friedhöfe, auf denen sich lange Reihen von Gräbern gefallener AFU-Soldaten erstrecken. Videos von diesen Gräbern gehen im Internet umher und tragen nicht gerade zur Begeisterung der potentiellen Rekruten bei. Zwar geben beide Seiten ihre Verluste an. Doch nach Angaben des NATO-Generalsekretärs von Mitte März setzen die Russen täglich fünfmal so viele Granaten ein wie die Ukrainer, was sich zwangsläufig auf die Opferzahl der AFU auswirkt. Erst Ende April beschloss der Stadtrat von Kiew, zusätzlich zu den bereits überfüllten Soldatenfriedhöfen 100 Hektar für einen neuen Soldatenfriedhof in der Stadt zur Verfügung zu stellen, auf dem 50.000 Menschen bestattet werden könnten, das Kolumbarium nicht mitgerechnet.

In Russland hingegen ist die Situation für die einfachen Bürger, soweit ich es von russischen Genossen erfahren konnte, nahezu unverändert. In einem großen Land ist der Effekt, wie ich ihn oben für die Ukraine beschrieben habe, eher verschwommen als konzentriert. Vergangenes Jahr kündigte Russland eine Teilmobilisierung an, woraufhin Tausende russischer Männer legal in die Nachbarländer (Georgien, Armenien, Kasachstan, Usbekistan) ausreisten, wo viele von ihnen heute noch leben. Die meisten von ihnen stammten aus der Moskauer und St. Petersburger Mittelschicht, sind IT-Spezialisten, Medienarbeiter, einige kleine und mittlere Unternehmer.

Geld aber Lebensgefahr

Gleichzeitig wird das russische Militär in der Ukraine von Vertretern der ärmeren Regionen der Russischen Föderation dominiert – den Republiken des Nordkaukasus, des Fernen Ostens und Transbaikalien. Die Gehälter, die die Russische Föderation den am Krieg in der Ukraine beteiligten Vertragssoldaten oder Mobilisierten zahlt, liegen weit über dem, was sie in ihrer Heimat verdienen können. Das Mindestgehalt eines einfachen russischen Soldaten, der im Kriegsgebiet dient, beträgt laut dem Nachrichtenportal Vesti.ru etwa 200.000 Rubel (2.230 Euro) und ist damit auch um ein Vielfaches höher als das Gehalt eines russischen Soldaten irgendwo in Sibirien oder im Fernen Osten Russlands.

Zum Vergleich: In der Ukraine hat ein wehrpflichtiger Soldat Anspruch auf 20.000 Griwna (etwa 500 Euro). Am 1. Februar wurden die Gehälter auf Ersuchen des IWF um 30 Prozent gekürzt, um das Haushaltsdefizit zu bekämpfen. Die Soldkürzungen sorgen bei vielen ukrainischen Soldaten für Unzufriedenheit.

Ukrainische nationalistische Soldaten (eine Minderheit) glauben, dass sie Europa gegen asiatische Horden verteidigen. Aber die einfachen AFU-Soldaten sehen diesen Krieg eher als eine Art Schicksal an – sie hätten Pech, sie hätten keine Zeit gehabt, sich zu verstecken. Und ich bin sicher, nach Kriegsende wird die einfache Masse der Soldaten (nicht die Nationalisten) sehr schnell und leicht eine gemeinsame Basis finden.

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (3. Mai 2023 um 11:47 Uhr)
    Die Überschrift sagt nur die halbe Wahrheit. Denn Facharbeiter der Infrastruktur und der Schwer- bzw. der Rüstungsindustrie wird jedes kriegfuehrende Land erst dann einziehen, wenn das Wasser schon »Oberkante Unterlippe« steht. So war es 1914–18, und so war es 1939–45. Anders ist es mit »nicht kriegswichtigen« Produktionen wie dem (zivilen) Bauwesen und z. B. der Möbelproduktion (wenn der Unternehmer nicht ausreichend Aufträge etwa für Munitionskisten ergattern konnte).
    »Unabkömmlich« sind also eine ganze Menge von Arbeitern und dazu in beiden Ländern noch immer alle Studenten – wie R. Lauterbach im Detail dargelegt hat, neue »Studenten« allerdings vorwiegend aus reicheren Familien, die für die teilweise fiktive Immatrikulation das nötige Kleingeld aufbringen. Was das dann für »Vollzeitstudenten« sind, kann man sich vorstellen. In den Schützengraben liegen sich darum vor allem junge und ältere Männer aus ländlichen Gebieten und weniger anspruchsvollen bzw. wechselnden Tätigkeiten gegenüber, für die bzw. deren Familien auch der Sold eine wichtige Rolle spielt.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (1. Mai 2023 um 11:04 Uhr)
    Andere Völker haben Sagen und Legenden, in der heute sich Ukraine nennenden Gebieten, sind es sehr geehrte ehrenhafte Gaunertaten gegen eine immer sehr weit entfernte »Zentralmacht«, was auf sehr alte örtliche Traditionen zurückzuführen ist. Als es noch keinen ukrainischen Staat gab, begann das erste noch russisch geschriebene Kosakenkochbuch so: Stehle drei Eier. Daran hat die Sowjetunion auch nichts ändern können, wo es ein inoffizieller Slogan war: Wer den Staat nicht bescheißt, schadet seiner Familie. Künstlerisch stellt die Gaunerkomödie, die russische Autorenduo »Ilf und Petrow« »Das goldene Kalb« diese Tradition hervorragend dar. Sie zeigt uns eine Tour auf den Irrwegen der Menschen in einer kleinen Provinzstadt und überführt das junge zentralisierte Sowjetreich in eine gigantische Farce. Seine komödiantische Enttarnung wird zur wahnwitzigen Reise durch die Alltagswelt der kleinbürgerliche Gaunerwelt und Denkens in nordöstlich vom Schwarzmeer. Nicht um sonst besaß Odessa sogar ein Schmuggelmuseum! Diese Tradition und die hier gewachsene Infrastruktur unterstützen unterschiedliche Geschäftsmodelle von der Gaunerei bis zu Gangstertum. Die Ukraine war eine wachsende »Spin-off«(Ableger) -Transitroute für Heroin aus Afghanistan und erweiterte die Routen über den Balkan und den Kaukasus. Vor dem Krieg hatte es die viertgrößte Heroinbeschlagnahmung in Europa. Kokain aus Lateinamerika strömte über das Schwarze Meer. In der anderen Richtung exportierten Gangster Waffen nach Asien und Afrika, vor allem aus Mykolaiv, einem Hafen. 2020 überholte die Ukraine China und wurde Europas größte Quelle illegalen Tabaks. Die lokale Herstellung von Amphetaminen (synthetisch hergestellter Stimulanzien) nahm enorm zu! Der Krieg hat die jahrzehntelangen physischen und sozialen Arterien zwischen Ukraine und den kriminellen Netzwerken Russlands zwar erschwert, aber nicht vernichtet! Es ist noch ein langer Weg, als die Ukraine endlich aufhören könnte, ein Gangsterparadies zu sein.

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