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Aus: Ausgabe vom 29.04.2023, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Arbeitskampf

»Macron ist schwach und das System am Ende«

Warum die »Rentenreform« in Frankreich noch lange nicht durch ist und die Gewerkschaften ihren Kampf nicht aufgeben. Ein Gespräch mit André Hemmerle
Interview: Raphaël Schmeller
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Streikende Eisenbahner versammeln sich vor dem Hauptsitz des Börsenbetreibers Euronext im Geschäfts- und Finanzviertel La ­Défense (­Courbevoie bei Paris, 20.4.2023)

Vor zwei Wochen wurde das Gesetz zur Anhebung des Renteneintrittsalters von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Amtsblatt veröffentlicht, damit ist es offiziell verabschiedet. Ist der Kampf gegen die »Reform« jetzt vorbei?

Nein, der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, die Wut ist noch mal größer geworden, und am 1. Mai wird es wieder Massendemonstrationen geben – gut vorstellbar, dass es die größten seit Beginn der Rentenproteste sein werden.

Aber wie geht es nach dem 1. Mai weiter?

Im Detail kann ich das noch nicht sagen, aber es werden einige Dinge passieren. Wir werden nicht lockerlassen. Wahrscheinlich werden sich Vertreter der in der »Intersyndicale« kooperierenden acht großen Gewerkschaften schon am Abend des 1. Mai treffen, um weitere Aktionen zu beschließen. Konkret wird entschieden werden müssen, ob wir die Demonstrationen so fortsetzen, wie wir es heute machen, oder ob wir nicht gezielter und noch stärker bestimmte Branchen lahmlegen.

Es gibt auch noch die Option eines Referendums. Wie stehen die Chancen für einen Erfolg?

Wenn es zu einem Referendum käme, würden die Menschen mehrheitlich gegen die »Rentenreform« stimmen. Doch es ist nicht klar, ob der Verfassungsrat eine solche Abstimmung zulassen wird. Denn die Mitglieder des Verfassungsrats sind so drauf wie die der Regierung. Das sind alles Personen, die schon immer das Volk verraten und sich gegen den sozialen Fortschritt gestellt haben. Sie wissen nicht, was es bedeutet, von seiner Arbeit leben zu müssen.

Die bürgerlichen Medien in Deutschland messen den Protesten und Streiks in Frankreich kaum noch Bedeutung bei. Wie ist die aktuelle Situation?

Es gibt immer noch sehr viele Streiks. Vielleicht ist das in Deutschland nicht bekannt, aber bei den Protesten geht es nicht nur im die »Rentenreform«. Wir kämpfen auch für höhere Löhne, weil immer mehr Menschen wegen der explodierenden Preise nicht über die Runden kommen.

Weil die Regierung auch bei diesem Thema nichts unternimmt?

Ja, die Regierung tut nichts gegen Verarmung und Kaufkraftverlust. Es gab bisher nur kleinere Maßnahmen in Form von Prämien für die Allerärmsten. Das löst aber das grundlegende Problem nicht. In der aktuellen Situation helfen nur kräftige Lohnerhöhungen und das Einfrieren der Preise für Waren des Grundbedarfs, das heißt in erster Linie bei Lebensmitteln und Energie. So etwas hat man in den 1970er Jahren gemacht, das ist kein Hexenwerk. Der Punkt ist, dass die französische Regierung nicht dazu da ist, dem Volk zu dienen. Sie ist da, um den Milliardären zu dienen. Es ist ja kein Zufall, dass sowohl der reichste Mann als auch die reichste Frau der Welt aus Frankreich stammen. Geld ist in unserem Land also vorhanden, das ist nicht das Problem. Wie gesagt: Bei den Rentenprotesten geht es auch um die Frage der Umverteilung des Reichtums an diejenigen, die ihn schaffen, also die Arbeiter.

Macron rechnet damit, dass der Protestbewegung die Luft ausgehen wird. Liegt er damit richtig?

Macron sollte sich lieber warm anziehen. Denn das, was er und seine Regierung als Gewalt bei Demonstrationen bezeichnen, ist eine Folge von Verzweiflung. Und je länger er die »Rentenreform« gegen den Willen der Bevölkerung aufrechterhält, desto größer wird die Verzweiflung und damit auch die Gewalt durch Demonstranten. Was mir wichtig ist: Diese sogenannte Gewalt, die vorwiegend von jungen Leuten begangen wird, ist nicht willkürlich. Sie greifen Symbole des Kapitalismus an. Sie zertrümmern vor allem Banken und Werbetafeln. Ihre Aktionen sind also zielgerichtet und politisch. Würde die Polizei anders handeln, käme es übrigens auch nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Staatsmacht agiert offensichtlich mit dem Ziel, eine gewalttätige Reaktion der jungen Leute zu provozieren.

In den deutschen Medien wird meist die Gewalt durch Demonstranten in den Vordergrund gestellt …

Zu Unrecht. Wie gesagt: Die Gewalt geht in erster Linie von der Polizei aus. Das haben wir auch in Strasbourg am 6. April erlebt. Die Einsatzkräfte haben bei einer Demonstration plötzlich völlig ohne Grund den Ordnungsdienst der Gewerkschaften mit Tränengas und Schlagstöcken angegriffen. Natürlich haben sich unsere Ordner gewehrt, was hätten sie sonst tun sollen? Die Folge davon war, dass ein CGT-Mitglied zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde. Ein Kollege einer anderen Gewerkschaft wurde ebenfalls zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. Wir haben es hier also mit heftiger Repression zu tun. Wenn die Bourgeoisie nicht in der Lage ist, zu überzeugen und die Wut umzulenken, unterdrückt sie.

Wie werden die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten in der Bevölkerung wahrgenommen?

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André Hemmerle

Das ist ein bemerkenswerter Punkt: Die Mehrheit der Franzosen kann die Aktionen der jungen Demonstranten nachvollziehen. Wenn sie zum Beispiel Banken zerstören, wird das nicht verurteilt. Wahrscheinlich sind immer mehr der Meinung, dass man von den Regierenden anders gar nicht gehört wird. Trotz Gewaltszenen auf Demonstrationen, die Macron bewusst provoziert, lässt die Unterstützung in der Bevölkerung für die Rentenproteste nicht nach.

Würden Sie sagen, dass mit dem Vorgehen gegen die Rentenproteste in Frankreich eine neue Stufe der Repression erreicht wurde?

Auf jeden Fall. Was wir heute erleben, hat es so noch nicht gegeben. Noch nie gab es so viele Polizisten bei Demos, nie zuvor war die Polizeigewalt so brutal und so willkürlich. Das sind Zeichen der Schwäche der Regierenden. Sie haben Angst und wissen ganz genau, dass, was sie tun, von einer großen Mehrheit der Franzosen abgelehnt wird.

Ein anderes Novum bei den Protesten ist die Stärke der »Intersyndicale«. Wie erklären Sie es sich, dass die Gewerkschaften so geeint sind wie nie zuvor?

Die »Intersyndicale« ist so stark und bricht nicht auseinander, weil die Gewerkschaften von ihren Mitgliedern und überhaupt von allen Beschäftigten stark unter Druck gesetzt werden. Das gilt insbesondere für Laurent Berger von der gemäßigteren CFDT. Er wurde auf dem letzten CFDT-Kongress überstimmt, die große Mehrheit der Mitglieder hat sich klar gegen die »Rentenreform« positioniert. Berger wird von den Mitgliedern also gezwungen, sich mit den anderen Gewerkschaftsorganisationen und insbesondere mit der CGT zusammenzutun. Aber, selbst wenn er heute mit uns ist: Die CFDT, das sind Sozialdemokraten, man weiß nie, wann sie plötzlich doch einbrechen. Es ist also wichtig, dass die Mitglieder und die arbeitende Bevölkerung überhaupt die CFDT weiter unter Druck setzen. Und wir als CGT dürfen den anderen Organisationen der »Intersyndicale« keine Vorwände liefern, die Einheit zu brechen. Denn diese ist der einzige Weg, um am Ende den Kampf gegen die »Rentenreform« zu gewinnen.

Hat sich das Ansehen der französischen Gewerkschaften durch ihre größere Kampfbereitschaft in den vergangenen Monaten verbessert?

Die CGT hat vor kurzem mehr als 30.000 Neumitglieder seit Jahresbeginn gemeldet, einen solchen Zuwachs hat es in so kurzer Zeit noch nie gegeben. Es stimmt also, dass die Gewerkschaften in der Bevölkerung an Anerkennung gewonnen haben. Und das liegt, wie Sie gesagt haben, vor allem daran, dass sie sich fit gemacht haben dafür, große Kämpfe zu führen und sich gegen das System zu wehren.

Einen Wermutstropfen gibt es: Auf dem CGT-Kongress Ende März wurde heftig gestritten, die Gewerkschaft wirkte tief gespalten. Gibt es jetzt wieder mehr Einigkeit, nachdem die Kompromisskandidatin Sophie Binet zur neuen Generalsekretärin gewählt wurde?

Es hat sich etwas beruhigt. Und von dem, was ich bisher von Sophie Binet mitbekommen habe, macht sie einen guten und kämpferischen Eindruck. Jetzt muss man sie erst einmal in Ruhe arbeiten lassen, und dann schauen wir weiter.

Viele Beobachter bezeichnen die Rentenproteste als historisch. Stimmen Sie der Aussage zu, dass das derzeitige politische System in Frankreich am Ende ist?

Wir sind eindeutig am Ende der Fünften Republik angelangt, das ist glasklar. Die Verfassung der Fünften Republik wurde für Charles de Gaulle entworfen, und nicht jeder hat das Format von de Gaulle. Er war es, der den staatsmonopolistischen Kapitalismus in Frankreich eingeführt und anschließend durch Privatisierung große Industriekonzerne geschaffen hat. Heute sind die Verhältnisse ganz andere. Das System ist gezwungen, sich zu erneuern und neue Politiker zu finden, die ihm hörig sind. Und die nächsten könnten vom faschistischen Rassemblement National kommen. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass dem System die Luft ausgeht. Man könnte sagen, wir befinden uns am Ende einer bestimmten Form der Zivilisation. Der Kapitalismus hat nicht immer existiert. Das bedeutet auch, dass er wieder verschwinden und durch etwas anderes ersetzt werden kann. Wir wissen nicht, wann genau das passieren wird, aber wir befinden uns eindeutig in einem Prozess des Niedergangs des Kapitalismus, davon bin ich überzeugt.

Sie haben es gerade angesprochen: Nicht nur Gewerkschaften und Linke profitieren von den Protesten. Auch der Rassemblement National befindet sich im Aufwind. Könnte Marine Le Pen 2027 zur Präsidentin Frankreichs gewählt werden?

Hätten Sie mir diese Frage bei der vorigen Wahl 2022 gestellt, hätte ich klar mit Nein geantwortet. Und zwar, weil ich davon überzeugt bin, dass das französische Volk zutiefst antifaschistisch ist. Das ist es heute immer noch. Aber die Gefahr, die wir bei der nächsten Wahl haben, ist die einer sehr hohen Enthaltung, weil die Bevölkerung dem System nicht mehr traut – aus nachvollziehbaren Gründen, wenn man sieht, wie Macron die »Rentenreform« durchboxt. Das könnte am Ende tatsächlich dazu führen, dass Le Pen gewählt wird. Was Le Pen neben der Enthaltung in die Karten spielt: Viele bürgerliche Medien ebnen den Rechten den Weg zur Macht. Ständig wird positiv über den Rassemblement National berichtet, werden Umfragen veröffentlicht, in denen die Partei gut abschneidet. Diese Medien arbeiten daran, den Rassemblement National aufzuwerten. Was nicht thematisiert wird, ist, dass die Partei mit einer »Rentenreform« à la Macron einverstanden ist. Richtige Opposition kommt von den Faschos aktuell nicht, sie ziehen sich zurück und warten auf ihren Moment.

Eine letzte Frage: Sie setzen sich sehr für internationale Solidarität ein, unterstützen etwa den Arbeitskampf in der Binding-Brauerei in Frankfurt am Main. Wie sieht es mit der Solidarität aus Deutschland für die Rentenproteste in Frankreich aus?

Bei unseren Demonstrationen in Strasbourg habe ich einige Leute aus Deutschland gesehen. Mitglieder von Die Linke oder der DKP, aber auch Kollegen vom DGB waren hier, um uns zu unterstützen. Wir von der CGT-Sparte für Lebensmittel in Strasbourg haben besonders enge Verbindungen zu den Kollegen der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten. Bevor das Gespräch zu Ende ist, möchte ich dazu sagen: Französische Arbeiter sind nicht anders als deutsche oder andere. Wir alle haben alle dieselben Probleme und können nur geeint und solidarisch gegen den Kapitalismus kämpfen.

André Hemmerle arbeitet seit 1977 als Sekretär der französischen Gewerkschaft CGT. Er gehört dem CGT-Vorstand der Sparte Nahrungsmittel an, lebt und arbeitet in Strasbourg

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (30. April 2023 um 22:34 Uhr)
    Frankreich steht still, wie auf dem Abstellgleis. Emmanuel Macron und seine Regierung wissen kaum noch, wie sie in die Zukunft blicken sollen. Umfragen unterstreichen, dass eine Mehrheit der Franzosen ihnen nicht mehr zuhört. Man muss zugeben, dass ihre öffentlichen Auftritte nicht sehr aufregend sind. Die schönen, tausendmal wiederholten politischen Versprechungen über die Schule, das Krankenhaus, die Ökologie und die Aufwertung der Arbeit begeistern niemanden mehr. Das Misstrauen ist am stärksten. Schlimmer noch, die Exekutive zeigt auch Unstimmigkeiten. Insbesondere in der Einwanderungsfrage sind der Staatschef und die Premierministerin nicht auf der gleichen Wellenlänge. Kurzum, die Versprechungen sind unverständlich, verstümmelt und kommen nicht mehr an, die unbeliebten »Reformen« werden abgelehnt. Die unheilbare französische Krankheit sitzt tief!
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (29. April 2023 um 09:40 Uhr)
    »Ja, die Regierung tut nichts gegen Verarmung und Kaufkraftverlust.« Dafür unterlässt die Deutschland-Zerstörer-Regierung so ziemlich alles, was das Absacken auf das französische Niveau an Verarmung und Kaufkraftverlust hierzulande aufhalten könnte. Aber manche meinen ja, die Deutschen hätten ohnehin immer viel zu wenig zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausgegeben. Nun endlich kommt sie also so richtig in Gang, die schon lange von ihnen geforderte Gleichheit in der Verarmung auch der hiesigen Massen; die Konvergenz der Prekarisierungsprozesse entsprechend dem pervertierten Solidaritätsbegriff des saturierten Bourgeois.

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