Stabil im Gegenwind
Von Reinhard Lauterbach
Ein gutes Jahr nach Kriegsbeginn sind die russischen Wirtschaftsdaten besser als vom Westen erhofft. Vor zwei Wochen veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IWF) seine neue Prognose für die Entwicklung der russischen Wirtschaft im laufenden und im kommenden Jahr. Demnach werde die Volkswirtschaft in diesem Jahr um 0,7 Prozent wachsen und 2024 um 1,4 Prozent. Das ist mehr als in der Euro-Zone insgesamt und wesentlich mehr, als der IWF für die BRD erwartet: ein Minus von 0,1 Prozent.
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich in erster Linie die keynesianische Rüstungskonjunktur. Russland hat seine Militärproduktion drastisch gesteigert, und dies bedeutet, dass die ohnehin bereits niedrige Erwerbslosigkeit weiter zurückgegangen ist. Kein Geringerer als der Putin-Gegner Michail Chodorkowski hat dieser Tage auf diesen Effekt hingewiesen. Chodorkowski war vergangene Woche in Berlin, wo er im Auswärtigen Amt empfangen wurde. Anschließend sprach er mit einem kleinen Kreis von Journalisten über seine Einschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Lage im Lande. Der Wirtschaftsdienst BNE Intellinews berichtete am Dienstag über das Treffen.
Demnach ist die politische Stabilität in Russland wesentlich auf die Stabilität oder sogar Verbesserung der sozialen Lage für die breite Mehrheit der Bevölkerung zurückzuführen. Da die meisten russischen Rüstungsbetriebe in strukturschwachen Regionen angesiedelt seien, wo traditionell die von einer einzigen Fabrik abhängigen »Monostädte« die soziale Lage nach unten gezogen hätten, habe sich dieser Effekt nun umgekehrt. Zweitens habe die Werbung für den Dienst als Zeitsoldat viele Männer gerade aus armen Regionen Russlands dem Arbeitsmarkt entzogen, und der Sold, den das Militär zahle, liege um das bis zu Zehnfache über dem russischen Durchschnittslohn. Auch die Entschädigungen an die Familien gefallener oder verletzter Soldaten stabilisieren die soziale Lage: Inzwischen ist in Analogie zu der patriotischen Parole »Dank dem Opa für den Sieg« der Spruch »Spasibo synu sa maschinu« (Dank dem Sohn für das Auto) in Umlauf, weil sich viele Familien von dem Sterbegeld das vorher unerreichbare Auto zulegen konnten.
Unter diesen Rahmenbedingungen rechnet Chodorkowski nicht damit, dass es in Russland kurz- und mittelfristig zu Protesten gegen den Krieg und auch nicht zu einer Revolte innerhalb der russischen Bourgeoisie kommen werde. Die Reichen flögen jetzt eben nach Dubai in den Urlaub statt nach Nizza, die Restaurants in Moskau seien voll.
Chodorkowskis Darstellung wird im Kern durch Äußerungen des in den USA lebenden russischen Wirtschaftswissenschaftlers Andrej Jakowlew bestätigt. Er sagte dem Spiegel vergangener Woche, der russische Staat habe gegenüber den Sanktionen Erfahrungen aus der Pandemiezeit nutzen und die Industrie stabilisieren können. Wirtschaftlich seien die Folgen von Corona und die der Sanktionen vergleichbar: Lieferketten seien plötzlich unterbrochen worden. Sie wieder zu knüpfen sei der Verwaltung relativ rasch gelungen. Die russischen Unternehmensleitungen wüssten zu schätzen, dass auf den Entscheidungsebenen der Verwaltung inzwischen jüngere und fachlich kompetente Beamte tätig seien, so Jakowlew. Auch er rechnete nicht damit, dass die russische Bourgeoisie gegen den Krieg revoltieren werde. Sie habe sich den Krieg nicht gewünscht, aber sie arrangiere sich mit ihm.
Stabilisiert hat sich inzwischen auch die Struktur der russischen Devisenreserven. Nach Angaben der auch von westlichen Kapitalkreisen als kompetent eingeschätzten russischen Zentralbank lagen die Gold- und Devisenreserven im Februar mit 601 Milliarden US-Dollar praktisch wieder auf dem Stand vom Februar 2022 (605 Milliarden). Allerdings ist der Dollar hierbei eine reine Rechengröße: Faktisch hat die Zentralbank ihre gesamten Dollar-Bestände inzwischen verkauft, und sie plant dasselbe mit ihren Euro-Vorräten. Zum Jahresende sollen die russischen Devisenreserven nur noch aus Yuan und Gold bestehen. Es wäre der Einstieg in ein völlig neues Währungssystem – Russland wäre der Reichweite neuer Finanzsanktionen entzogen.
Übrigens ist deren Wirkung offenbar weit geringer als von EU und USA nach außen verkündet. Aus der Antwort der EU-Kommission auf eine Anfrage aus dem EU-Parlament vom Februar geht hervor, dass von den russischen Zentralbankreserven in Höhe von 330 Milliarden US-Dollar, die angeblich nach Kriegsbeginn im Westen eingefroren wurden, faktisch nur 31 Milliarden – also keine zehn Prozent – unter westlicher Kontrolle stehen. Vom Rest wisse man nur, dass er irgendwo gehalten werde, aber nicht, wo und von wem.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (30. April 2023 um 11:48 Uhr)Das Lagebild ist für mich nicht ganz stimmig. Nach dem Maidanputsch waren die russischen Devisenreserven noch um Dutzende von Prozenten in den Keller gerauscht. Und jetzt sollen die vielfach strengeren Sanktionen praktisch keinen Effekt haben? Auch wenn Russland seine Wirtschaft gegen die westliche Sanktionitis irgendwie ein Stück weit immunisiert hat und die sanktionsbedingt hohen Energiepreise das ihre beigetragen haben werden, bleibt die Frage, wie man im Westen die Höhe des im Westen liegenden Teils der russischen Zentralbankreserven auf 330 Milliarden US-Dollar taxiert haben will, wenn man nur knapp 10 Prozent dieser vorgeblichen Gelder wirklich sehen kann. Ist die Zahl 330 eine Angabe der russischen Zentralbank? Oder hat man sich im Westen - wie so oft im Verhältnis zu Russland - mal wieder ganz auf den Blick in die Glaskugel der Marke wünsch-dir-was verlassen? Ich habe meine Zweifel, so schön es auch wäre, wenn der Westen keinen Zugriff auf das Gros der russischen Gelder hätte. Der westliche Kriegstreiber müsste dann für seine mindestens seit Minsk-2-Zeiten angestrebte militärische Lösung der Donbass-Frage selber bezahlen - ein Umstand, der ja vielleicht die westliche Zurückhaltung bei Munitionslieferungen an die Ukraine erklären könnte. Ich mag jedenfalls nicht so recht glauben, dass die vorgeblich ach so leistungsfähige westlich-kapitalistische Wirtschaft nicht zur Produktion von Munition im angeblich erforderlichen Maß in der Lage sein soll. Ich wäre nicht überrascht, wenn irgendwo irgendwer ein wenig an der Wahrheit gedreht hat.
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Leserbrief von Barbara Hug (29. April 2023 um 08:22 Uhr)Vielleicht trifft dieses Gemälde von Lauterbach sogar in Teilen zu. Vielleicht auch nicht. Dass jedoch eine Grossmacht ihre Arbeitslosigkeit und Armut mit Rüstungsproduktion verkleinert, ist sehr beunruhigend. Das Volk weiss ja genau, wieviele ihrer jungen Männer im Krieg gegen die Ukraine dahingerafft werden. Man erinnert sich an die Toten des Afghanistankrieges, den Russland führte. Das ist nicht vergessen. Die Scharfmacher ind Russland, Girkin und eine kleine Regierungsclique, haben ja noch das Sagen. Dazu gehören russische Medien. Ein Journalist einer sich volksnah nennenden Zeitung, Roger Köppel von der Schweizerischen Volkspartei, scheut sich nicht, mit den Scharfmachermedien in Russland zu kooperieren. So war das jedenfalls im Blick zu lesen. Man hoert immer wieder, Putin liebe sein Land und sein Volk... Kann das die ganze Wahrheit sein? Kann man Leichenfelder lieben? Dr. Barbara Hug/Schweiz
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (28. April 2023 um 21:45 Uhr)Vielen Dank für die sehr wichtigen und interessanten Informationen während des Desinformationskriegs! Was den Einstieg in ein neues (Welt-?)Währungssystem anbelangt: Da stehen so Themchen wie Verfügbarkeit und Sicherheit der Währung / des Geldes in Raum und Zeit an. Räumlich tut sich ja einiges (Abrechnung in nationalen Währungen), in der Tiefe des Raumes fehlt aber noch allerhand an Verfügbarkeit. Der amerikanische Druck pumpt als Seiteneffekt zwar alternative Währungen in Gegenden, aus denen er sie gerne heraus halten wollte, die Sicherheit dieser Geldströme ist kurz- und langfristig nicht so leicht zu gewährleisten. Wirkt die im Artikel beschriebene relative innere Stabilität Russlands stark genug auf die äußere politische Stabilität des »globalen Südens«, den Dollar (in absehbarer Zeit) als Reservewährung vom Thron zu stoßen? Von und zu Herrn Hudson konnte man ja vor einiger Zeit in diesem Blatt etwas lesen (»Imperium vor dem Abstieg«, jW vom 11.3.2022, Seite 3).
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