Flagge gezeigt
Von Moshe Zuckermann
Israel feiert dieses Jahr das 75. Jubiläum seiner Gründung. Zu fragen gilt es diesmal, mehr als jemals zuvor, was genau gefeiert wird. Eine Antwort darauf versuchte der Leitartikel der linksliberalen Tageszeitung Haaretz zum Unabhängigkeitstag zu geben. Nach Jahren melancholischer Mutlosigkeit habe das liberal-demokratische Lager Israels bzw. die aus ihm in den letzten Monaten erwachsene Protestbewegung das Unglaubliche geschafft: »Sie hat den Versuch des Staatsstreichs vorläufig aufgehalten, und nicht nur dies, sondern sie hat es auch fertiggebracht, sich wieder die Staatsfahne anzueignen. Dieses Jahr repräsentiert die Fahne das freie, friedenswillige und normale Israel, und unzählige Menschen, die sich von ihr distanziert und ihr gegenüber eine zunehmende Entfremdung empfunden hatten, werden sie jetzt mit großem Stolz schwingen.«
Festtägliches verlangt stets nach Optimismus. Wo jubiliert wird, bedarf es immer auch der Beschönigung. Selbst bei einer renommierten Zeitung wie Haaretz. Und dennoch wundert man sich, was wohl dabei gedacht worden sei, gerade die »Rückeroberung« der Fahne als Paradigma der erfolgreichen Protestbewegung herauszustellen. Nicht von ungefähr distanzierten sich über Jahre linke Israelis von der enthusiasmierten Fahnenschwenkerei, weil sie eben als Kennzeichen von nationalistischen Gegnern wahrgenommen wurde, erst recht, wenn es sich um jene handelte, die die Fahne als herrschaftlichen Anspruch in den besetzten Gebieten hochhielten – das erste, wofür die Siedler bei jedem neuen illegal »eroberten« Hügel im Westjordanland sorgten, war die Aufpflanzung der Israel-Fahne.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Da Israel seit Jahrzehnten für eine menschen- und völkerrechtsfeindliche Besatzungspraxis steht, sind die israelischen Staatsembleme, allen voran die Nationalflagge, damit zwangsläufig assoziert. Was die Fahne symbolisiert, bestimmt sich zunächst und vor allem durch das, was ihre nationalen Träger realiter betreiben – wenn man sich schon auf die Symbolebene versteifen will, muss man sich auch klarmachen, dass die »Wiederaneignung der Israel-Fahne« unabdingbar die Mitaneignung des aus dem israelischen Konsensbewusstsein verdrängten Okkupationsregimes bedeutet. Wenn also die Haaretz-Redaktion erklärt: »Dieses Jahr repräsentiert die Fahne das freie, friedenswillige und normale Israel«, dann handelt es sich im besten Fall um eine zutiefst unreflektierte Behauptung, im wahrscheinlicheren Fall aber um eine Ideologie des linksliberalen Lagers, das sich zwar redlich um die strukturelle Verhinderung des Staatsstreichs bemüht, dies aber unter dezidierter Ausblendung dessen, was auf dem Spiel steht, tut: Israel kann nicht frei und friedenswillig sein, solange es die Okkupation weiterhin hinnimmt und alle Wege, die zu ihrer Aufhebung führen könnten, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln systematisch untergräbt.
Prof. Moshe Zuckermann ist Soziologe und Historiker. Er lebt in Tel Aviv
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