Weltweit die Nase vorn
Von Jörg Kronauer
China hat im Lauf seiner vier Jahrtausende alten Geschichte über lange Perioden hinweg zu den führenden Mächten der Welt gehört, auch wenn diese Perioden zuweilen von Phasen der Krise und des Zerfalls unterbrochen wurden. Noch um 1820 war es ein einflussreicher und wohlhabender Staat – nach Volumen die globale Wirtschaftsmacht Nummer eins, in der etwas über ein Drittel der Weltbevölkerung knapp ein Drittel der Weltwirtschaftsleistung erarbeitete. Sein katastrophaler Absturz, der sich in den folgenden Jahrzehnten ereignete, ist maßgeblich von den Kolonialmächten Europas herbeigeführt worden, die sich die inneren Schwächen des chinesischen Kaiserreichs zunutze machten, um sich das Land als Halbkolonie zu unterwerfen. Als 1949 die Volksrepublik gegründet wurde, lebten dort zwar immer noch 22,5 Prozent der Weltbevölkerung. Ihr Anteil an der Weltwirtschaftsleistung aber lag bei nur noch 4,6 Prozent. Dass es ins Elend führt, wenn man äußere Aggression nicht abwehren kann und dem Gegner durch innere Konflikte auch noch Angriffspunkte bietet, ist eine historische Grunderfahrung des heutigen China, aus der die Kommunistische Partei ihre Schlussfolgerungen und der chinesische Staat seine Konsequenzen gezogen hat.
Chinas Wiederaufstieg hat mit der Gründung der Volksrepublik begonnen und mit der Reform- und Öffnungspolitik, die Ende der 1970er Jahre unter Deng Xiaoping eingeleitet wurde, an Fahrt aufgenommen. Zunächst ging es darum, das riesige Land gesellschaftlich und in seinem territorialen Bestand zu konsolidieren. Letzteres begann mit der Festigung der staatlichen Kontrolle über Tibet und Xinjiang in den 1950er Jahren und setzte sich mit der Entkolonialisierung Hongkongs und Macaus fort, die in den Jahren 1997 bzw. 1999 von den Kolonialmächten Großbritannien bzw. Portugal an China zurückgegeben wurden. Abgeschlossen ist der Prozess noch nicht: Taiwan, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts von China eingegliedert wurde, entzieht sich der Volksrepublik bis heute. Separatistische Bestrebungen bestehen auch in anderen Landesteilen mehr oder weniger fort. Dass sich Beijing mit ihnen abfinden würde, darf man vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen aus den vergangenen 200 Jahren getrost ausschließen.
Wirtschaftlich ging es für die Volksrepublik vor allem seit den 1980er Jahren bergauf – mit einem Wachstum, das Jahresraten von bis zu 15 Prozent erreichte. Lag Chinas Wirtschaftsleistung 1980 der Weltbank zufolge bei 191 Milliarden US-Dollar, so erreichte sie 2022 17,9 Billionen US-Dollar. Berechnet nach Kaufkraftparität ist der Anteil Chinas an der globalen Wirtschaftsleistung laut IWF-Statistik von 2,26 Prozent im Jahr 1980 auf 18,79 Prozent im Jahr 2022 gestiegen, letzteres Hongkong eingeschlossen. Der Volksrepublik ist es zudem gelungen, in der technologischen Entwicklung rasant aufzuholen. Auch wenn sie noch gravierende Lücken verzeichnet – etwa in der Halbleiterproduktion –, so hat sie in den Bereichen Mobilfunktechnologie, künstliche Intelligenz und auf weiteren Feldern zur Weltspitze aufgeschlossen. Eine vom US-Außenministerium finanzierte Studie des Australian Strategic Policy Institute (ASPI) kam Anfang 2023 zu dem Schluss, China habe mittlerweile bei 37 von 44 als kritisch eingeschätzten Technologien weltweit die Nase vorn.
All das hat Folgen. Zu denen gehört, dass – wieder nach Kaufkraftparität berechnet – der Anteil der USA an der globalen Wirtschaftsleistung, der 1990 noch bei 21,54 Prozent lag, auf 15,57 Prozent gefallen ist. Die Vereinigten Staaten liegen damit ebenso hinter China wie die heutigen EU-Staaten plus Großbritannien, deren Anteil von 23,48 Prozent (1990) auf 14,85 Prozent geschrumpft ist. Fällt der Westen nun, wie es die ASPI-Studie nahelegt, auch noch in der technologischen Entwicklung zurück, erodiert die ökonomische Basis seiner globalen Dominanz umfassend. Bis sich das in das Ende seiner politischen Dominanz übersetzt, ist nur eine Frage der Zeit. Dreierlei Optionen gibt es, dies zu verhindern: die eigene Entwicklung beschleunigen; Chinas Entwicklung mit Zwangsmaßnahmen bremsen; und wenn all das nicht hilft, bleibt noch der Griff zu militärischer Gewalt. An den ersten zwei Optionen versuchen sich die westlichen Mächte bereits. Die dritte bereiten sie für den Fall der Fälle vor.
Teil zwei: »Armut und Reichtum«
der zwölfteiligen China-Serie von Jörg Kronauer
Lesen Sie am Dienstag Teil 2 (von 12): Armut und Reichtum
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (29. April 2023 um 16:05 Uhr)»... erodiert die ökonomische Basis seiner globalen Dominanz umfassend. Bis sich das in das Ende seiner politischen Dominanz übersetzt, ist nur eine Frage der Zeit.« Die deutsche Bundesregierung ist gerade dabei, durch ihre von den Grünen dominierte Wirtschafts- und Außenpolitik diesen Prozess für Deutschland sogar noch zu beschleunigen. In dieser Beziehung löst sie den von Scholz erklärten»Führungsanspruchs« Deutschlands in Europa jetzt schon ein.
In der Serie Auf dem langen Marsch. Chinas Aufstieg
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Chinas Aufstieg verändert die Welt. Der Volksrepublik ist es nicht bloß gelungen, sich aus der Armut zu befreien. Wirtschaftlich erstarkt, ist sie längst zu einem Machtfaktor geworden, der die globale Dominanz des Westens in Frage stellt. Der reagiert, indem er China immer schärfer attackiert – per Wirtschaftskrieg und mit einem militärischen Aufmarsch, der einen dritten Weltkrieg befürchten lässt.
- 29.04.2023: Weltweit die Nase vorn
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