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Aus: Ausgabe vom 22.04.2023, Seite 12 / Thema
Imperialistik

Geburtsstunde des Imperiums

Ein Wendepunkt in der Geschichte der USA. Zum Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898
Von Ingar Solty
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»Zehntausend Meilen von Flügelspitze zu Flügelspitze«. Aus der Siedlerkolonie wird eine Weltmacht (zeitgenössische Darstellung)

Vor 125 Jahren begann der Spanisch-Amerikanische Krieg. Dieser Krieg, der mit der Niederlage Spaniens und der Abtretung seiner kolonialen Besitztümer an die USA endete, wird in der Literatur häufig als ein ungewollter Krieg beschrieben. Die Stimmungsmache der Medienhäuser Hearst und Pulitzer, eine hierdurch genährte ultranationalistische Kriegsbegeisterung, Lobbyismus von kubanischen Rebellengruppen in den USA, die auf eine US-Intervention spekulierten, und eine Kampagne gegen Präsident William McKinley mit Störfeuer aus der eigenen Regierung hätten den Krieg für McKinley schließlich unumgänglich gemacht. Als am 15. Februar 1898 eine bis heute ungeklärte Explosion das US-Schlachtschiff »Maine« im Hafen von Havanna zerstörte und zwei Offiziere und 258 Crewmitglieder das Leben kostete, bezichtigte die US-Kriegsmarine Spanien des Terroranschlags. Am Ende habe McKinley mit der Kriegserklärung auch seinen Machterhalt verfolgt.

Was in diesen Darstellungen fehlt, ist die politische Ökonomie dieses Krieges. Denn tatsächlich markiert er den historischen Übergang der US-Außenpolitik vom Binnenexpansionismus zum überseeischen Imperialismus und eine Zwischenstufe zwischen dem klassischen Imperialismus formeller Kolonialisierung des frühen 20. Jahrhunderts und dem neuen, informellen, wie er für die zweite Hälfte bis zur Gegenwart kennzeichnend werden würde. Als solcher war der Krieg die bewusste politische Entscheidung einer republikanischen Regierung, die auf einem imperialen Konsens der mächtigsten Kapitalfraktionen – Agrar-, Industrie- und Finanzkapital – beruhte.

Imperiales Selbstverständnis

Den Tatsachen entspricht nun, dass McKinley selbst kein glühender Imperialist und Feldherr war. Dem Veteranen des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) hatte sich das Grauen von Krieg, Blutvergießen und Zerstörung eingeschrieben. Am Tag vor seiner Amtsernennung soll McKinley zu seinem demokratischen Amtsvorgänger Grover Cleveland gesagt haben, dass er der »glücklichste Mensch der Welt« sein würde, sollte es ihm gelingen, im Laufe seiner Amtszeit die »fürchterliche Katastrophe« des Krieges zu vermeiden.¹ Einmal ins Amt gewählt, setzte McKinley den Kurs Clevelands fort und setzte sich dafür ein, dass Spanien freiwillig auf seine Kolonialansprüche in Kuba verzichtete. »McKinley«, so die US-Historiker Charles und Mary Beard, »prägte eine zögerliche Haltung zu Auslandsabenteuern.«²

Tatsächlich hatte McKinley zunächst zu verhindern versucht, dass der eisenharte Militarist und Imperialist Theodore Roosevelt in seiner Administration eine Rolle spielte. Roosevelt, der ihm aus der eigenen Regierung heraus vorwerfen würde, er habe »ein Rückgrat wie ein Schokoladeneclair«³, stand unter dem starken Einfluss des auf Seeherrschaft fokussierten Geopolitikers Alfred Thayer Mahan, eines Kapitäns und Strategen der Kriegsmarine. McKinley musste schließlich politischem Druck nachgegeben und Roosevelt am 6. April 1897 als stellvertretenden Minister der Kriegsmarine nominieren. Roosevelts Geist kam in einer am 2. Juni gehaltenen Rede am »Naval War College« zum Ausdruck, als er sagte: »Kein Triumph des Friedens ist annähernd so groß wie der größte Triumph des Krieges.«⁴ In einem Brief an einen Freund aus demselben Jahr hatte er geschrieben: »Behandele dies streng vertraulich: Ich werde im Grunde jeden Krieg begrüßen, weil ich glaube, dass dieses Land einen braucht.«⁵

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in den USA längst ein imperiales Selbstverständnis herausgebildet. Es war bereits im Prozess der genozidalen Eroberung des nordamerikanischen Kontinents gegen die indigene Bevölkerung und in der militärischen Verteidigung gegen die Kolonialinteressen Großbritanniens, Frankreichs und Spaniens angelegt gewesen. Bereits mit der »Monroe-Doktrin« von 1823 war der US-amerikanische Machtanspruch zunächst für die westliche Hemisphäre formuliert worden. Schon damals wurde der gesamte amerikanische Kontinent bis Patagonien zum US-amerikanischen Hinterhof erklärt.

Das Besondere am US-amerikanischen Imperialismus war und ist jedoch seine historische Spezifik. Die USA hatten 1776 ihre Unabhängigkeit erklärt und sie in einem Krieg gegen die britische Kolonialmacht durchgesetzt. Vor diesem Hintergrund artikulierte sich ihr Anspruch auf Vorherrschaft im Namen des Antikolonialismus. Zwischen 1810 und 1825 hatten dann auch fast sämtliche spanischen und portugiesischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent ihre Unabhängigkeit auf dem Wege langjähriger Befreiungskriege erzielt (Kolumbien 1810, Paraguay 1813, Argentinien 1816, Chile 1818, Ecuador 1820, Mexiko, Costa Rica, Guatemala, Honduras und Nicaragua 1821, Brasilien 1822, Venezuela 1823, Peru 1824, Uruguay 1825). Bereits 1804 hatte sich Haiti von Frankreich gelöst. Die Monroe-Doktrin war, überspitzt formuliert, eine »Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« – namentlich für Spanien und Portugal, aber auch für Frankreich und Großbritannien. Denn zu erinnern ist daran, dass der nördliche Nachbar Kanada sich erst ab 1867 schrittweise und nie ganz vollständig vom British Empire zu lösen begann. Es lag kein Jahrzehnt zurück, dass britische Soldaten im »Krieg von 1812« (1812–1815) die Hauptstadt Washington erobert und das Weiße Haus wie das Kapitol niedergebrannt hatten.

Auch im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 vermochten die USA sich so den Anschein zu geben, nicht aus eigenem Expansionsinteresse, sondern gänzlich uneigennützig auf der Grundlage einer werteorientierten Außenpolitik den seit 1895 aufständischen kubanischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen die spanische Kolonialmacht beizuspringen. Die US-amerikanische Lateinamerikapolitik war jedoch von Anfang keine defensive. Vielmehr war sie zugleich verknüpft mit dem eigenen Anspruch, die US-amerikanischen Kapitalinteressen in Amerika militärisch durchzusetzen. Der US-Historiker William Appleman Williams bezeichnet die Monroe-Doktrin darum auch als »Manifest des American Empire«,⁶ und er dokumentiert für den Zeitraum der 75 Jahre zwischen der Verkündung der Doktrin und dem Beginn des Spanisch-Amerikanischen Kriegs insgesamt 71 militärische »Interventionen« ohne Kriegserklärungen, die das Ziel verfolgten, US-Kapital im Ausland zu schützen.⁷ Und so hat auch die Entsendung des in Havanna explodierten Schlachtschiffs dem Zweck gedient, »amerikanische Interessen zu sichern«.⁸ Die Militärmachtprojektion war folglich am Vorabend des Spanisch-Amerikanischen Kriegs längst erprobt. Dabei gingen diese Art von Kriegsinterventionen zum Schutz von Kapitalinvestitionen und US-Bürgern im Ausland schon in dieser Zeit deutlich über die westliche Hemisphäre hinaus und erstreckten sich bis nach China und sogar das östliche Mittelmeer.

Insofern aber die USA keine alte europäische Kolonialmacht waren, sondern eine werdende Weltmacht, die selbst einmal Kolonie gewesen war, brachten sie historisch einen Imperialismus neuen Typus hervor. Carl Schmitt, der »Kronjurist« des klassisch-imperialistischen und siedlerkolonialistisch nach Osten orientierten »Dritten Reichs«, von dem die Formulierung der »Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte« stammt, hatte in ihm 1932 vorausschauend die eigentliche Zukunft imperialistischer Politik erkannt und sprach von den »völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus«.⁹ Williams spricht von einem »imperialen Antikolonialismus«.¹⁰ Dieser sei, so der US-Historiker Howard Zinn, »ein klügerer imperialistischer Ansatz verglichen mit der traditionellen Imperialpolitik Europas«.¹¹

Expansion nach außen

Schon während des US-amerikanischen Unabhängigkeitskriegs hatte Thomas Jefferson, maßgeblicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und dritter US-Präsident (1801–1809), das zukünftige Ziel der US-Außenpolitik mit der Formel »extensive empire and self-government« beschrieben. Die USA würden ein »Empire der Freiheit« sein. Dabei war mit Freiheit schon damals die »individuelle Freiheit« des Kapitals gemeint, ökonomische Herrschaft (über die Arbeit) und politische Herrschaft (»no taxation without representation«) gleichzeitig auszuüben.

Der Großraum des »Empires der Freiheit« bezog sich zunächst vorwiegend auf das »Innere« des nordamerikanischen Kontinents selbst; nach der Schließung der »Frontier« und der im Grunde endgültigen militärischen Niederschlagung der Aufstände der amerikanischen Ureinwohner weitete sich diese imperiale Perspektive jedoch auf die ganze Welt aus. 1890 erklärte das Census Bureau, die bevölkerungspolitische Statistikbehörde der USA, dass es in der Union kein Land ohne Siedler mehr gebe. Bis dahin hatte eine Politik der Landschenkungen wie im »Donation Land Claim Act« (DLCA) von 1850 und in den »Heimstättengesetzen« von 1862 (in den Nordstaaten) und 1866 (im besiegten Süden) die Grundlage für die Binnenexpansion gelegt. Die Heimstättengesetze waren dabei eine wesentliche Ursache für den Bürgerkrieg gewesen, weil die Sklaven haltenden Plantagenbesitzer in den Südstaaten den Wegzug von armen weißen Landarbeitern befürchteten und zugleich die expansive Plantagenwirtschaft (anstatt der auf kleiner Warenproduktion beruhenden, agrarkapitalistischen Farmerwirtschaft) in den Westen ausgedehnt sehen wollten.

Die Schließung der »Frontier« 1890 bezeichnete der US-Historiker Frederick Jackson Turner drei Jahre später als Wasserscheide in der US-Geschichte, und er verband seine These selbst mit einem imperialen Sendungsbewusstsein für die USA.¹² Imperialismus war letztlich die Antwort auf die inneren Expansionsgrenzen des US-Kapitalismus. Sie offenbarten sich in der »Panik von 1893«, einer tiefen kapitalistischen Überakkumulationskrise, in der fünfhundert Banken und 15.000 Unternehmen pleite gingen, die Massenarbeitslosigkeit rasant anstieg und eine weite Verelendung bewirkte. Die Schließung der Frontier im Innern schien ihre Verschiebung nach außen zwingend erforderlich zu machen: Expansion nach Übersee. Denn nun traten die USA auch mehr und mehr als Waren- und Kapitalexporteur auf. Ihr Anteil am weltweiten Warenexport stieg zwischen 1870 und 1900 von 7,9 auf 14,1 Prozent. Ab den 1890er Jahren waren die USA dabei ein bedeutender Exporteur von (höherwertigen) Industriewaren; allein der Export von industriellen Gütern nach Großbritannien verdreifachte sich von 1890 bis 1896 von 497.126 auf 1,71 Millionen Pfund Sterling (und bis 1913 dann auf 4,53 Millionen Pfund).¹³

Auch der Kapitalexport stieg nach der Schließung der Frontie dramatisch an. Bis 1850 waren die USA ein Nettoimporteur gewesen; fast der gesamte britische Kapitalexport floss bis zu diesem Zeitpunkt dorthin. US-Kapital wiederum floss allenfalls in die benachbarten Staaten Kanada und Mexiko oder ins alte Europa. Zwischen 1897 und 1914, d. h. in weniger als zwei Dekaden, sollte sich der US-Kapitalexport jedoch von 700 Millionen auf 3,5 Milliarden US-Dollar verfünffachen – und richtete sich dabei zusehends auf Lateinamerika und Asien. Die USA verwandelten sich von einem Schuldner- in einen Gläubigerstaat. Mit anderen Worten: Die USA verfolgten nun einen expansiv-exportorientierten Wachstumspfad, mussten – in den Begriffen von Rosa Luxemburg – ein kapitalistisches Außen integrieren, um das »Innen« zu stabilisieren. Dabei bestand vor Beginn des Spanisch-Amerikanischen Kriegs in der Kapitalelite ein Konsens über die Notwendigkeit des Imperialismus, die auch McKinley in seiner Tätigkeit für die »National Association of Manufacturers«, den Industriekapitalverband, zum Ausdruck brachte: »Wir wollen«, sagte der spätere Präsident, »unsere eigenen Märkte für unsere Industrieunternehmen und landwirtschaftliche Produktion, wir wollen ausländische Märkte für unsere Überschussproduktion.«¹⁴

Der Spanisch-Amerikanische Krieg war in den Worten von Williams die »offene Entscheidung für den Imperialismus«.¹⁵ Nicht ganz unähnlich der Wende der sozialliberalen Reformer zu Imperialisten im Britischen Empire – Joseph Chamberlain, Cecil Rhodes u. a. – suchte nun auch die herrschende Klasse in den USA die inneren gesellschaftlichen Widersprüche durch den Imperialismus nach außen zu bearbeiten und aufzuheben. Dies geschah indes nur bedingt bewusst. Vielmehr gehörte dazu auch, dass sich die im Zuge der Krise von 1893 verschärfenden Klassenkämpfe von unten in das herrschende System einschrieben und einen neuen Modus der Herrschaft, den »Organisierten Kapitalismus« (Rudolf Hilferding) der »Progressive Era« schufen. Dazu gehörte etwa der Prozess, der zur Gründung der »Federal Reserve« führte, die sowohl dem Zweck der Kriegführung diente wie auch als gesellschaftlicher Kompromiss in Reaktion auf die Forderungen der Arbeiter- und der kleinbäuerlichen Populistenbewegung zu begreifen ist.

»Die ökonomischen Auswirkungen der Depression und ihre Folge einer realen Furcht vor ausgeweiteten gesellschaftlichen Aufständen oder sogar Revolutionen«, schreibt Williams, »beendeten das lange und schrittweise sich vollziehende Einschwenken der städtischen Eliten auf die Linie der traditionellen Farmer, die die überseeische Marktexpansion als die strategische Lösung der nationalen ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme ansahen.«¹⁶ Tatsächlich sorgte der dann von Grover Cleveland blutig niedergeschlagene Pullman-Eisenbahnarbeiterstreik von 1894 für eine panische Revolutionsfurcht. Sie lässt sich wohl nur mit der Wirkung der Pariser Kommune von 1871 auf die europäischen Bourgeoisien vergleichen.

McKinleys Wahl zum Präsidenten sei, so der sozialistische Journalist und US-Historiker Gustavus Myers in seinem Klassiker »Money«, »ein deutliches Zeichen dafür« gewesen, »dass die Plutokratie die volle Macht erlangt hatte« und »die Trusts keine Gegnerschaft der Regierung, auch keine scheinbare, mehr zu fürchten« gehabt hätten.¹⁷ Roosevelt, McKinleys Architekt des Kriegs, dem die Unterstützung der Industrie- und Finanzbourgeoisie trotz gelegentlicher antimonopolistischer Rhetorik stets sicher war, sei, so der US-Historiker Richard Hofstadter, getrieben gewesen von einer »Angst vor dem Mob«.¹⁸

Open-Door-Politik

Der Spanisch-Amerikanische Krieg und die Wende zum offenen Imperialismus folgten also sowohl einer ökonomischen Logik des Exports überschüssiger Waren und überschüssigen Kapitals als auch einer politischen Logik der ideologischen Ablenkung von den inneren Widersprüchen. »Die Depression der 1890er Jahre«, schreibt Hofstadter, »nährte in den amerikanischen Mittelklassen ein Gefühl von Unbehagen und Angst. Sie sahen den Aufstieg der großen Konzerne auf der einen und den der Arbeiter- und populistischen Bewegungen auf der anderen Seite. Für sie, wie für (Roosevelt), diente ein Krieg als Ablenkung; nationale Machtausübung auf der Weltbühne gab ihnen das Gefühl, dass die Nation ihre Kapazitäten für Wachstum und Entwicklung nicht verloren hatte.« Es seien »diese Emotionen« gewesen, die »die Bevölkerung so empfänglich für den unnötigen Spanischen Krieg und für das Temperament von einem Mann wie Roosevelt gemacht« hätten.¹⁹

»Die Schließung der Frontier, die tiefe Wirtschaftskrise ab 1893 und die aufbrandenden Klassenkämpfe von unten«, hätten, so befand auch Howard Zinn, »unter den politischen und Geldeliten des Landes die Einsicht verstärkt, dass überseeische Märkte das Problem der Unterkonsumtion daheim und die Wirtschaftskrise, die in den 1890er Jahren zu einem Krieg der Klassen führte, abfedern könnten«.²⁰ Die Präsidentschaft von McKinley sollte in diesem Sinne, so Williams, »amerikanische Staatsmacht einsetzen, um das Silber zu remonetarisieren, Kuba zu befreien und die Welt nach den Prinzipien des freien Marktes neu organisieren«.²¹ Diesem Druck gab McKinley schließlich nach.

Eine wichtige Erkenntnis bei alledem ist, dass der neue »Open Door«-Imperialismus der USA Ergebnis eines politischen Prozesses war, der auch protektionistischen Tendenzen seitens der binnenwirtschaftlich orientierten oder international nicht konkurrenzfähigen Industriekapitalien zu überwinden hatte. Williams hat herausgearbeitet, dass der gesellschaftliche Träger des imperialen Bewusstseins, seine treibende Klasse, ursprünglich nicht das Industrie- und Finanz-, sondern das US-Agrarkapital gewesen ist. Die Überschussproduktion der Farmer, immerhin die große Mehrheit der US-Bevölkerung, und der inhärente Zwang zur Expansion hätten den Grundstein gelegt für die imperiale Politik.

Paradoxerweise hatten gerade der durch die Existenz der Frontier und das »kostenlose« Land für den Siedlerkolonialismus bedingte chronische Arbeitskräftemangel und die entsprechend hohen Lohnkosten in der Landwirtschaft die USA hyperwettbewerbsfähig gemacht, weil sie die Farmer zu technischen Innovationen und zur Ersetzung von lebendiger Arbeit durch Maschinen zwangen. Hieraus ergaben sich Expansionsfähigkeit und -zwang zugleich. »Wie paradox dies auch erscheinen mag, der Kern der Sache ist einfach: Der nordamerikanische Farmer war ein kapitalistischer Geschäftsmann, dessen Auskommen vom freien Zugang zu einem weltweiten Markt abhing und der zunehmend darauf drängte, dass die US-Regierung ihre Machtmittel einsetzte, um solche Freiheit der Chance zur Plusmacherei zu sichern«, so Williams.²²

Der globale Fokus bildete sich auch deswegen heraus, weil die herrschenden Klassen des »alten Europa« auf die Globalisierung der Agrarmärkte in den 1870er Jahren, als US-, aber auch La Plata-Weizen in Europa anlangte und etwa die ineffizienten ostelbischen Junker unter Druck setzte, mit Schutzzollpolitik reagierten, das heißt, versuchten, sich gegen die amerikanische Konkurrenz abzuschotten. Entsprechend wurden andere geographische Räume wichtig, um dem inhärenten Wachstums- und Expansionszwang Rechnung zu tragen. Besondere Bedeutung erlangten neben den Amerikas vor allem der Pazifik mit Blick auf Hawaii und China. Den Europäern warf man dabei vor, die Ordnung des freien Marktes zu stören.

Zugleich war die überseeisch-imperialistische Wende der USA am Ende nicht denkbar ohne die Industrie- und Finanzbourgeoisie. Wie Williams gezeigt hat, war es insbesondere die geographische Zersplitterung der US-Agrarier, die zur Folge hatte, dass das urban konzentrierte, gut vernetzte und entsprechend politisch handlungsfähigere Industrie- und Finanzkapital den Modus operandi der Expansion bestimmte. »Die Führer der großen Städte« – John D. Rockefeller und »Standard Oil«, Andrew Carnegie und sein Industrieimperium usw. – hätten erkannt, »dass die Expansion der kapitalistischen Ökonomie unabdingbar war – und zwar sowohl für Industrie und Finanz wie für die Landwirtschaft –, und setzten ihre konzentrierteren und effizienteren politischen Machthebel ein, um die neue Lesart imperialer Großmachtpolitik zu bestimmen und unter ihrer Kontrolle zu halten«.²³ Auch wenn isolationistische Kapitalfraktionen bis weit ins 20. Jahrhundert bestehen blieben, habe sich bis zum »Ende des 19. Jahrhunderts (…) bei beiden Gruppen eine Mehrheit« herausgebildet, »die die Neukonzeption imperialer Machtpolitik favorisierte und hinnahm«.²⁴

Geoökonomische Form

Im Spanisch-Amerikanischen Krieg manifestiert sich diese überseeisch-imperialistische Wende dann zum ersten Mal; denn im Gegensatz zu früheren territorialen Expansionen, wie dem »Louisiana Purchase« (1803 von Frankreich gekauft) und den Anschlüssen von Texas (1845 als vormals mexikanische, freie Republik der Union beigetreten), dem Oregon Territory (1846 nach einem Vertrag mit Großbritannien durch die USA angeschlossen), Nordmexiko (infolge des US-mexikanischen Kriegs 1846–1848 von den USA annektiert) und Alaska (1867 vom russischen Zarenreich gekauft) wurden »alle Spanien 1898 abgenommenen Territorien in eine Form der kolonialen Besitzung verwandelt und nie vollständig vom Nationalstaat einverleibt«, wie der schottisch-amerikanische Geograph Neal Smith festgestellt hat. Der Spanisch-Amerikanische Krieg sei deshalb ein »Wendepunkt in der historischen Geographie des US-Expansionismus«, weil »die nationalen und Staatsgrenzen der USA faktisch feststanden (…) und die geographischen Ansprüche, die aus dem Krieg resultierten, weniger das Ergebnis einer nationalen Konsolidierung, sondern der internationalen Kolonisierung« gewesen seien.²⁵

In diesem Sinne raubten die USA Spanien seine Kolonien Philippinen, Guam, Puerto Rico und Kuba, das von »Expansionisten aller Couleur« immer wieder als »die reife Birne« neben »der köstlichen Frucht« Hawaii bezeichnet wurde.²⁶ Und während die USA die Philippinen infolge des philippinischen Unabhängigkeitskriegs (1899–1902) gleich wieder verloren und Kuba 1902 nur formell in die Unabhängigkeit entließen, aber bis zur Kubanischen Revolution von 1959 vollständig kontrollierten, sind Puerto Rico und Guam bis heute US-Kolonien geblieben.

Der Spanisch-Amerikanische Krieg war allerdings, so Smith, »in Sachen überseeischer Kolonisierung (…) der erste und zugleich letzte Beutezug der Vereinigten Staaten, denn hiernach nahm der US-Expansionismus eher eine geoökonomische als eine koloniale Form an«. Der Krieg sei in der US-Außenpolitik eine »Anomalie« und markiere den Übergang zu einem vom klassischen Imperialismus formeller Kolonialisierung der europäischen Großmächte »grundsätzlich verschiedenen Globalismus«.²⁷

Smith unterschlägt an dieser Stelle die Bedeutung des formellen Kolonialismus im Rahmen des Panamakanalbaus, für den die USA faktisch einen völlig von Washington kontrollierten Kunststaat schufen, den sie dem unabhängigen Kolumbien mit Militärgewalt entrissen. Aber im Prinzip ist Smith dennoch zuzustimmen. Die Wurzeln des US-Staates als »Prototyp eines Globalstaats«, wie der kanadische Politikwissenschaftler und Marxist Leo Panitch formulierte, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Interesse der eigenen dominanten, aber auch der internationalisierten Kapitalien insgesamt den Kapitalismus weltweit durchsetzt und im Sinne einer »Open Door«-Politik, mit allen militärischen und vor allem nichtmilitärischen Gewaltmitteln aufrechterhält, besitzt hier seine Ursprünge. Der Spanisch-Amerikanische Krieg markiert die Geburtsstunde des US-amerikanischen Imperialismus und steht letztlich an der Wiege unserer heutigen »Globalisierung« des Kapitalismus durch das »American Empire«.²⁸

Anmerkungen

1 Zit. n. Edmund Morris: The Rise of Theodore Roosevelt. New York 2001, S. 583

2 Charles Beard u. Mary Beard: A Basic History of the United States. Philadelphia 1944, S. 350

3 Ebd., S. 342

4 Zit. n. Morris, a. a. O., S. 589

5 Zit. n. Howard Zinn: A People’s History of the United States. New York 2003, S. 297

6 William Appleman Williams: The Contours of American History. London u. a. 2011, S. 215

7 William Appleman Williams: Der Welt Gesetz und Freiheit geben. Hamburg 1984, S. 92–98

8 Beard u. Beard, a. a. O., S. 342

9 Carl Schmitt: Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus. In: ders., Positionen und Begriffe im Kampf gegen Weimar-Genf-Versailles, 1923–1939, 4. Auflage. Berlin 2014, S. 184–203

10 William Appleman Williams: Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie. Frankfurt am Main 1973, S. 25–62

11 Zinn, a. a. O., S. 301

12 Frederick Jackson Turner: The Significance of the Frontier in American History. In: Annual Report of the American Historical Association (1893), S. 199–227

13 R. Floud: The Adolescence of American Engineering Competition. In: Economic History Review, 1974

14 Zit. n. Williams, Contours, a. a. O., S. 363

15 Henry W. Berger (Hg.): William Appleman Williams Reader. Chicago 1992, S. 318

16 Berger, a. a. O., S. 318

17 Gustavus Myers: Money, 2. Auflage. Frankfurt am Main 1979, S. 570

18 Richard Hofstadter: American Political Tradition. New York 1948, S. 208

19 Ebd., S. 211

20 Zinn, a. a. O., S. 297

21 Berger, a. a. O., S. 318

22 Williams, Welt, a. a. O. S. 87

23 Ebd., S. 90

24 Ebd., S. 86

25 Neal Smith: American Empire: Roosevelt’s Geographer and the Prelude to Globalization. Berkeley u. a. 2004, S. 31

26 Williams, Welt, a. a. O., S. 104

27 Smith, a. a. O., S. 31

28 Vgl. Leo Panitch u. Sam Gindin: The Making of Global Capitalism: The Political Economy of American Empire. London u. a. 2012

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 1. März über die Aporien der linken und linksradikalen Befürworter von Waffenlieferungen in die Ukraine.

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