Schreiendes Unrecht
Von Linn Washington
Lucretia Clemons, Richterin am Common Pleas Court in Philadelphia, hat am 31. März 2023 erneut das Recht des US-Bürgerrechtlers Mumia Abu-Jamal auf einen neuen Prozess blockiert. Ende Februar hatte die Verteidigung weitere Beweise dafür vorgelegt, dass ihr Mandant nicht an der Ermordung des Polizisten Daniel Faulkner im Dezember 1981 schuldig ist. Noch am 11. März hatten die Teilnehmer eines Teach-ins in Philadelphia »die rechtlichen, politischen und moralischen Gründe für die Freilassung des politischen Gefangenen« Mumia Abu-Jamal dargelegt, damit »Richterin Clemons versteht, dass sie das Richtige tun muss«. Doch das verhallte ungehört. Als Moderator des Teach-ins »Bearing Witness in the Case of Mumia Abu-Jamal« hatte der Journalist und frühere Arbeitskollege Abu-Jamals, Linn Washington, auf das von Richterin Clemons schon einmal geäußerte Argument, einige der Unschuldsbeweise seien »verjährt«, erwidert: »Wenn es aber 100 Jahre dauert, bis die Beweise aufgedeckt werden, dann darf Verjährung keine Rolle spielen!« Wir dokumentieren im folgenden Linn Washingtons Analyse der Gerichtsentscheidung. (jW)
Im Mai 2021 entließ Richterin Lucretia Clemons vom Common Pleas Court in Philadelphia einen Strafgefangenen aus der Haft. Ihre Entscheidung beruhte vor allem auf dem Fakt, dass die Staatsanwälte Beweise für die Unschuld des Gefangenen zurückgehalten hatten und dieses rechtswidrige Vorgehen ursächlich dafür war, dass dieser Mann aus Philadelphia fast dreißig Jahre lang zu Unrecht wegen Mordes im Gefängnis saß. Als die Richterin am 28. Mai 2021 Eric Riddicks Freilassung anordnete, erklärte sie, das Fehlverhalten der Staatsanwälte zum Nachteil von Riddick stelle einen »Verfassungsbruch« dar.¹
Im Gegensatz dazu weigerte sich Clemons 96 Wochen später im umstrittenen Fall von Mumia Abu-Jamal, grobe Verfassungsverstöße derselben Staatsanwaltschaft von Philadelphia zu erkennen, obwohl Millionen Menschen in aller Welt in dem vor 41 Jahren verhängten Urteil wegen Mordes ein klares Fehlurteil sehen. Am 31. März 2023 lehnte Richterin Clemons den jüngsten Berufungsantrag² von Abu-Jamal ab und behauptete, dass die von den Staatsanwälten 36 Jahre lang zurückgehaltenen und 2018 in sechs Archivkartons mit Prozessakten zum Fall Abu-Jamal aufgefundenen Dokumente keinen mit dem Fall Riddick vergleichbaren Verfassungsbruch darstellten.³
Mit ihrer jüngsten Entscheidung verwarf Clemons die Hauptrüge in Abu-Jamals Antrag: nämlich den fundamentalen Schaden, der seiner Verteidigung durch die Staatsanwälte und ihr jahrzehntelanges Zurückhalten entlastender Beweise zugefügt worden war und sie unterminierte. Die Staatsanwälte hatten gegenüber den Gerichten stets wahrheitswidrig angegeben, sie hätten alle Informationen an Abu-Jamals Anwälte weitergegeben.
Auch wenn Richterin Clemons das Verhalten der Staatsanwälte nicht beanstanden wollte, handelte es sich dabei doch um klare Verfassungsverstöße, zu deren Korrektur Gerichte in Pennsylvania wie in den ganzen USA verpflichtet sind. In der Präambel des »Pennsylvania Code of Judicial Conduct«, dem Verhaltenskodex für Richterinnen und Richter, heißt es, dass sie »eine grundlegende Rolle bei der Gewährleistung der Grundsätze der Gerechtigkeit« spielen. Clemons’ Entscheidung im Fall Abu-Jamals zeugt jedoch von ihrer Missachtung eben dieser Aufgabe.⁴
Raffinierte Gesetzlosigkeit
Dass Richterin Clemons Abu-Jamals Berufungsgründe so eifrig verwarf, hat damit zu tun, dass sie die Absicht zur Korrektur von Unrecht, die den beiden weithin als »Batson« und »Brady« bekannten Grundsatzurteilen des Obersten Gerichtshofs der USA zugrunde liegt, nicht in vollem Umfang berücksichtigte. Das Urteil im Fall »Batson gegen Kentucky«, das 1986 vom Obersten Gerichtshof der USA gefällt wurde, verbietet es Staatsanwälten, Geschworene allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (»Race«) aus der Jury auszuschließen.
Ein Dokument in den sechs unterschlagenen Aktenkartons enthüllte, dass sich der Sitzungsstaatsanwalt in Abu-Jamals Prozess Notizen über die Ethnie der potentiellen Geschworenen gemacht hatte. Jahrzehntelang hat die Staatsanwaltschaft von Philadelphia geleugnet, dass während Abu-Jamals Prozess eine solche ethnische Erfassung stattgefunden habe.
Abu-Jamal wurde von einer überwiegend weißen Jury verurteilt, obwohl die Bevölkerung Philadelphias zum Zeitpunkt des Prozesses im Jahr 1982 einen afroamerikanischen Anteil von 40 Prozent aufwies. Clemons bezeichnete Abu-Jamals Argument, er sei durch das Vorenthalten der Notizen des Staatsanwalts während der Auswahl der Geschworenen in seinen Rechten beschnitten worden, als »haltlos«. Außerdem erklärte die Richterin, Abu-Jamal habe aufgrund der Strafprozessvorschriften⁵ »kein Recht« auf die Notizen des Staatsanwalts.
Das 1963 vom Obersten Gerichtshof der USA gefällte Grundsatzurteil »Brady gegen Maryland« verpflichtet Staatsanwälte, Angeklagten alle in ihrem Besitz befindlichen Beweise für ihre Schuld oder Unschuld zur Verfügung zu stellen. »Brady« verlangt, dass die Staatsanwälte diese Beweise rechtzeitig offenlegen. Die Zeitspanne von fast vierzig Jahren, in der die Staatsanwaltschaft von Philadelphia den Anwälten von Abu-Jamal diese sechs Kartons mit Prozessmaterial vorenthalten hat, übersteigt auch bei großzügiger Auslegung bei weitem die »Brady«-Anforderungen einer »rechtzeitigen Offenlegung«. Die in den sechs unterschlagenen Archivkartons enthaltenen Beweismittel haben die ohnehin fragwürdigen Aussagen der beiden Hauptbelastungszeugen gegen Abu-Jamal im Prozess von 1982 weiter erschüttert.
Die Anforderungen der »Batson«- und »Brady«-Grundsatzurteile in bezug auf die Korrektur von Fehlurteilen sind in Pennsylvanias Vorschriften für Strafrechtsverfahren fest verankert. In ganz Pennsylvania haben Gerichte neue Verfahren gewährt, wenn Verstöße gegen »Batson« und »Brady« vorlagen. Diese Verstöße führten dann zu Haftentlassungen, auch direkt aus dem Todestrakt.
Die »Brady«-Bestimmungen finden sich beispielsweise in Urteilen des Obersten Gerichtshofs von Pennsylvania, in den vom Obersten Gerichtshof Pennsylvanias aufgestellten Regeln für Staatsanwälte und in den Anforderungen an Anwälte im »Pennsylvania Code«, in dem alle Regeln und Vorschriften der Regierung des Bundesstaats aufgeführt sind.
Pennsylvanias »Rules of Professional Conduct«, das Standesrecht für Juristen, enthält einen Abschnitt mit dem Titel »Special Responsibilities of a Prosecutor« (Besondere Obliegenheiten des Staatsanwalts). Artikel 3.8 (d) dieses Abschnitts verlangt von Staatsanwälten, dass sie »gegenüber der Verteidigung rechtzeitig alle ihnen bekannten Beweise oder Informationen offenlegen, die die Schuld des Angeklagten widerlegen oder die Straftat mildern«.
Die in Abu-Jamals Antrag genannten Berufungsgründe, die Clemons ablehnte, enthielten akribisch aufgelistete Details über die jahrzehntelangen vergeblichen Anträge seiner Anwälte, auf der Basis von »Brady« Aktenmaterial ausgehändigt zu bekommen, das die Staatsanwaltschaft beharrlich zurückhielt. Vor Gericht behaupteten die Staatsanwälte ebenso beharrlich, dass sie die angeforderten Informationen herausgegeben hätten, was jedoch nicht der Fall war. Einige dieser Informationen wurden erst Monate, Jahre oder Jahrzehnte nach der beantragten Herausgabe freigegeben. Bis heute ist immer noch unklar, ob die Staatsanwälte tatsächlich alle in ihrem Besitz befindlichen Informationen und Dokumente aus dem Verfahren gegen Abu-Jamal offengelegt haben.
Richterin Clemons behauptete nun in ihrer Entscheidung von Ende März frank und frei, dass die 36 Jahre lang zurückgehaltenen Beweise die Geschworenen in Abu-Jamals Prozess im Jahr 1982 nicht davon überzeugt hätten, Abu-Jamal sei »nicht schuldig«. Außerdem behauptete Clemons, das Zurückhalten von Beweisen für Verstöße des Sitzungsstaatsanwalts gegen das »Batson«-Grundsatzurteil falle nicht in ihren Entscheidungsbereich.
Clemons nutzte bei ihrer Ablehnung von Abu-Jamals Berufungsantrag geschickt die Regeln für Gerichtsverfahren aus, um sein Recht auf Wiederaufnahme seines Verfahrens zunichte zu machen. Die Richterin bezog sich dabei wiederholt auf bereits gegen Abu-Jamal ergangene Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs von Pennsylvania, ohne auf die Voreingenommenheit dieses höchsten Gerichts des Bundesstaats ihm gegenüber einzugehen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) äußerte in ihrem Bericht über den Fall Abu-Jamal vom Februar 2000⁶ Besorgnis über Verstrickungen zwischen Pennsylvanias höchstem Gericht und gegenüber Abu-Jamal feindselig eingestellten Kräften innerhalb der Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Polizeigewerkschaft »Fraternal Order of Police« von Philadelphia. Dazu schreibt AI: »Diese ungelösten Fragen und die eigenen Beschlüsse des Gerichts über Abu-Jamals Berufungsanträge haben das schlechte Gefühl hinterlassen, dass der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates möglicherweise nicht in der Lage gewesen ist, in diesem kontroversen Fall unparteiisch Recht zu sprechen.«⁷
Im Dezember 2022 erinnerte die »UN-Sachverständigengruppe für Menschen afrikanischer Abstammung« Richterin Clemons mit einer schriftlichen Eingabe an die Notwendigkeit, »rassendiskriminierende Auswirkungen und voreingenommene Entscheidungen« in Abu-Jamals Fall zu untersuchen. In dieser Eingabe wurde dieser Überprüfung hohe Bedeutung beigemessen, auch wenn es eine bekannte Tatsache sei, dass die Gerichte oft »zögern, frühere Gerichtsentscheidungen zu beanstanden«. Clemons missachtete diese mahnende Erinnerung.
Heuchelei der Staatsanwaltschaft
Die Travestie von Clemons’ Missachtung ihrer eigenen richterlichen Pflicht, ungerechte Urteile zu korrigieren, wird durch die Haltung von Philadelphias »fortschrittlichem« Bezirksstaatsanwalt Lawrence Krasner noch verschlimmert. Er persönlich hatte die sechs Archivkartons mit Beweismitteln gefunden, die von früheren Staatsanwälten 36 Jahre lang zurückgehalten worden waren. Bei einem Rundgang durch die Räume des mehrstöckigen Amtes der Bezirksstaatsanwaltschaft im Jahr 2018 stieß er auf die Kisten, die in einem Lagerraum verstaut waren.
Krasner ist ein scharfer Kritiker von staatsanwaltschaftlichem Fehlverhalten, einschließlich der rechtswidrigen Zurückhaltung von Beweisen. Im Juni 2021 veröffentlichte sein Amt einen Bericht über das Fehlverhalten seiner Vorgänger in der Amtsleitung.⁸ Im Abschnitt »By the Numbers« (»In Zahlen«, jW) dieses Berichts heißt es, dass bei den 21 Aufhebungen von Gerichtsurteilen durch entlastende Beweise, die von Krasners Team zwischen Januar 2018 und Juni 2021 erwirkt wurden, in 20 dieser Fälle Staatsanwälte »entlastende Beweise« – also Beweise für die Unschuld der Angeklagten – zurückgehalten hatten. In 15 dieser 21 Fälle ging es zusätzlich um polizeiliches Fehlverhalten. Genau dieses Fehlverhalten von Staatsanwaltschaft und Polizei ist auch ein zentraler Punkt an dem Unrecht, das Abu-Jamal von Beginn an widerfuhr.
Obwohl Krasner in jenem Bericht aus dem Jahr 2021 erklärte, Staatsanwälte hätten einen »Eid geschworen (…), bedingungslos und ohne zeitliche Begrenzung nach Gerechtigkeit zu streben«, legte sein Amt Einspruch gegen Abu-Jamals aktuellen Berufungsantrag ein. Dabei bedienten sich Krasners Staatsanwälte der gleichen faktenverschleiernden und gegen Abu-Jamal gerichteten Haltung wie seine Vorgänger.
Gegen Abu-Jamals Berufung machte Krasners Bezirksstaatsanwaltschaft unter anderem geltend, einige der Beweise in diesen sechs Archivkartons könnten vor Gericht nicht verwendet werden, da dieses Material »verjährt« sei. Obwohl Abu-Jamal ja gar nicht wissen konnte, dass diese Beweise existierten, weil sie ja von den Staatsanwälten zurückgehalten worden waren, argumentierten Krasners Staatsanwälte, Abu-Jamal habe diese Beweise zu spät für eine Verwendung vor Gericht vorgebracht.
Eines der Dokumente, die Abu-Jamals Verteidigung seit mehr als drei Jahrzehnten vorenthalten wurden, ist ein Brief, den der Hauptbelastungszeuge der Anklage 1982 im Prozess gegen Abu-Jamal an den Sitzungsstaatsanwalt schickte. In dem Brief forderte dieser Zeuge das »Geld« ein, das ihm Staatsanwalt Joseph McGill seiner Meinung nach schuldete. Abu-Jamal argumentierte, diese Geldforderung beziehe sich auf eine unzulässige Zahlung an den Zeugen, die ihm für seine Aussage im Prozess versprochen worden war.
Wochen vor diesem Brief hatte ebendieser Zeuge namens Robert Chobert vor den Geschworenen ausgesagt, er habe gesehen, wie Abu-Jamal am 9. Dezember 1981 einen Polizisten in Philadelphia getötet habe. Choberts Schlüsselaussage war wesentlich dafür verantwortlich, dass Abu-Jamal schuldig gesprochen und in erster Instanz zum Tode verurteilt wurde. Gemäß dem »Brady«-Grundsatzurteil hätte die unbestreitbare Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft dieses wichtige Beweismittel zurückgehalten hat, Richterin Clemons dazu befugt, Abu-Jamal entweder direkt aus dem Gefängnis zu entlassen, ihm ein neues Verfahren zu gewähren oder zumindest eine aktuelle Beweisanhörung anzuordnen.
In einer Beweisanhörung hätten Staatsanwalt McGill und Zeuge Chobert unter Eid über die wahre Bedeutung des Schreibens Auskunft geben müssen, mit dem letzterer das Geld einforderte. In ihrer Entscheidung lehnte Richterin Clemons jedoch sowohl eine Beweisanhörung als auch einen neuen Prozess ab und setzte damit Abu-Jamals ungerechtfertigte Inhaftierung fort.
In ihrer Argumentation bezieht sich Clemons auf eine schriftliche Erklärung des inzwischen pensionierten Staatsanwalts McGill, in der dieser zwar die Ehrlichkeit des Zeugen Chobert bestätigte, jedoch einräumte, er habe ihn hingehalten. Clemons gab damit der von McGill abgegebenen eidesstattlichen Versicherung Gewicht, in der er behauptete, dass Choberts Geldforderung sich auf die Erstattung seines Lohnausfalls bezog, den der Taxifahrer nach eigenen Angaben durch seine Zeugenaussage im Prozess erlitten hatte.
Laut Clemons’ Entscheidung erklärte McGill zu Chobert, dieser habe sich nach dem Zeugengeld erkundigt, das ihm wegen des entgangenen Lohns zustehe. McGill machte jedoch in seiner eidesstattlichen Versicherung deutlich, dass er »gar nicht die Absicht gehabt habe, sich mit der Frage der Entschädigung zu befassen«. Die Politik der Staatsanwaltschaft verbiete es, Zeugen für »Lohnausfälle« zu entschädigen. Wenn es sich bei Choberts Geldforderung angeblich nicht um eine Bezahlung für eine bestellte Zeugenaussage handelte, stellt sich die Frage, warum McGill Chobert damals nicht einfach gesagt hat, dass eine solche Entschädigung gegen die Politik der Staatsanwaltschaft verstößt, anstatt Chobert mit der Behauptung hinzuhalten, er werde sich bezüglich der Frage des Lohnausfalls erkundigen.
Unglaublicherweise erklärte Richterin Clemons in ihrer ablehnenden Entscheidung, das Verschweigen des Briefes mit der Geldforderung habe Abu-Jamals Rechte nicht beeinträchtigt. Clemons behauptete, selbst wenn Chobert den Erhalt einer Zahlung für seine Zeugenaussage bestätigt hätte, »würde dieses Eingeständnis nicht ausreichen, um Abu-Jamal zu helfen«. Folglich kommt Clemons zu dem Schluss: »Daher ist das auf Brady gestützte Argument des Angeklagten in bezug auf Chobert unbegründet.«
Das Unhaltbare verteidigen
Clemons zitierte zwar ausführlich aus Choberts Aussage gegen Abu-Jamal, unterließ aber merkwürdigerweise jeden kritischen Kommentar zur Person dieses Zeugen. Beispielsweise verschwieg Clemons, dass Chobert zu jener Zeit wegen eines Brandanschlags auf eine Schule zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt war und dass er das Taxi verbotenerweise fuhr, da ihm der Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer entzogen worden war. Clemons ignorierte auch einen weiteren belastenden Aspekt zum Zeugen Chobert. Tatortfotos (die erst nach dem Prozess entdeckt wurden, jW) beweisen nämlich, dass Chobert nicht an der Stelle stand, von wo aus er angeblich beobachtet haben will, wie die tödlichen Schüsse abgegeben wurden. In den sechs aufgefundenen Aktenkartons befand sich der Bericht eines Polizisten, in dem bezüglich Chobert noch die Rede davon war, es hätten keine fotografischen Beweise vorgelegen.
Von all diesen Fakten, die Choberts Aussage erschüttert hätten, erfuhren die Geschworenen 1982 im Prozess rein gar nichts, was größtenteils auf die Entscheidungen des voreingenommenen Richters – des inzwischen verstorbenen Albert Sabo – zurückzuführen ist. Sabo hatte wenige Tage vor Beginn des Prozesses gegen Abu-Jamal erklärt, er werde den Staatsanwälten helfen, »den Nigger zu grillen«.⁹ Das war ein klarer Beweis für die rassistische und auf den Erfolg der Anklage ausgerichtete Befangenheit Sabos. Seine Äußerung bewerteten die Staats- und Bundesgerichte im Berufungsverfahren als »harmlos«.
Die Geschworenen erfuhren nie, dass Chobert während des Prozesses 1982 annahm, Staatsanwalt McGill werde ihm helfen, seinen Führerschein zurückzubekommen. Zwar führte Clemons diese Tatsache in der schriftlichen Begründung ihrer Entscheidung an, sah jedoch in ihr keinen Hinweis auf die Beeinflussung von Choberts Zeugenaussage und fand auch dieses Argument der Verteidigung »nicht überzeugend«. Clemons bewertete den Zeugen Chobert sogar als besonders vertrauenswürdig, weil er 1995 in einer Gerichtsanhörung (zum ersten Wiederaufnahmeantrag Abu-Jamals, jW) als Zeuge ausgesagt hatte, obwohl er seinen Führerschein nicht wiedererhalten hatte.
Clemons vermied auch jeden Hinweis auf die Tatsache, dass Chobert Anfang der 1990er Jahre gegenüber privaten Ermittlern, die ihn im Auftrag von Abu-Jamals Verteidigung befragten, sogar zugab, er habe sich nicht unmittelbar am Tatort aufgehalten, wie er 1982 in seiner Zeugenaussage vor Gericht behauptet hatte. Das gleiche wiederholte Chobert noch über ein Jahrzehnt später gegenüber anderen Personen.
Institutionelle Feindschaft
Die Tatsache, dass Bezirksstaatsanwalt Krasner sich für die Freilassung vieler Strafgefangener einsetzte, die aufgrund von staatsanwaltschaftlichem Fehlverhalten zu Unrecht inhaftiert waren, aber gleichzeitig vehement dafür eintrat, die Abu-Jamal rechtmäßig zustehende Überprüfung seiner Verurteilung zu blockieren, beweist einmal mehr die einhellige institutionelle Feindseligkeit von Polizei, Staatsanwälten und Richtern gegen Abu-Jamal seit dessen Verhaftung am 9. Dezember 1981. Richterin Lucretia Clemons setzt mit ihrer ablehnenden Entscheidung das Muster der vorsätzlichen Beteiligung von Richtern an den institutionellen Feindseligkeiten gegen Abu-Jamal fort.
Artikel 2.3 des bereits erwähnten »Pennsylvania Code of Judicial Conduct« besagt, dass »ein Richter die Pflichten des richterlichen Amtes (…) ohne Voreingenommenheit oder Vorurteile ausüben soll«. Für viele kehrt Clemons’ Entscheidung die richterliche Pflicht, für Gerechtigkeit einzutreten, ins Gegenteil. Wo Clemons im anfangs geschilderten Fall von Eric Riddick noch ein Fehlurteil sah, weigerte sie sich im Fall von Mumia Abu-Jamal zu tun, was richtig, rechtmäßig und erforderlich gewesen wäre.
Anmerkungen
1 Eric Riddick verdankt seine Freilassung vor allem Studierenden der Georgetown University in Washington, D.C., die in einem »Innocent Project« seinen Fall neu aufrollten. Siehe https://www.igwefirm.com/the-eric-riddick-case
2 Es geht hierbei um Mumia Abu-Jamals sechsten PCRA-Antrag. Das Gesetz »Post Conviction Relief Act« räumt rechtskräftig Verurteilten das Recht ein, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Seit 1995 hatten Gerichtsinstanzen bis zum Obersten Gerichtshof Pennsylvanias die vorherigen Anträge allesamt unter fragwürdigen Umständen abgewiesen.
3 Vgl. Dave Lindorff: Ein Funken Hoffnung, junge Welt, 24. Januar 2019, S. 12–13
4 Siehe http://judicialconductboardofpa.org/code-of-judicial-conduct/
5 Das US-Strafprozessrecht ist nicht landesweit kodifiziert, sondern hängt von den jeweiligen Regelungen der US-Bundesstaaten ab. Auf Bundesebene bestehen zwar die »Federal Rules of Criminal Procedure«, die Grundlagen des Verfahrensrechts ergeben sich jedoch in Prozessen oftmals unmittelbar aus dem in Grundsatzurteilen festgelegten Verfassungsrecht.
6 Siehe https://www.amnesty.org/en/documents/amr51/001/2000/en/
7 Zitiert nach der deutschen Übersetzung »Ein Leben in der Schwebe – Der Fall Mumia Abu-Jamal«, Amnesty International Deutschland, Berlin, Oktober 2000, S. 27
8 Lawrence Krasner: »Overturning Convictions – and an Era. Conviction Integrity Unit Report, January 2018–June 2021«
9 Damals wurde in Pennsylvania noch mit dem elektrischen Stuhl hingerichtet, nicht wie heute mit der Todesspritze.
Der Beitrag von Linn Washington aus Philadelphia wurde zuerst am 4. April 2023 auf dem investigativen Journalistenblog This Can’t Be Happening! (Das kann doch nicht wahr sein!) unter dem Titel »Lucretia and the Law of Lawlessness« veröffentlicht. Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Übersetzung.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Jürgen Heiser
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