Macrons Ablenkungsmanöver
Von Raphaël Schmeller
Emmanuel Macron scheint in einer Parallelwelt zu leben. Diesen Eindruck weckte Frankreichs Präsident in seiner TV-Ansprache vom Montag abend, bei der er versuchte, von der »Rentenreform« abzulenken. Das Gesetz für die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre hatte Macron erst am Sonnabend im Amtsblatt veröffentlicht und damit offiziell verabschiedet – und das, obwohl mehr als 70 Prozent der Bevölkerung und 93 Prozent der Beschäftigten die »Reform« ablehnen und die Franzosen seit Anfang des Jahres millionenfach dagegen demonstrieren. Der Möchtegernmonarch, der Frankreich dadurch in eine tiefe soziale und demokratische Krise gestürzt hat und nun mit den größten Sozialprotesten seit Mai 1968 zu kämpfen hat, kündigte gleich zu Beginn seiner Ansprache an, »alle Lehren daraus zu ziehen«. In der 13minütigen Rede, die danach folgte, wurde das Versprechen aber wie erwartet nicht eingelöst.
Macron räumte zunächst ein, dass die »Rentenreform« »offensichtlich (…) nicht akzeptiert wird«. Er werde sie aber trotzdem umsetzen, erklärte er, »wie auch (den) Rest des Präsidentschaftsprogramms«. Ohne auch nur die geringste Kritik an seinem eigenen Handeln oder an seiner Methode (das Gesetz wurde am Parlament vorbeidekretiert) zu äußern, begnügte sich der Staatschef mit einer billigen Formel: »Ein Konsens konnte nicht gefunden werden und ich bedauere das.«
Nachdem ihm dieses dürftige Zugeständnis über die Lippen gekommen war, kündigte Macron ein »großes Projekt« an, um »den Schwung unserer Nation wiederzufinden«. Unter diesem Deckmantel begann der Staatschef jedoch lediglich damit, eine Bestandsaufnahme der bereits laufenden »Projekte« vorzunehmen. So erklärte Macron, »nunmehr die ›Reform‹ der berufsbildenden Schule in Angriff zu nehmen«, an der die zuständige Ministerin Carole Grandjean schon seit einem Jahr arbeitet. Auch die anderen Ankündigungen zur »Neugestaltung des Gesundheitssystems«, zum »Kampf gegen die illegale Einwanderung« oder zur Absicht, Arbeitslosengeldbezieher »wieder in die Arbeit zu bringen«, waren bereits in den vergangenen Monaten gemacht worden.
Weil es ihm aber darum ging, »einen klaren Kurs festzulegen«, skizzierte Macron drei »große Baustellen«: Arbeit, Gerechtigkeit (gekoppelt an Recht und Ordnung) und Fortschritt. Aber auch hier gilt: Alles nicht neu, sondern bereits bei seiner Wiederwahl vor einem Jahr angekündigt. Macron wiederholte unterm Strich also lediglich Versprechen, wie dass er sich jetzt um den Lehrermangel kümmern werde. Dabei verschwieg er, dass die Verhandlungen mit den Gewerkschaften dazu erst vor kurzem gescheitert sind.
Macrons Rede »hätte auch von Chat-GPT geschrieben sein können«, reagierte Sophie Binet am späten Montag abend auf BFM TV. Man werde weiterkämpfen, bis der Präsident die »›Rentenreform‹ zurücknimmt«, kündigte die CGT-Gewerkschaftschefin an. Gespräche mit der Regierung lehnte Binet ab: »Das Problem ist, dass er uns jetzt die Hand reichen will, nachdem er uns den Vogel gezeigt hat.«
Antoine Léaument, Abgeordneter der linken La France insoumise (LFI), bezeichnete Macrons Rede als »ein Ablenkungsmanöver«. »Er versucht, die Proteste gegen die ›Rentenreform‹ in Vergessenheit geraten zu lassen und einen Schlussstrich zu ziehen«, so Léaument am Dienstag gegenüber jW. »Aber die Proteste werden nicht nachlassen. 93 Prozent der Beschäftigten sind gegen diese ›Reform‹. Macron kann nicht gegen das Volk regieren.«
Der Präsident will nun bis zum Nationalfeiertag am 14. Juli »das Land wieder zusammenführen«. »Vor uns liegen 100 Tage der Beschwichtigung, der Einheit, des Ehrgeizes und des Handelns für Frankreich«, sagte er zum Ende seiner Ansprache. Die Mehrheit der Franzosen scheint er damit nicht überzeugt zu haben. Nach der Rede am Montag abend fanden in fast allen größeren Städten des Landes spontane Proteste statt. In Paris, Lyon oder Strasbourg wurden brennende Barrikaden errichtet, es wurde bis tief in die Nacht demonstriert.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. April 2023 um 11:03 Uhr)(…) Macron stellte die Verkündung der Rentenreform als offensichtliche Verfahrensformalität nach ihrer rechtlichen Bestätigung durch den Verfassungsrat dar. Gerade bedauerte er in einem theatralischen Tonfall, dass sie keinen »Konsens« gefunden haben, als ob er wirklich diese mit den Franzosen gesucht hätte. Seine Reform ist eine unverstandene Selbstverständlichkeit, und der Präsident nimmt sie nur mutig an, ohne die geringste Konsequenz für den moralischen und politischen Zustand des Landes zu ziehen. Kein weiteres Bedauern, keine Option oder Methode. In dieser Hinsicht trägt die Bezugnahme auf hundert Tage des reformistischen Aufschwungs etwas Mysteriöses und Unterschwelliges in sich. Hundert Tage sind die vereinbarte Dauer eines Gnadenstaates, in dem eine neue Regierung die Reformen ihrer Agenda in Angriff nehmen kann. Der Präsident und seine Regierung sind durch die Rentenreform ernsthaft geschädigt worden. Sie haben immer noch keine parlamentarische Mehrheit, geschweige denn die Zustimmung des Volkes. Die Rede von Emmanuel Macron war vor allem wegen seiner politischen Kurzsichtigkeit bemerkenswert, über die moralische und politische Krise, über die soziale Bewegung, über die Regierung von Elisabeth Borne, über die Zukunft ihrer Mehrheit, über die Zeit nach hundert Tagen, schwieg er.
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