Ordnungsrufe von oben
Von Kristian Stemmler
Am frühen Donnerstag morgen schlugen sie wieder zu: Mitglieder der Gruppe »Letzte Generation« markierten diverse Gebäude in Berlin mit Kunstöl, demonstrierten vor der Tür mit Plakaten und Flashmobs. Getroffen hat es die FDP-Bundesgeschäftsstelle, Standorte von Shell, BP, Bayer und VW sowie Banken. Mehr als 60 Menschen seien wegen möglicher Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten am Donnerstag in Berlin festgenommen worden, sagte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Nachmittag. »Blinde Schädigungswut, Nötigungen, Gefährdungen anderer verlassen aber diesen Rahmen, den wir uns als Gesellschaft gegeben haben«, sagte Spranger. Werde diese Grenze überschritten, »wird der Rechtsstaat sich dem entschlossen entgegenstellen«.
Angesichts solcher Aktivitäten in Berlin und von Klebeaktionen wie zuletzt in Hamburg, bei denen der Verkehr stark behindert worden war, gibt es nun auch ungewohnt deutliche Kritik an dieser und vergleichbaren Gruppen von unerwarteter Seite: Fridays for Future (FFF) und Bündnis 90/Die Grünen.
Die Klimakrise brauche »gesamtgesellschaftliche Lösungen«, erklärte FFF-Sprecherin Annika Rittmann gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Doch die »finden und erstreiten wir nur gemeinsam und nicht, indem wir Menschen im Alltag gegeneinander aufbringen«. Rittmanns Organisation setze aus gutem Grund seit jeher auf andere Protestformen. Von den Blockaden der »Letzten Generation« in Hamburg seien zuletzt insbesondere Pendler und Pendlerinnen betroffen gewesen, »die es sich weder leisten können, in der Hamburger Innenstadt zu wohnen, noch durch den mangelnden Ausbau den ÖPNV nehmen können«, so die Sprecherin. Ähnliches sei bei den angekündigten Aktionen in Berlin zu befürchten.
Umfragen zeigen, dass viele Menschen diese Protestaktionen explizit ablehnen. Im Herbst vergangenen Jahres etwa sagten vier von fünf Befragten in einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Civey, dass zum Beispiel Straßenblockaden dem Klimaschutzanliegen eher schaden als nützen.
Wohl deshalb versucht sich inzwischen auch die Grünen-Bundestagsfraktion mit drastischen Worten von der »Letzten Generation« abzusetzen. »Mit ihrem elitären und selbstgerechten Protest« bewirke die Gruppe das Gegenteil dessen, »was wir in der aktuellen Lage bräuchten«, klagte die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Irene Mihalic, am Mittwoch gegenüber dpa. Nötig sei »eine breite Bewegung in der Gesellschaft für konsequente Klimaschutzpolitik«. Man solle Menschen »nicht verprellen durch Aktionen, die den ohnehin harten Alltag noch zusätzlich erschweren«, so Mihalic.
Ein Sprecher der an den Aktionen in Berlin beteiligten Gruppe »Extinction Rebellion« rechtfertigte derweil die jüngsten Protestaktionen. »Ziviler Ungehorsam soll Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken. Und es ist viel Aufmerksamkeit erregt worden«, sagte Florian Zander am Donnerstag. Die Gruppe wolle mit »ironischen, bildstarken, performativen« Aktionen in Berlin noch bis zum Sonntag vor allem auf das Artensterben hinweisen. Einer aktuellen Studie der Universität Erfurt zufolge sind die appellativen Aktionen der »Letzten Generation« durchaus in der Lage, indirekt auch der Klimastreikbewegung »Fridays for Future« zu nutzen. So werde letztere in der Öffentlichkeit als »weniger radikal« wahrgenommen – und mehr unterstützt.
Zu diesem Effekt auf die Meinungsbildung tragen neben der Springerpresse bislang vor allem Politiker der Union bei. CDU-Generalsekretär Mario Czaja nahm das Aufbringen von nach Angaben der Letzten Generation »biologisch abbaubarem Fake-Öl« an der Fassade der FDP-Zentrale zum Anlass, um zu betonen, »wie sehr sich die Klimachaoten« »immer weiter radikalisieren«.
Unterstützung kam dagegen von der Partei Die Linke. Die Aktionen vom Donnerstag »treffen die Richtigen«, erklärte der stellvertretende Vorsitzende Lorenz Gösta Beutin. Gemeint seien »diejenigen, die mit ihrer Politik und ihrer Gier nach Profiten die Axt an die Lebensgrundlagen der Menschheit legen«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (13. April 2023 um 22:07 Uhr)Schön, dass Frau Mihalic weiß, was nötig ist. Warum tut sie es dann nicht? PendlerInnen, die sowieso jeden Tag im Stau stehen, könnten sich genausogut und mit der gleichen Wirkung auch festkleben. Ein wenig ums Eck denken hilft schon.
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