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Aus: Ausgabe vom 08.04.2023, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Kapitulationsurkunde

Von Arnold Schölzel
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Am Montag veröffentlicht die FAZ einen Gastbeitrag von Oliver Kempkens. Der Banker und Hochschullehrer war bis zum 24. Februar 2022 Manager der russischen Sberbank in Moskau und laut FAZ »der ranghöchste Deutsche in einem russischen Staatskonzern«. Der Titel des Beitrags von Kempkens lautet: »Warum Russlands Wirtschaft so robust ist«.

Im Untertitel seines Gastartikels steht als Begründung: »Moskaus Technokraten agieren bisher geschickt, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Doch dieses Jahr wird ihre Aufgabe komplexer.« Der erste Satz lautet: »Westliche Industrienationen wundern sich, dass Russlands Wirtschaft das erste Kriegsjahr relativ gut überstanden hat.«

Der Autor meint: »Die Gründe für die vermeintliche Resilienz der Wirtschaft Russlands sind mannigfaltig.« Sie hingen »erstens stark mit dem politischen System (den kurzen Wegen darin) und zweitens den enormen wirtschaftlichen Freiheiten zusammen, die dieses Staatssystem bietet – und unserer Fehlperzeption von Sanktionswirkungen«. Die falsche Wahrnehmung der Welt und der eigenen Aktionen, um mit letzterem anzufangen, ist so etwas wie der Erbdefekt des Imperialismus: Er ist zu politischem Realismus selten fähig und muss in der Regel dazu gezwungen werden, die Dinge so zu sehen wie sie sind, etwa Kräfteverhältnisse. Was schon mal zu Niederlagen in seinen ewigen Kriegen führen kann – Kolonien, Weltherrschaft, Vietnam, Afghanistan bis zum laufenden Wirtschaftskrieg gegen Russland. Das scheint etwas mit seiner Ideologie zu tun zu haben: Die besagt, dass dem Monopolkapital die Welt gehört, weil es zu Höherem berufen ist, was sich allein schon darin zeigt, dass es eine glänzende 500jährige kapitalistische Geschichte aufweisen kann. Völkermorde, Sklaverei, Faschismus – alles nebensächliche Erscheinungen, denn es geht um »unsere« Rohstoffe und »unsere«Handelswege. Steht so unter anderem in allen Weißbüchern der Bundeswehr – zum Nutzen der gesamten Menschheit. Gleichheit ist Stalinismus.

Kempkens Artikel kommt im aktuellen antirussischen Krieg einer Kapitulationsurkunde gleich. Jedenfalls formuliert er Sätze wie: »Der russische Staatshaushalt ist, man mag es kaum glauben, gesund.« Handel: »Im Sommer 2022 wurden externe Beschaffungseinheiten in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgebaut, die im Gegensatz zur Türkei oder Serbien nicht von Sanktionen betroffen sein werden.« Der Krieg habe zwar laut Washington Post zur Ausreise von 277.000 Russen der sogenannten Mittelschicht zwischen Juni und September 2022 nach Dubai geführt, aber: »Diese Gruppe stört es nicht, ob es in Moskau Louis Vuitton gibt oder nicht – außerdem haben Zilli, Zegna und Loro Piana ihre Shops nach wie vor geöffnet.« An Luxusgütern herrscht kein Mangel. Weiter Kempkens: Die Neuverschuldung bleibt niedrig, die Gold- und Devisenreserven bleiben hoch. Die Prognose lautet: »In der Kombination aus graduellem Abstieg und antiquierter Wirtschaft, aus dem Exodus russischer Fachkräfte und schwindender Kaufkraft wird die russische Wirtschaftskraft langfristig schrumpfen, aber nicht zusammenbrechen.« Im übrigen durchlaufe die russische Wirtschaft seit dem Ende der Sowjetunion »etwa alle sieben bis neun Jahre eine teils existentielle Krise«, entscheidend bleibe die Dauer des Ukraine-Krieges.

Diese Ungeheuerlichkeit an Putin-Propaganda musste dringend korrigiert werden. Das tat am Mittwoch Experte Robert Habeck höchstselbst im Deutschlandfunk von Kiew aus: »Die russische Wirtschaft wankt.« Weswegen er schärfere Sanktionen forderte. Der Tagesspiegel war über diese Wiederherstellung der natürlichen Baerbock-Ordnung so begeistert, dass er das am Donnerstag zur Schlagzeile machte. Der Wahrnehmungsruin geht weiter.

Die falsche Wahrnehmung der Welt und der eigenen Aktionen ist so etwas wie der Erbdefekt des Imperialismus

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  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (12. April 2023 um 23:53 Uhr)
    Der Imperialismus bzw. dessen Akteure strotzen nur so vor Selbstherrlichkeit, Selbstgerechtigkeit und Siegesgewissheit gepaart mit dem irren Glauben, die einzig wahre Lebensweise zu verkörpern, so dass einfach keine Einsicht der Realität entsteht. Die Bodenhaftung geht vielmehr verloren, die Herrenreiter und Herrinnenreiterinnen (Amazonen) heben ab, wähnen sich stets als die Gerechten, die folglich auf der Straße der Sieger voranschreiten. Das berühmt-berüchtigte »robuste Mandat« attestieren sie sich selbst, unbeeindruckt etlicher Gegner. Diese sind ganz einfach verblendet. Genauso zeigt sich ein kollektiver Wahn, der sich vom gewöhnlichen Wahn nicht sonderlich unterscheidet.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. April 2023 um 20:46 Uhr)
    Menschen wie alle Organismen verhalten sich zu ihrer Umwelt als »wahrnehmende« Wesen. Wir alle nehmen fälschlicherweise an, dass das, was wir sehen, die Realität ist. Wir halten unsere Wahrnehmung für ein Abbild der objektiven Außenwelt. Tatsächlich findet diese vermeintliche Wirklichkeit aber fast ausschließlich in unserem Kopf statt. Aber unser Gehirn kennt keine Objektivität. Das sollten wir uns merken! Wahrnehmungen scheinen aber der Welt, wie sie »an sich« ist, äußerlich gegenüberzustehen, als Spiegel, Verzerrung oder gar Erfindung von Wirklichkeit, und das ist Normal. Also nicht der Kapitalismus und der Imperialismus, die nicht direkt von der Natur gegeben sind, sondern indirekt von Menschen kreiert sind, nicht in oder an sich, sondern durch die menschlichen Annahmen sind sie fehlerhaft. Davon abgeleitet wir Menschen stellen uns selbst die größten Problemen dar.

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