Der Hummer ist ein armes Schwein
Von Andreas Hahn
»Iwanow: Ich denke nie!«
Anton Tschechow, »Iwanow«
Denkt man in Gütersloh? Denkt man an die Schmerzen, die das verursachen kann? In Gütersloh, denke ich, mich zu erinnern, jedenfalls in irgendeiner »Provinz« – und die Provinz ist schließlich exemplarisches Tschechow-Terroir –, da steht ein Klubhaus, das gehört zu einem Tennisklub. So richtig mit Schiedsrichterstuhl, Tenniscourt und Netz und all dem. Eine Bar gehört auch dazu. Mit Kaffeemaschine, Aquarium und Radio und all dem. Dieser Tennisklub in der Provinz ist das Bühnenbild für Yana Ross’ Inszenierung am Berliner Ensemble »frei nach« Tschechows »Iwanow«. Tschechow als Boulevardfarce, überschrieben mit Tennis und Texten von David Foster Wallace.
Einer der Schauspieler wirkt – langmähnig, schlaksig, leicht deppert – sogar wie Stefanos Tsitsipas, der griechische Heros, der sich zum Zeitpunkt der Premiere (21. Januar) anschickte, die Australian Open zu gewinnen, nur um letztlich von Novak Djokovic gedemütigt zu werden wie gewohnt.
Doch zurück zum Denken. Thomas Hobbes dachte sich einmal, die Erfahrung kann sich ja wohl schlecht von der Vernünftelei herleiten. Denn die Viecher – die »Brute beasts« – haben ja auch so was, also Erfahrung, die klug macht, weil sie zur Vorsicht mahnt und die Viecher offensichtlich vorsichtig sind, ohne groß nachzudenken. Die Viecher handeln erfahrungsgemäß vernünftig, wenn sie versuchen, Schmerz zu vermeiden. Da kommt nun der Hummer ins Spiel.
Der Hummer ist ein mächtiger Jäger in seiner Viecherwelt. Will man ihm ans Fleisch, richtet er sich auf und droht mit seinen Scheren. Ist er mächtigeren Jägern ausgeliefert, die zudem vernünftig genug gewesen sind, soweit vorgesorgt zu haben, ihm die Scheren zusammenzubinden (ihn zu entwaffnen), richtet er sich dennoch auf. Fast scheint es so, als ahnte er, dass er in den Topf kommt. Der Topf aber bedeutet Genuss für den vernunftbegabten Hummerliebhaber und ein Martyrium für den ausgelieferten Hummer. So ein Hummer ist ein armes Schwein.
Soweit sinngemäß die Rede, die im Radio des Tennisklubhauses das Tschechow-Match zum Aufwärmen labernd einleitet. Sie ist dem Essay »Consider the Lobster« von David Foster Wallace, entnommen. Ein Beispiel genüsslicher Abschweifung. Wallace wurde 2006 von einem Feinschmeckermagazin nach Maine geschickt, um vor Ort von einem gewaltigen Hummerfressfestival zu berichten. Er aber schreibt lieber über den mutmaßlichen Schmerz, der am Beginn des Gedankens steht. Mutmaßlich, weil das Ausmaß der Schmerzempfindlichkeit der Kreatur selbst schon ein Streitpunkt unter den Gelehrten ist. Wallace, der, sein Titel zeigt es an, bestimmte philosophische Streitschriften abschweifend parodiert, kann jedenfalls davon ausgehen, dass die Frage der Empfindungsfähigkeit der Viecher oft genug Ausgangspunkt auch im Denken der Denker gewesen ist.
Liegt der Hummer erst mal gekocht auf dem Teller, ist man vielleicht schon ein wenig spät dran, dennoch drängt sich die ethische Frage unangenehm auf: Denken wir an die Schmerzen des Hummers, wenn er in den Topf kommt? Rechtfertigt der Genuss die Grausamkeit? Darf man andere quälen, weil es gut schmeckt und gut aussieht?
Und da kommt langsam wirklich das Theater ins Spiel. »Iwanow« ist ja aus Grausamkeiten gemacht. Zum einen ist es grausam unaufführbar geworden. Dimiter Gotscheff setzte (ebenfalls 2006) an der Berliner Volksbühne da vielleicht einen Schlusspunkt. Die grausame Larmoyanz der endlos monologisierenden Figuren, die von Kreditzinsen und Klatsch erdrückt und erschüttert sind, obwohl sie selbst aus nichts als Kredit und Klatsch bestehen, macht einen fertig und wird am BE vielleicht sogar zu Recht in die Unerträglichkeit von Klubhaus- und Instagram-Influencer-Talk überführt.
Zum anderen ist da die Grausamkeit der Titelfigur, die eine reiche jüdische Erbin vom Glauben abgebracht, geheiratet und vor allem vergeblich auf das Geld ihrer Eltern spekuliert hat, nur um sie in die Todkrankheit zu treiben und am Ende anzuherrschen: »Schnauze, du Judensau.« Früher war er mal ein toller Hecht, jetzt kriegt er nichts mehr auf die Reihe, dafür eine Ladung Tennisbälle aufn Kopp. Die permanenten Kopfschmerzen sind sein Erkennungsmerkmal und seine Ausflucht.
Ob Tschechow selbst Tennis gespielt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. In einer seiner vielen Erzählungen (»Das Haus mit dem Mezzanin«) wird zumindest davon berichtet, dass die lustwandelnde Gesellschaft vor dem Abendessen Rasentennis spielt. Tennis als Schatz an Schmerz und Erfahrung war ihm zumindest bekannt. David Foster Wallace hatte Tennis gespielt und geliebt. Und ziemlich viel darüber geschrieben. Im Band »Consider the Lobster« (nicht in der kastrierten deutschen Fassung) finden sich neben der Hummerabhandlung auch Texte über russische Literatur und eine Besprechung der Memoiren von Tracy Austin (»How Tracy Austin Broke My Heart«). In dieser kommt er zu der schmerzlichen Erkenntnis, dass der ästhetische Genuss im Spiel der großen Champions Resultat einer Körpererfahrung (Training) ist, die dem Denken nicht mal absichtlich, sondern »einfach nur so« lieber aus dem Weg geht. Im Theater bringen sie ja auch lieber irgendwelche Rockmusik auf die Bühne, sobald ihnen zu den langatmigen Stücken außer Fremdtext nichts mehr einfällt. Die verursacht nicht mal mehr Kopfschmerzen. So auch hier.
Nächste Aufführungen: 1. und 2. April
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