Ohne Groll
Von Robert Cohen
Die Donauschiffahrt wird ohne Erwin Riess nicht mehr dieselbe sein: Sie brauchte ihn. Auch die marxistische Linke brauchte ihn. Was ich über die Donauschiffahrt weiß, habe ich in den Groll-Romanen gelernt. Was Erwin Riess über den Marxismus wusste, hat er zuerst bei Gramsci gelernt. Darüber schrieb er mir in einer E-Mail: »über gramsci hab ich dissertiert und mein erster weg in rom führte mich an sein grab – und am nächsten tag ins ›istituto gramsci‹«. Mit dem Grabbesuch ehrte er Gramscis Andenken, mit dem Besuch im Istituto sein Weiterwirken.
Auch im eigenen Werk. Aufmerksamkeit für Sprache und unnachgiebiger Widerstand gegen Faschismus – was könnte gramscianischer sein? Die Groll-Kriminalromane: Witz und Leichtigkeit der Sprache, die schwierig zu machen sind. Spannung. Belehrung auf unterhaltsame Weise. Man erfährt da ebensoviel über Landschaften und Städte, über Menschen und ihren Alltag entlang des großen Stroms, über ihre Geschichte und Gegenwart, wie über die Schiffahrt. Groll, der Polyhistor, weiß alles (da wird sein Autor auch einiges gewusst haben). Die Groll-Romane unterhalten »in sinnlicher Weise und heiter«, wie Brecht das von den Künsten gefordert hat. Sie sind ein Geschenk an Linke, für die Stunden, in denen sie den Alltag, nicht aber die gesellschaftliche Wirklichkeit, von sich fernhalten wollen. Allerdings sind die Groll-Romane nicht nur heiter. Nicht in ihrem Antifaschismus, nicht in ihrem nicht nachlassenden Zorn auf die Frechheit der Besitzer dieser Welt. Nicht im klaren Blick auf die gesellschaftlichen Konstellationen, die die Menschen bedrücken und niederhalten. Und nicht in der scheinbar beiläufigen Art, wie der Alltag eines behinderten Menschen den Nichtbehinderten erlebbar gemacht wird. Wie es ist, wenn ein Rollstuhlfahrer eine Toilette sucht, die Zeit verstreicht, und er endlich eine findet: nur sind da Stufen. Ich habe das mit Entsetzen gelesen. Betroffen nickend bei den Passagen, in denen Herr Groll seinen Zorn über die Indifferenz der Welt – und besonders der Architektur – gegenüber Behinderten zeigt. Einmal schrieb er mir über die Groll-Romane: »Diese Art von Texten braucht große Intimität und Ausgeliefertheit.«
Herr Groll, ohne Vornamen. Es passt zu ihm. Einer, der sich nicht anbiedert, auch bei den Unteren nicht.
Wir haben uns nur wenige Male gesehen, in den Jahrzehnten, in denen wir befreundet waren, die Distanz zwischen New York und Pörtschach war zu groß.
Im Januar vergangenen Jahres schilderte er mir in »dürren Worten«, wie er schrieb, einen Sturz in seiner Wohnung. Die dürren Worte verdeckten ein Geschehen, wie ich es mir schlimmer nicht ausmalen konnte. In meiner Antwort verwendete ich das Wort heroisch, hinzufügend: »Der Begriff des Heroischen ist verhunzt, das zeigt die Formel ›Helden des Alltags‹. Als eigentliche Helden gelten offenbar die nichtalltäglichen: Astronauten oder Himalayakletterer, die sich ihr Heldentum aussuchen und dafür trainieren können. Wo, wenn nicht im Alltag, zeigt sich das wirklich Heroische? Bei Menschen wie dir.« Seine Antwort: »mit dem heroischen würde ich ein wenig vorsichtig sein, da haben uns die widerstandskämpfer gegen die nazis doch einiges voraus. dennoch beneide ich diese leute in einer geheimen kammer meines herzens … der kampf gegen den körperlichen verfall hat eben so gar keine gesellschaftliche perspektive.« Mit den Groll-Romanen und seinem Aktivismus hat er dazu beigetragen, dass der körperliche Verfall behinderter Menschen eine gesellschaftliche Perspektive bekommt.
Wie werde ich, ohne Groll, meinen Groll auf die schlechten Zustände ertragen können?
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