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Aus: Ausgabe vom 31.03.2023, Seite 6 / Ausland
Ukrainische Propaganda

Hauptsache antirussisch

Französische Nationalversammlung anerkennt die wissenschaftlich nicht haltbare Erzählung vom »Holodomor«
Von Martin Dolzer
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Gemeinsam die Geschichte umschreiben: Wolodimir Selenskij und Emmanuel Macron (Paris, 9.2.2023)

Revisionismus wächst nicht von selbst, er muss gepflanzt werden. Nachdem der Deutsche Bundestag im November 2022 die von der ukrainischen Regierung propagierte Verschwörungserzählung vom »Holodomor« anerkannt hat, zieht Frankreich jetzt nach. Am Dienstag abend stimmte die französische Nationalversammlung einer entsprechenden Resolution zu. Die Initiative war von Emmanuel Macrons Partei Renaissance ausgegangen. Die große Hungersnot in der Sowjetunion um 1932/33 wird damit als Völkermord an den Ukrainern deklariert.

Von 170 Parlamentariern stimmten zwei Abgeordnete der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) für ihre Fraktion gegen den Antrag, alle anderen Parteien waren dafür. Die Abgeordneten der linken France insoumise (LFI) um Jean-Luc Mélenchon hatten in der Debatte erklärt, dass die Bezeichnung »Genozid« nicht zutreffe, nahmen dann aber nicht an der Abstimmung teil. In der Debatte kamen antikommunistische und antirussische Ressentiments zum Ausdruck, Gleichsetzungen von Hitler und Stalin sowie eine wieder aufgewärmte Totalitarismustheorie. Die Abgeordnete Anne Genetet von Renaissance beendete ihre Rede mit dem Ruf: »Lang lebe die freie Ukraine!«

Jean-Paul Lecoq vom PCF erklärte, dass Parlamentarier kein Recht hätten, als Richter zu agieren, die auf der Grundlage von Artikel 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs entscheiden können, welches Ereignis als Völkermord klassifiziert wird. Auch sei die Frage nach dem Vorsatz ein Problem: »Um die Absicht eines Angeklagten zu ermitteln, ist ein faires Verfahren das wirksamste demokratische Instrument; da wir weder Richter noch Historiker sind, kann niemand hier behaupten, dass er weiß, welche Pläne Stalin vor 90 Jahren fasste. Seit der Öffnung der Archive sind sich die Historiker in ihrer großen Mehrheit einig, dass die Hungersnöte, denen Millionen sowjetischer – ukrainischer, kasachischer und russischer – Bürger zum Opfer fielen, nicht beabsichtigt waren, sondern auf falsche politische und administrative Entscheidungen zurückzuführen sind, die während einer Zeit von schlechten Ernten auf inhumane oder teils kriminelle Weise umgesetzt wurden«, so der Abgeordnete weiter.

Die Interpretation, dass die große Hungersnot in der Ukraine von Stalin organisiert wurde, um die ukrainischen Bauern für ihren Nationalismus zu bestrafen, sei mittlerweile marginal, insbesondere seit 2004 das Buch »The Years of Hunger« (Die Hungerjahre) von Robert W. Davies und Stephen G. Wheatcroft erschienen ist. Die Darstellungen darin fußen auf Material der staatlichen Archive sowie der Korrespondenz der damaligen sowjetischen Führung. Selbst Robert Conquest, einer der entschlossensten Vertreter der »Holodomor«-Erzählung, habe seine Ansicht auf Grundlage der dortigen Erkenntnisse revidiert. Das Interesse, den Vorgang als Völkermord zu deklarieren, sei politisch-strategisch motiviert. »Es kann nicht im Interesse der französischen Bevölkerung liegen, in den Beziehungen zu Russland an einen unumkehrbaren Punkt der negativen Zuspitzung zu kommen«, so Lecoq. Das französische Parlament solle nicht fahrlässig handeln und entgegen seiner dazu fehlenden Kompetenz einen solch gravierenden Entschluss fassen.

Bei der im Deutschen Bundestag am 30. November 2022 angenommenen Resolution hatte die Fraktion Die Linke sich gegen eine große Mehrheit des Hauses der Stimme enthalten. Gregor Gysi erklärte dazu im Plenum, dass der »vorliegende Antrag den Eindruck einer Gleichstellung von Hitler und Stalin« erwecke. In Deutschland solle man jedoch »die Suche nach einem zweiten Hitler und nach einem zweiten Auschwitz aufgeben«.

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  • Leserbrief von Ralph Petroff aus Schweinfurt (31. März 2023 um 19:25 Uhr)
    Der »Holodomor« ist eine der größten – wenn auch keineswegs die einzige – Geschichtslügen über diese Zeit. Jeder kann wissen, dass es damals erstens witterungsbedingte Missernten gab und dass diese und ihre Folgen zweitens nicht nur die Ukraine betrafen, sondern auch andere Regionen der UdSSR. Aber es ist natürlich viel plausibler, dass ein böser Diktator eine Teilrepublik aushungert, obwohl er den Nationalismus (nicht nur) dort viel einfacher und direkter hätte bekämpfen können. Mit diesem Mythos soll der Kommunismus wie auch Russland verleumdet und die Ukraine in die Opferrolle gebracht werden. Mit dem »Holodomor« können die hierzulande Herrschenden also quasi drei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (31. März 2023 um 05:32 Uhr)
    Es ist schade, dass das russische Parlament keine acht getrennten Sitzungen mit Beschlüssen über die tatsächlich bewusst verursachten Völkermorde in den Kolonien von Frankreich, Großbritannien, Belgien, Niederlanden, Deutschland, Portugal, Spanien sowie den Völkermord der USA an den Ureinwohnern abhalten will. Man würde sich in einer vermeintlichen Gleichsetzung mit denen auf eine Stufe stellen. Außerdem ist es wirklich Zeit, dass man in Paris die U-Bahn-Station »Stalingrad« in »Bandera« umbenennt. Der hat ja keinen Völkermord begangen, abgesehen von ein paar zu vernachlässigenden Hunderttausend Juden, Polen und Russen. Deshalb finanzieren wir ja auch die Truppen, die sich auf ihn beziehen.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (30. März 2023 um 20:29 Uhr)
    »Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.« (Napoleon I. Bonaparte, 1769–1821 / oft auch Voltaire zugeschrieben)

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