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Aus: Ausgabe vom 31.03.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Spiel mit dem Feuer

Beschuss und gegenseitige Vorwürfe: Ein Besuch im russisch kontrollierten AKW Saporischschja
Von Ernst Leyh und Guillermo Quintero
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Renat Karchaa, Berater der russischen Firma Rosenergoatom, auf dem Gelände des AKW Saporischschja

Es ist ein fahler Vorfrühlingstag, als uns Renat Karchaa über die Anlage des AKW Saporischschja führt. Der Name ist etwas irreführend gewählt: Die namensgebende Bezirkshauptstadt liegt 60 Kilometer flussaufwärts am Dnipro. Heute befindet sie sich unter ukrainischer Kontrolle, das AKW selbst und Energodar, die nahe liegende Wohnstadt für die Bediensteten des Kraftwerks, wurden dagegen von russischen Truppen erobert. Im matschigen Boden einer Rasenfläche steckt schräg ein Blindgänger. Das Geschoss habe die ukrainische Armee hierher gefeuert, sagt Karchaa. Dass dessen Neigungswinkel nicht in Richtung des gegenüberliegenden und von der ukrainischen Armee kontrollierten Flussufers weist, erklärt der Berater der russischen Betreiberfirma Rosenergoatom damit, dass die Granate ursprünglich aus der Gegenrichtung gekommen sei und sich durch die in Trägheit verwandelte Wucht des Aufpralls, gebremst durch den Widerstand des Erdreichs, in diesem um 180 Grad gedreht habe. Spuren von Erdaufwühlungen sind am Einschlagsort nicht zu sehen. Auch ein anderer Blindgänger, der auf einer Wiese zwischen den Bürogebäuden liegt, ist nicht eindeutig zuzuordnen: Der Sprengkopf liegt nicht genau in Verlängerung der Achse des Geschosses. Anfassen ist nicht erlaubt, aus Sicherheitsgründen. Man kann also auch nicht feststellen, ob hier womöglich etwas präpariert worden ist.

In die eigentlichen Reaktorgebäude führt uns Karchaa nicht. Hochsicherheitsbereich, auch wenn die sechs Reaktoren inzwischen alle im Zustand der Kaltabschaltung sind. Dort gebe es aber auch keine Beschädigungen, sagt er. Die Reaktorhüllen seien so dick, dass sie rechnerisch den Absturz eines vollbetankten Düsenflugzeugs aushalten müssten – da würde ihnen eine einzelne Granate eher auch nichts anhaben können. Statt dessen zeigt Karchaa ein Areal, wo verschiedene Stahltanks stehen. Alle mit Kratzern, einige mit Löchern von Splittern. Auf der einen Seite der Werksstraße stehen Tanks für 400 Tonnen Turbinenöl. Wären die in Brand geraten, hätte es gefährlich werden können. Auf der anderen Seite schlankere Tanks, nach Karchaas Worten für Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff. Wären die getroffen worden, hätte es zu einer Explosion kommen können, deren Folgebrände kaum noch kontrollierbar gewesen wären. Aber es ist bisher immer gutgegangen. Scharten auf dem Asphaltboden zeugen laut Karchaa vom Einschlag von Splittergranaten.

Aber die materiellen Spuren verraten nicht, wer gefeuert hat. Karchaa weist mit der Hand auf die andere Seite des hier zu einem mehrere Kilometer breiten See aufgestauten Dnipro: Von dort, aus der Umgebung der Stadt Marganez, hätten die Ukrainer diese Hilfsaggregate beschossen. Mit welchem Ziel? Karchaa kann nur spekulieren: um die Kühlung und damit die Sicherheit der ganzen Anlage zu beeinträchtigen. Die ukrainischen Vorwürfe, Russland beschieße die Anlage, um die Folgen Kiew in die Schuhe zu schieben, wischt der Pressesprecher bündig beiseite: Warum sollten wir unsere eigene Anlage beschießen?

Aber wie steht es mit der von Kiew behaupteten militärischen Besetzung der Anlage, ihrer Nutzung als Unterstand für schwere Waffen? An diesem Märznachmittag ist von russischem Militär nichts zu sehen, anders als im September, als eine Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) bei ihrem ersten Kontrollbesuch in einer der Turbinenhallen unter anderem einen russischen Schützenpanzer bemerkt hatte. Das sei kein Panzer gewesen, sagt Karchaa, sondern ein Spezialfahrzeug der russischen ABC-Truppen, ein Strahlenlabor auf dem Fahrgestell eines Schützenpanzers. Nur hier stationiert, um mögliche chemische und radiologische Gefahren früh erkennen zu können. Der Schutz der Beschäftigten und der Anwohner sei für die Betreiber oberstes Gebot, betont der Sprecher.

Nach seinen Worten sind auch die Meldungen der Ukraine und der IAEA darüber, dass das ukrainische Bedienungspersonal unter erhöhtem Stress arbeite und nicht rechtzeitig abgelöst werden könne, zumindest in dieser Allgemeinheit falsch. »Sehen Sie«, weist er auf AKW-Bedienstete, die auf dem Gelände unterwegs sind: »Die Leute laufen doch völlig frei herum.« Keine Rede davon, dass sie mit vorgehaltener Kalaschnikow zu irgend etwas gezwungen würden. Das Beispiel mag dennoch etwas konstruiert sein. Eine Anlage, die unter anderem wegen drohenden Kühlwassermangels ständig am Rande der Sicherheitsnormen arbeitet, bedeutet auch dann Stress für das Personal, wenn kein unmittelbarer Zwang ausgeübt wird. Und Tatsache ist, dass Russland ukrainische Techniker durch russische ersetzt hat, weil zumindest nicht alle Bediensteten bereit waren, Verträge mit dem neuen Betreiber abzuschließen. Aber Russland braucht die ukrainischen Techniker. Die Anlage ist keine »sowjetische« mehr: In den Jahren vor dem Krieg wurde sie mit EU-Geld von russischer auf westliche Sicherheitstechnik umgerüstet. Ob russische Ingenieure sie aus dem Stand sicher fahren könnten, weiß niemand. Man kann es nur hoffen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard W. aus Hamburg (31. März 2023 um 12:07 Uhr)
    OK. Wir spekulieren mal: Die Russen beschießen das von ihnen besetzte Kernkraftwerk mit schwerer Artillerie und lassen die Blindgänger demonstrativ liegen, damit sie westliche Journalisten sehen und fotografieren können. Und dann sind sie auch noch zu doof, die Richtung der Blindgänger zu ändern, damit es nach der Ukraine ausguckt. Absolut plausibel. Kauf ich sofort.

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